2004   (1)  
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04.001 Erweiterter Verfall

  1. BVerfG,     B, 14.01.04,     – 2_BvR_564/95 –

  2. BVerfGE_110,1 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.14 Abs.1; StGB_§_73d

  4. Erweiterter Verfall / Ziele / Schuldgrundsatz / strafähnliche Maßnahme / Unschuldsvermutung / deliktische Herkunft Annahme.

 

1) Der erweiterte Verfall (§ 73d StGB) verfolgt nicht repressiv-vergeltende, sondern präventiv-ordnende Ziele und ist daher keine dem Schuldgrundsatz unterliegende strafähnliche Maßnahme.

 

2) § 73d StGB verletzt die Unschuldsvermutung nicht.

 

3) Die Annahme der deliktischen Herkunft eines Gegenstands im Sinne des § 73d Abs.1 Satz 1 StGB ist gerechtfertigt, wenn sich der Tatrichter durch Ausschöpfung der vorhandenen Beweismittel von ihr überzeugt hat.

§§§

04.002 Akteneinsichtsrecht

  1. BVerfG,     B, 15.01.04,     – 2_BvR_1895/03 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.103 Abs.1; StPO_§_147

  4. Ermittlungsverfahren / Akteneinsicht / Versagung / rechtliches Gehör.

T-04-01

LB: Die Versagung umfassender Akteneinsicht im laufenden Ermittlungsverfahren verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Recht auf rechtliches Gehör.

* * *

T-04-01Ermittlungsverfahren-Akteneinsicht

2

Die Versagung umfassender Akteneinsicht im laufenden Ermittlungsverfahren verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Recht auf rechtliches Gehör. Art.103 Abs.1 GG garantiert dem Beschuldigten grundsätzlich rechtliches Gehör vor jeder gerichtlichen Entscheidung. Dies umfasst das Recht, die Ermittlungsakten, wie sie dem Gericht zur Entscheidung vorliegen, einzusehen (Beschluss der 2.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11.Juli 1994 - 2 BvR 777/94 -, StV 1994, S.465 <466>). Ein Akteneinsichtsrecht gemäß § 147 StPO als Konkretisierung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl.BVerfGE 18, 399 <405>; 62,338 <343> ) steht dem Verteidiger des Beschuldigten allerdings erst nach Abschluss der Ermittlungen in vollem Umfang zu. Vorher kann die Akteneinsicht ganz oder teilweise versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden würde (§ 147 Abs.2 StPO). Dies ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, da das Ermittlungsverfahren der Klärung eines Verdachts dient und deshalb nicht von Anfang an "offen", das heißt unter Bekanntgabe aller ermittelten Tatsachen geführt werden kann. Mit Blick auf den rechtsstaatlichen Auftrag zur möglichst umfassenden Wahrheitsermittlung im Strafverfahren (vgl BVerfGE_80,367 <378>) ist es nicht zu beanstanden, dass die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren einen Informationsvorsprung hat und das Informationsinteresse des Beschwerdeführers bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens zurücksteht (vgl Beschluss der 2.Kammer des Zweiten Senats vom 11.Juli 1994, aaO; Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 8.November 1983 - 2 BvR 1138/83 -, NStZ 1984, S.228; Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 28.Dezember 1984 - 2 BvR 1541/84 -, NStZ 1985, S.228 f; EGMR, Urteil vom 13.Februar 2001, StV 2001, S.201 <202>).

3

Etwas anderes ergibt sich im konkreten Verfahren auch nicht daraus, dass parallel zum Steuerstrafverfahren im Besteuerungsverfahren eine Steuerneufestsetzung erfolgt ist, gegen die der Beschwerdeführer gerichtlich vorgegangen ist und die auf Erkenntnissen aus dem steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren beruht. Aus Art.103 Abs.1 GG folgt insoweit lediglich das Recht auf Akteneinsicht bezüglich dieser - im Besteuerungsverfahren verwerteten - Erkenntnisse. Dass insoweit die Akteneinsicht durch das Finanzamt oder das Finanzgericht verweigert worden wäre, hat der Beschwerdeführer nicht vorgetragen. Aus seinem Beschwerdevorbringen ergibt sich vielmehr, dass ihm Teilakteneinsicht angeboten worden war, die er jedoch mit dem Hinweis ablehnte, "die Thematik beim Bundesverfassungsgericht klären lassen" zu wollen."

 

Auszug aus BVerfG B, 15.01.04, - 2_BvR_1895/03 -, www.BVerfG.de,  Abs.2

§§§

04.003 Wohnungsbesichtigung

  1. BVerfG,     B, 16.01.04,     – 1_BvR_2285/03 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.14 Abs.1; BGB_§_854/1

  4. Eigentumsgarantie / Vermieter / Besitzrecht des Mieters / Abgrenzung - Befugnisse /

 

LB 1) Die Eigentumsgarantie des Art.14 Abs.1 GG schützt nicht nur die Eigentumsposition des Vermieters. Auch das Besitzrecht des Mieters an der gemieteten Wohnung ist Eigentum im Sinne von Art.14 Abs.1 Satz 1 GG (vgl BVerfGE_89,1 <5 ff>).

 

LB 2) Die Befugnisse von Mieter und Vermieter zuzuordnen und abzugrenzen, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Er muss die schutzwürdigen Interessen beider Seiten berücksichtigen und in ein ausgewogenes Verhältnis bringen.

 

LB 3) Die allgemein zuständigen Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften des einfachen Rechts ebenfalls die durch die Eigentumsgarantie gezogenen Grenzen zu beachten; sie müssen die im Gesetz auf Grund verfassungsmäßiger Grundlage zum Ausdruck kommende Interessenabwägung in einer Weise nachvollziehen, die den beiderseitigen Eigentumsschutz beachtet und unverhältnismäßige Eigentumsbeeinträchtigungen vermeidet (vgl BVerfGE_89,1 <8>; BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, NJW 2000, S.2658 <2659>).

 

LB 4) Die Schwelle eines Verstoßes gegen Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist allerdings erst erreicht, wenn die Auslegung der Zivilgerichte Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Eigentumsgarantie, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl BVerfGE_89,1 <9 f>; BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, aa0.)

§§§

04.004 Selbstablehnung-Di Fabio

  1. BVerfG,     B, 19.01.04,     – 2_BvF_1/98 –

  2. BVerfGE_109,130 = www.BVerfG.de

  3. BVerfGG_§_18 Abs.1 Nr.2, BVerfGG_§_19 Abs.3

  4. Selbstablehnung / Richter des Bundesverfassungsgerichts / Ausübungsausschluss / Tatbestandsmerkmal " in derselben Sache" .

T-04-02

LB 1) Ein Richter des Bundesverfassungsgerichts ist von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache bereits von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist ( § 18 Abs.1 Nr.2 BVerfGG).

Abs.5

LB 2) Das Tatbestandsmerkmal "in derselben Sache" ist in einem konkreten, strikt verfahrensbezogenen Sinn auszulegen; es meint das verfassungsgerichtliche Verfahren selbst sowie ein diesem unmittelbar vorangegangenes und ihm sachlich zugeordnetes Verfahren (vgl BVerfGE_82,30 <35 f> mwN).

 

LB 3) Die Tätigkeit als Prozessbevollmächtigter in einem sonstigen Verfahren genügt hierfür auch dann nicht, wenn dessen Gegenstand mit demjenigen des zur Entscheidung anstehenden Verfahrens teilweise übereinstimmt.

Abs.9

LB 4) Eine Selbstablehnung ist begründet, wenn ein Richter in einem früheren Verfahren als Prozessbevollmächtigter aufgetreten ist und das jetztige Verfahren teilweise denselben Gegenstand betrifft.

 

LB 5) Umstände wie etwa ein erheblicher zeitlicher Abstand zur früheren Prozessvertretung oder - in sachlicher Hinsicht - eine Veränderung der Rechtslage oder anderer Beurteilungsgrundlagen, können in derartigen Fallgestaltungen die Besorgnis, der Befangeheit ausschliesen (vgl BVerfGE_101,46 <51 ff>).

* * *

T-04-02Frühere Prozessvertretung

4

"Richter Di Fabio ist nicht kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen. 5

5

Ein Richter des Bundesverfassungsgerichts ist von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache bereits von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist (§ 18 Abs.1 Nr.2 BVerfGG). Das Tatbestandsmerkmal "in derselben Sache" ist in einem konkreten, strikt verfahrensbezogenen Sinn auszulegen; es meint das verfassungsgerichtliche Verfahren selbst sowie ein diesem unmittelbar vorangegangenes und ihm sachlich zugeordnetes Verfahren (vgl BVerfGE_82,30 <35 f> mwN). Die Tätigkeit als Prozessbevollmächtigter in einem sonstigen Verfahren genügt hierfür auch dann nicht, wenn dessen Gegenstand mit demjenigen des zur Entscheidung anstehenden Verfahrens teilweise übereinstimmt.

6

2. Die Selbstablehnung ist begründet.

7

a) Bei dem Schreiben des Richters Di Fabio vom 1.Oktober 2003 handelt es sich um eine Selbstablehnung im Sinne des § 19 Abs.3 BVerfGG. Diese Regelung setzt nicht voraus, dass der Richter sich selbst für befangen hält. Es genügt, dass er Umstände anzeigt, die Anlass geben, eine Entscheidung über seine Befangenheit zu treffen (vgl BVerfGE_88,1 <3>; BVerfGE_95,189 <191>; BVerfGE_98,134 <137>). Das Schreiben lässt erkennen, dass Richter Di Fabio eine Senatsentscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit für erforderlich hält. Die mitgeteilten Gründe geben hierzu auch objektiv Anlass.

8

b) Besorgnis der Befangenheit ist gegeben, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl BVerfGE_82,30 <38>; BVerfGE_98,134 <137>; BVerfGE_101,46 <51>; BVerfGE_102,122 <125>; stRspr). Die Sorge, dass der Richter die streitigen Rechtsfragen nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, kann bestehen, wenn ein Richter Äußerungen zu verfassungsrechtlichen Fragen als Bevollmächtigter eines an einem früheren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Beteiligten abgegeben hat und der in dem früheren Verfahren verfolgte Rechtsstandpunkt auch im anhängigen Verfahren von wesentlicher Bedeutung ist (vgl BVerfGE_95,189 <191 f>; BVerfGE_101,46 <51>).

9

c) Der Umstand, dass Richter Di Fabio im Verfahren der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 890/98 als Prozessbevollmächtigter der Beschwerdeführerin aufgetreten ist, ist vorliegend geeignet, Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit in dem zur Entscheidung anstehenden Normenkontrollverfahren zu begründen. Die Antragsteller haben das Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24.April 1998 mit ihrem Normenkontrollantrag insgesamt angegriffen. Der Antrag erfasst mithin auch den mit der Verfassungsbeschwerde 2_BvR_890/98 angegriffenen Art.3 Nr.2 des zur Prüfung gestellten Gesetzes, so dass die beiden Verfahren teilweise denselben Gegenstand betreffen. Umstände wie etwa ein erheblicher zeitlicher Abstand zur früheren Prozessvertretung oder - in sachlicher Hinsicht - eine Veränderung der Rechtslage oder anderer Beurteilungsgrundlagen, die dessen ungeachtet die Besorgnis, dass Richter Di Fabio die im Rahmen der Normenkontrolle streitigen Rechtsfragen nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ausschlössen (vgl BVerfGE_101,46 <51 ff>), liegen nicht vor."

 

Auszug aus BVerfG B, 19.01.04, - 2_BvF_1/98 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.14 ff

§§§

04.005 Justizgewährsanspruch

  1. BVerfG,     B, 27.01.04,     – 2_BvR_1978/00 –

  2. BVerfGE_111,1 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.12 Abs.1; WRV_Art.140, WRV_§_137 Abs.3; BVerfGG_§_90 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Justizgewährungsanspruch - Reichweite / Kirchliche Maßnahme / Vorbereitungsdienst - Entlassung / 2.kirchliche Dienstprüfung

T-04-03

LB 1) Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Reichweite des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs bei der Überprüfung kirchlicher Maßnahmen.

Abs.16

LB 2) Die Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst und die Ablehnung der Zulassung zur zweiten kirchlichen Dienstprüfung sind dem kirchlichen Amtsrecht im Sinne von Art.140 GG iVm Art.137 Abs.3 Satz 2 WRV zuzurechnen und unterfallen damit der autonomen Entscheidung der im Ausgangsverfahren beklagten Kirche.

Abs.17

LB 3) Die Verfassungsbeschwerde legt hingegen nicht nachvollziehbar dar, weshalb ein durch das Bestehen dieser Prüfung vermittelter tatsächlicher Vorteil im außerkirchlichen Berufsleben zu dem "Kernbestand" des Art.12 Abs.1 GG zu rechnen ist und inwiefern es - von ihrem rechtlichen Ausgangspunkt aus - gerechtfertigt sein könnte, dass die kirchliche Selbstbestimmung auf derartige Auswirkungen von Verfassungs wegen und nach Maßgabe der Überprüfung durch staatliche Gerichte Rücksicht zu nehmen hätte.

* * *

T-04-03Statusstreitigkeiten Geistlicher

13

"Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Voraussetzungen des § 93a Abs.2 BVerfGG sind nicht gegeben, weil der Beschwerdeführer im Ergebnis auch dann keinen Erfolg hätte, wenn die von ihm aufgeworfene Grundsatzfrage in seinem Sinne zu beantworten wäre. Deshalb kommt der Verfassungsbeschwerde weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs.1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (vgl BVerfGE_90,22 <24 ff>).

14

Der Beschwerdeführer hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob namentlich im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl Urteile vom 11.Februar 2000 - V ZR 291/99 -, NJW 2000, S.1555 und vom 28.März 2003 - V ZR 261/02 -, BGHZ_154,306) daran festzuhalten sei, dass in Statusrechtsstreitigkeiten Geistlicher der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten verschlossen ist (vgl BVerfGE_18,385 <387 f>; BVerfGE_42,312 <334 f>). Der Beschwerdeführer folgt erkennbar der Ansicht des Bundesgerichtshofs, derzufolge das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht die (staatliche) Justizgewährungspflicht einschränkt, wohl aber das Maß der Justiziabilität der angegriffenen Maßnahme; danach können die staatlichen Gerichte eine von der geistlichen Grundordnung und von dem Selbstverständnis der Kirche oder Glaubensgemeinschaft getragene Maßnahme nach autonomem Kirchen- oder Gemeinschaftsrecht nicht auf ihre Rechtmäßigkeit, sondern nur auf ihre Wirksamkeit überprüfen. Die Wirksamkeitskontrolle ist nach dieser Auffassung darauf beschränkt, ob die Maßnahme gegen Grundprinzipien der Rechtsordnung verstößt, wie sie in dem allgemeinen Willkürverbot (Art.3 Abs.1 GG) sowie in dem Begriff der guten Sitten (§ 138 BGB) und in dem des ordre public (Art.30 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden haben.

15

Die Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall könnte indes nicht zu einem gegenüber der a-limine-Abweisung der Klage günstigeren Ergebnis für den Beschwerdeführer führen. Nach dem dem Bundesverfassungsgericht unterbreiteten Streitstoff kann ausgeschlossen werden, dass die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs im Ergebnis auf einer Verkennung des Justizgewährungsanspruchs beruhen. Der vorliegende Fall erfordert deshalb keine grundsätzliche Klärung der aufgeworfenen Frage, und auch die Annahmevoraussetzung nach § 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG ist nicht erfüllt.

16

Der Beschwerdeführer hat nicht in Frage gestellt, dass die Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst und die Ablehnung der Zulassung zur zweiten kirchlichen Dienstprüfung dem kirchlichen Amtsrecht im Sinne von Art.140 GG iVm Art.137 Abs.3 Satz 2 WRV zuzurechnen sind und damit der autonomen Entscheidung der im Ausgangsverfahren beklagten Kirche unterfallen (vgl auch BGH, Urteil vom 28.März 2003, aaO). Dass diese Maßnahmen anhand des vom Bundesgerichtshof entwickelten Maßstabs unwirksam, insbesondere unter Verstoß gegen das allgemeine Willkürverbot ergangen sein könnten, lässt sich weder dem Vorbringen des Beschwerdeführers entnehmen noch bestehen dafür sonstige Hinweise.

17

Soweit der Beschwerdeführer sich darauf beruft, die Versagung der Zulassung zur zweiten kirchlichen Dienstprüfung berühre den "Kernbestand" der grundrechtlichen Gewährleistung der Berufsfreiheit nach Art.12 Abs.1 GG und bedürfe wegen des bei der Landeskirche liegenden "Monopols" der Theologenausbildung der Überprüfung durch die staatlichen Gerichte, ist ein Grundrechtsverstoß bereits nicht schlüssig dargelegt. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass die zweite evangelisch-theologische Dienstprüfung allein auf den Pfarrdienst ausgerichtet ist und damit der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung nach Art.140 GG iVm Art.137 Abs.2 Satz 3 WRV durch die württembergische Landeskirche unterliegt. Die Verfassungsbeschwerde legt hingegen nicht nachvollziehbar dar, weshalb ein durch das Bestehen dieser Prüfung vermittelter tatsächlicher Vorteil im außerkirchlichen Berufsleben zu dem "Kernbestand" des Art.12 Abs.1 GG zu rechnen ist und inwiefern es - von ihrem rechtlichen Ausgangspunkt aus - gerechtfertigt sein könnte, dass die kirchliche Selbstbestimmung auf derartige Auswirkungen von Verfassungs wegen und nach Maßgabe der Überprüfung durch staatliche Gerichte Rücksicht zu nehmen hätte."

 

Auszug aus BVerfG B, 27.01.04, - 2_BvR_1978/00 -, www.BVerfG.de,  Abs.13 ff

§§§

04.006 Renteneintrittsalter-Frau

  1. BVerfG,     B, 03.02.04,     – 1_BvR_2491/97 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.14 Abs.1 S.2, GG_Art.14 Abs.2 S.2, GG_Art.20 Abs.3

  4. Renteneintrittsalter / Frauen / Inhalts- und Schrankenbestimmung / Vereinbarkeit / Übergangsregelung / Vertrauenstatbestand.

 

LB 1) Das Neuregelung des Renteneintrittsalters für Frauen im Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG) vom 25.September 1996 (BGBl.I S.1461) sowie die gänzliche Abschaffung des besonderen Zugangs von Frauen zur Altersrente durch das Rentenreformgesetz 1999 (RGG 1999) vom 16.Dezember 1997 (BGBl.I S.2998) sind als Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Art.14 Abs.1 S.2 von wichtigen öffentlichen Interessen getragen und genügen verfassungsrechtlichen Anforderungen.

 

LB 2) Beseitigt der Gesetzgeber eine Übergangsregelung, die er aus Vertrauensschutzgründen erlassen hat, vor Ablauf der für den Übergang vorgesehenen Zeit zu Lasten des äBerechtigten, so muss seine Regelung im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz besonders strengen Anforderungen genügen (vgl BVerfGE_102,68 <97>).

 

LB 3) Übergangsregelungen setzt der Gesetzgeber einen besonderen Vertrauenstatbestand. Der Bürger darf davon ausgehen, dass der Gesetzgeber sein Konzept für den Übergangszeitraum durchdacht hat und insbesondere künftige Entwicklungen, soweit sie vorhersehbar sind, berücksichtigt.

 

LB 4) Deshalb darf der Gesetzgeber sein Konzept nur ändern, wenn sich die für die Ausgestaltung der Übergangsregelung ursprünglich maßgebenden Umstände nachträglich geändert haben und wenn darüber hinaus - vorausgesetzt, das Interesse der Betroffenen auf einen Fortbestand der Regelung ist schutzwürdig und hat hinreichendes Gewicht - schwere Nachteile für wichtige Gemeinschaftsgüter zu erwarten sind, falls die geltende Übergangsregelung bestehen bleibt.

 

LB 5) Diese Grundsätze gelten auch für befristete Übergangsregelungen, die noch nicht zur Anwendung gekommen sind. In diesen Fällen wiegt jedoch der gesetzgeberische Eingriff weniger schwer.

§§§

04.007 Prozeßkostenhilfe

  1. BVerfG,     B, 04.02.04,     – 1_BvR_596/03 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3; ZPO_§_114 S.1

  4. Prozesskostenhilfe / Rechtsschutzbegehren / Erfolgsaussichten / schwierige ungeklärte Rechtsfrage / Vereinbarkeit.

T-04-04

LB 1) Ein Rechtsschutzbegehren hat dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt.

Abs.8

LB 2) Die Gewährung von Prozeßkostenhilfe ist entsprechend dieser Maßstäbe verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und wird dem Gebot der in Art.3 Abs.1 in Verbindung mit Art.20 Abs.3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit gerecht (vgl BVerfGE_81,347 <359>).

 

LB 3) Prozesskostenhilfe braucht deshalb nicht schon dann gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint (vgl BVerfGE_81,347 <359>).

* * *

T-04-04Rechtsschutzgleichheit

8

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet Art.3 Abs.1 in Verbindung mit dem in Art.20 Abs.3 GG allgemein niedergelegten Rechtsstaatsprinzip eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl BVerfGE_9,124; 10,264 <270>; 67,245 <248>; 81,347 <356>). Verfassungsrechtlich ist es dabei unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl BVerfGE_81,347 <357> ). Dabei soll die Prüfung der Erfolgsaussicht indes nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Prozesskostenhilfeverfahren zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl BVerfGE_81,347 <357>).

9

Die Auslegung und Anwendung des § 114 Satz 1 ZPO obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den verfassungsgebotenen Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Das Verfassungsgericht kann daher nur eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere, wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art.3 Abs.1 in Verbindung mit Art.20 Abs.3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen (BVerfGE_81,347 <358>).

10

Die in Rechtsprechung und Literatur weit überwiegende Meinung zu § 114 Satz 1 ZPO, nach der ein Rechtsschutzbegehren dann hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt, ist entsprechend dieser Maßstäbe verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und wird dem Gebot der in Art.3 Abs.1 in Verbindung mit Art.20 Abs.3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit gerecht (vgl BVerfGE_81,347 <359>). Daher braucht Prozesskostenhilfe auch nicht schon dann gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint (vgl BVerfGE_81,347 <359> ). Liegt diese Voraussetzung dagegen vor, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht seines Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (vgl BVerfGE_81,347 <359>)."

 

Auszug aus BVerfG B, 04.02.04, - 1_BvR_596/03 -, www.BVerfG.de,  Abs.8 ff

§§§

04.008 Betriebsgeheimnis

  1. BVerfG,     B, 05.02.04,     – 1_BvR_2087/03 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.14 Abs.1; VwGO_§_99 Abs.2, VwGO_§_108 Abs.2

  4. Verfassungsbeschwerde / Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung / verwaltungsgerichtliches Verfahren / Geschäfts- und Betriebsgeheimnis.

 

LB 1) Zu im Zusammenhang mit Verfassungsbeschwerden gestellten Anträge auf Erlass von einstweiligen Anordnungen betreffen einen behaupteten Anspruch auf Sicherung der Geheimhaltung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.

 

LB 2) Zum Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anordnung auf Grund der gebotene Folgenabwägung.

§§§

04.009 Durchsuchung

  1. BVerfG,     B, 05.02.04,     – 2_BvR_1621/03 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.13 Abs.1, GG_Art_103 Abs.1; StPO_§_33a

  4. Richterin / Durchsuchung einer Wohnung / rechtliches Gehör / Eingreifen des BVerfG.

T-04-05

LB 1) Zu einer gegen Art.103 Abs.1 GG verstoßenden Anordnung der Durchsuchung der Wohnung einer Richterin.

 

LB 2) Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet ein Gericht nicht, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Der wesentliche, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienende Vortrag muss aber in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden. Nur, wenn sich danach aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles ergibt, dass ein Gericht seine Pflicht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, verletzt hat, kann das Bundesverfassungsgericht eingreifen.

* * *

T-04-05Wiederholung des Verfahrens nach § 33a StPO

20

"Die Verletzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör (Art.103 Abs.1 GG) führt zur Aufhebung des im Verfahren nach § 33a StPO ergangenen Beschlusses vom 8.August 2003. Ob die Durchsuchungsanordnung den an sie zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, hat nun zunächst das Landgericht bei der Wiederholung des Verfahrens nach § 33a StPO zu prüfen. Dieses Verfahren gehört zum Rechtsweg nach § 90 Abs.2 Satz 1 BVerfGG (vgl BVerfGE_42,243 <245> ; Beschluss der 3.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18.Dezember 2002 - 2 BvR 1910/02 -, NJW 2003, S.1513). Das Bundesverfassungsgericht kann sich einer Überprüfung der Durchsuchungsanordnung erst annehmen, wenn das fachgerichtliche Verfahren bei Wahrung des rechtlichen Gehörs der Beteiligten abgeschlossen ist, denn die Wahrung und Durchsetzung der Grundrechte obliegt nach der Funktionenteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit zuvörderst den Fachgerichten (vgl BVerfGE_104,220 <236>; stRspr)."

 

Auszug aus BVerfG B, 05.02.04, - 2_BvR_1621/03 -, www.BVerfG.de,  Abs.20

§§§

04.010 Langdauernde Sicherungsverwahrung

  1. BVerfG,     B, 05.02.04,     – 2_BvR_2029/01 –

  2. BVerfGE_109,133 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.1 Abs.1 GG_Art.2 Abs.2, GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.103 Abs.3; StGB_§_67d Abs.3;

  4. Sicherungsverwahrung / Menschenwürde / Gefährlichkeit des Untergebrachten / verfassungsrechtliches Gebot / Fortdauer - Voraussetzungen / zehnjährige Verwahrdauer.

 

1) a) Die Menschenwürde wird auch durch eine langdauernde Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist. Erforderlich ist aber auch in diesen Fällen, die Eigenständigkeit des Untergebrachten zu wahren, seine Würde zu achten und zu schützen. Daher muss die Sicherungsverwahrung ebenso wie der Strafvollzug darauf ausgerichtet sein, die Voraussetzungen für ein verantwortliches Leben in Freiheit zu schaffen. b) Für das Institut der Sicherungsverwahrung folgt aus Art.1 Abs.1 GG kein verfassungsrechtliches Gebot, schon bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung oder in einem späteren Überprüfungszeitpunkt eine Höchstfrist des Vollzugs festzusetzen. Es ist nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass eine verbindliche Entscheidung über den voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt beim Sicherungsverwahrten nicht im Vorhinein getroffen wird.

 

2) a) Je länger die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für ihre Fortdauer. b) Die Vorschrift des § 67d Abs.3 StGB trägt der verstärkten Geltung des Freiheitsanspruchs nach zehnjähriger Verwahrdauer Rechnung, indem sie erhöhte Anforderungen an das bedrohte Rechtsgut und den Nachweis der Gefährlichkeit des Verwahrten stellt und nur ausnahmsweise die Fortsetzung der Vollstreckung gestattet. c) Wegen der besonderen Bedeutung der Vollzugslockerungen für die Prognosebasis darf sich das Vollstreckungsgericht nicht damit abfinden, dass die Vollzugsbehörde ohne hinreichenden Grund Vollzugslockerungen versagt, welche die Erledigung der Maßregel vorbereiten können. d) Die Landesjustizverwaltungen haben dafür Sorge zu tragen, dass Möglichkeiten der Besserstellung im Vollzug der Sicherungsverwahrung soweit ausgeschöpft werden, wie sich dies mit den Belangen der Justizvollzugsanstalten verträgt.

 

3) Der Anwendungsbereich von Art.103 Abs.2 GG ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient.

 

4) Der Wegfall der Höchstfrist für eine erstmalig angeordnete Sicherungsverwahrung und die Anwendbarkeit auf Straftäter, bei denen die Sicherungsverwahrung vor Verkündung und Inkrafttreten der Novelle angeordnet und noch nicht erledigt war, steht im Einklang mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot ( Art.2 Abs.2 GG in Verbindung mit Art.20 Abs.3 GG.

§§§

04.011 Nachträgliche Sicherungsverwahrung

  1. BVerfG,     U, 10.02.04,     – 2_BvR_834/02 –

  2. BVerfGE_109,190 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.74 Abs.1 Nr.1

  4. Strafrecht / Definition / Straftäterunterbringung / Regelungsbefugnis / konkurrierende Gesetzgebung / abschließender Gebrauch - Bund.

 

1) a) Zum Strafrecht im Sinne des Art.74 Abs.1 Nr.1 GG gehört die Regelung aller staatlichen Reaktionen auf Straftaten, die an die Straftat anknüpfen, ausschließlich für Straftäter gelten und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat beziehen.

b) Bei der Straftäterunterbringung nach dem Bayerischen Straftäterunterbringungsgesetz und dem Unterbringungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt handelt es sich um Strafrecht im Sinne des Art.74 Abs.1 Nr.1 GG.

 

2) Die Länder sind nicht befugt, die Straftäterunterbringung zu regeln; der Bund hat von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich abschließend Gebrauch gemacht.

 

LB 3) Abweichende Meinung des Richters Broß, der Richterin Osterloh und des Richters Gerhardt siehe BVerfGE_109,244 = www.BVerfG.de Abs.190 ff.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

1. Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

2. a) Das Bayerische Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern (BayStrUBG) vom 24. Dezember 2001 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 978) ist mit Artikel 74 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Artikel 70 Absatz 1 und Artikel 72 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

b) Das Gesetz des Landes Sachsen-Anhalt über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (UnterbringungsG - UBG) vom 6.März 2002 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Sachsen-Anhalt Seite 80) ist mit Artikel 74 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Artikel 70 Absatz 1 und Artikel 72 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar. c) Die Gesetze bleiben nach Maßgabe der Gründe bis zum 30.September 2004 anwendbar. Soweit Unterbringungen auf Grund dieser Gesetze vollzogen werden, haben die zuständigen Gerichte unverzüglich zu überprüfen, ob die Unterbringungsentscheidungen der Maßgabe der nachfolgenden Entscheidungsgründe genügen.

3. Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

4. a) Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer zu 1. die notwendigen Auslagen zu erstatten. b) Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer zu

2. die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

04.012 Ehename

  1. BVerfG,     B, 18.02.04,     – 1_BvR_193/97 –

  2. BVerfGE_109,256 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1; BGB_§_1355 Abs.2

  4. § 1355/2 - Vereinbarkeit / Name aus früherer Ehe / Bestimmung zum Ehenamen.

 

Es ist mit Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG nicht vereinbar, dass nach § 1355 Abs.2 BGB der durch frühere Eheschließung erworbene und geführte Name eines Ehegatten in dessen neuer Ehe nicht zum Ehenamen bestimmt werden kann.

* * *

Beschluss:

1. § 1355 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar, soweit er ausschließt, dass Ehegatten zum Ehenamen einen durch frühere Eheschließung erworbenen Familiennamen bestimmen können, den einer von beiden zum Zeitpunkt der Eheschließung führt.

2. Bis zum In-Kraft-Treten einer gesetzlichen Neuregelung ist § 1355 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches mit der Maßgabe anzuwenden, dass dann, wenn die Ehegatten bei einer Eheschließung nach dem Tage der Veröffentlichung dieser Entscheidungsformel im Bundesgesetzblatt einen von einem der Ehegatten in einer früheren Ehe erworbenen Familiennamen zum Ehenamen bestimmen wollen, jeder Ehegatte vorläufig bis zur gesetzlichen Neuregelung den von ihm zur Zeit der Eheschließung geführten Namen behält.

3. Der Beschluss des Kammergerichts vom 26.November 1996 - 1 W 7237/95 - verletzt die Beschwerdeführerin zu 1 in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Kammergericht zurückverwiesen.

4. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2 wird verworfen.

§§§

04.013 Verdeckte Tatsachenbehauptung

  1. BVerfG,     B, 19.02.04,     – 1_BvR_417/98 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.1; BVerfGG_§_93c Abs.1 S.1; BGB_§_1004 Abs.1, BGB_§_823 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Unterlassen - verdeckte Tatsachenbehauptung / ursprüngliche Äußerung.

T-04-06

LB 1) Die Verfassungsbeschwerde betrifft die zivilrechtliche Verurteilung zur Unterlassung einer verdeckten Tatsachenbehauptung.

Abs.17

LB 2) Die Gerichte haben nicht erwogen, ob unter dem Aspekt einer falschen verdeckten Tatsachenbehauptung nicht diese selbst, sondern die ursprüngliche Äußerung, aus der sie durch Auslegung gewonnen wird, zu unterlassen ist.

* * *

T-04-06Unterlassung verdeckter Tatsachenbehauptungen

14

" 1. Die dem Beschwerdeführer untersagten Äußerungen fallen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus Art.5 Abs.1 Satz 1 GG, der neben Werturteilen auch die Äußerung von Tatsachen schützt, die der Meinungsbildung dienen können (vgl BVerfGE_90,1 <15> ). Die ursprünglichen Medienberichte des Beschwerdeführers fallen als Kundgabe von meinungsbezogenen Tatsachen und von Werturteilen ebenfalls in den Schutzbereich.

15

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gilt nach Art.5 Abs.2 GG allerdings nicht schrankenlos. Beschränkungen müssen zur Erreichung des jeweils mit ihnen verfolgten Zwecks geeignet sowie erforderlich und das Verhältnis zwischen Rechtsgüterschutz und Beschränkung muss insgesamt angemessen sein (vgl BVerfGE_90,145 <172 f>; BVerfGE_94,1 <8 f>; BVerfGE_95,173 <185>; BVerfGE_100,313 <373 ff> ). Als Schrankennormen haben die Ausgangsgerichte § 823 Abs.1 und § 1004 Abs.1 BGB angewandt und eine Beeinträchtigung der dort geschützten Ehre der Kläger bejaht. Dagegen ist von Verfassungs wegen nichts einzuwenden (vgl BVerfGE_82,272 <280>; BVerfGE_97,125 <148 f>). Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit genügt jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

16

a) Ob eine Meinungsäußerung Rechtsgüter anderer verletzt und deswegen beschränkt werden darf, setzt die Klärung ihres Inhalts voraus. Das Unterlassungsgebot gilt hier einer Aussage, die so nicht ausdrücklich in den Medienberichten enthalten, aber nach Auffassung der Gerichte in ihnen verdeckt erfolgt ist. Dabei legt das Oberlandesgericht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl BGHZ_78,9 <14 f>; BGH, AfP 1994, S.295 <297>; S.299 <301>; NJW 2000, S.656 <657>) dar, dass bei der Annahme solcher verdeckter Aussagen eine besondere Zurückhaltung geboten ist. Eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Sachaussage des Autors muss die Grenzen des Denkanstoßes überschreiten und sich dem Leser als unabweisliche Schlussfolgerung nahe legen. Dies ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (vgl auch BVerfGE_43,130 <139>).

17

b) Die angegriffenen Urteile gehen aber über das zum Schutz der rechtlichen Interessen der Kläger des Ausgangsverfahrens Gebotene hinaus. Sie genügen jedenfalls dem Gebot der Erforderlichkeit nicht. Ob sie den Anforderungen der Angemessenheit gerecht werden, kann dahinstehen.

18

aa) Die Verurteilung zur Unterlassung einer Äußerung muss im Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt werden. Um überschießende Wirkungen, insbesondere eine rechtlich nicht gebotene Zurückhaltung oder gar eine Einschüchterung bei weiteren Äußerungen auszuschließen, muss die Verurteilung klar erkennen lassen, welche Aussage der Grundrechtsträger unterlassen soll. Wird eine durch Auslegung anderer Äußerungen ermittelte "verdeckte" Aussage untersagt, muss der Beklagte zweifelsfrei erkennen können, welche Teile der ursprünglichen Äußerung von dem Unterlassungsgebot erfasst sind. Andernfalls ist er dem Druck ausgesetzt, zur Vermeidung einer Vollstreckungsmaßnahme nach § 890 ZPO auch Äußerungen zu unterlassen, die unbedenklich sind.

19

Der Tenor der Entscheidung des Oberlandesgerichts führt auf, welche Aussagen der Beschwerdeführer unterlassen muss. Allerdings benennen die Unterlassungsgebote den Wortlaut von Aussagen, die der Beschwerdeführer so nicht getroffen hat. Von ihm wird erwartet, dass er die ursprünglichen Medienberichte oder bestimmte Teile nicht wiederholt, soweit in ihnen die untersagten Äußerungen verdeckt enthalten sein können. Davon geht jedenfalls das Oberlandesgericht aus, da es im Zusammenhang mit den Erwägungen zur Wiederholungsgefahr ausdrücklich die Möglichkeit einer verdeckten Wiederholung der untersagten Äußerungen erwähnt. Dies bezieht sich im Kontext der Entscheidungsgründe zumindest vorrangig auf die ursprünglichen Medienberichte. Welche konkreten Äußerungen aus diesen Berichten zu unterlassen sind, ist den Urteilen jedoch nicht, auch nicht unter Hinzuziehung der Gründe, zu entnehmen. Der Beschwerdeführer läuft mithin Gefahr, bei jedweder Wiederholung von Inhalten der streitigen Beiträge Vollstreckungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.

20

bb) Eine derart weit gehende Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit ist nicht erforderlich, um die von einer Wiederholung der verdeckten Tatsachenbehauptungen ausgehende Beeinträchtigung der Kläger abzuwenden.

21

Die Gerichte haben nicht geprüft, ob weniger einschneidende Möglichkeiten des Rechtsgüterschutzes in Frage kommen. Insbesondere haben sie nicht erwogen, ob unter dem Aspekt einer falschen verdeckten Tatsachenbehauptung nicht diese selbst, sondern die ursprüngliche Äußerung, aus der sie durch Auslegung gewonnen wird, zu unterlassen ist (vgl dazu BGHZ_78,9 <17 ff.>; BGH NJW 2000, S.656 <657>; NJW-RR 1994, S.1242 <1244>; 1246 <1247>).

22

Eine Verurteilung hierzu wäre - die übrigen Voraussetzungen eines Unterlassungsanspruchs unterstellt - milder als die umfassende Verurteilung des Beschwerdeführers zur Unterlassung der verdeckten Tatsachenäußerung. Dem Anliegen der Kläger des Ausgangsverfahrens könnte beispielsweise durch das Gebot Rechnung getragen werden, nur diejenigen Teile einzelner Berichte nicht mehr zu verbreiten, aus denen sich die streitige verdeckte Tatsachenbehauptung ergibt, oder die ursprünglichen Beiträge nur mit klarstellenden Zusätzen zu veröffentlichen (vgl BGHZ_78,9 <18>). Dabei ist zu beachten, dass die Beiträge des Beschwerdeführers, auf die das Unterlassungsurteil gestützt worden ist, inhaltlich nicht völlig identisch sind. Da für die Ermittlung des Inhalts einer Aussage auf die Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums abzustellen ist (vgl BVerfGE_93,266 <295>), muss bei mehreren Beiträgen ihr jeweiliger Inhalt in der Regel für jeden Beitrag eigenständig ermittelt werden. Eine Gesamtwürdigung unterschiedlicher Beiträge, wie sie das Oberlandesgericht vorgenommen hat, ist nur möglich, wenn für sämtliche Beiträge von einem gemeinsamen Publikum auszugehen ist. Unter welchen konkreten Umständen dies der Fall sein könnte, bedarf im vorliegenden Verfahren der Verfassungsbeschwerde keiner Entscheidung."

 

Auszug aus BVerfG B, 19.02.04, - 1_BvR_417/98 -, www.BVerfG.de,  Abs.14 ff

§§§

04.014 Nachehelicher Unterhalt

  1. BVerfG,     B, 25.02.04,     – 1_BvR_1000/98 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.6 Abs.1

  4. Unterhaltsrechtliche Vorschriften / Auslegung / Art.6/1 GG.

T-04-07

LB: Zur Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art.6 Abs.1 GG bei der Auslegung und Anwendung der unterhaltsrechtlichen Vorschriften.

* * *

T-04-07Schutz und Förderung der Ehe

8

"a) Art.6 Abs.1 GG begründet als wertentscheidende Grundsatznorm für den gesamten Bereich des die Ehe betreffenden privaten und öffentlichen Rechts die Pflicht des Staates, die Ehe zu schützen und zu fördern (vgl.BVerfGE 6,55 <76>; 28,104 <113>; 82,60 <81>; 87,1 <35>; 105,313 <346>). Er schützt die Ehe als Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner (vgl BVerfGE_10,59 <66 f>), in der die Ehegatten ihre persönliche und wirtschaftliche Lebensführung in gemeinsamer Verantwortung bestimmen und dabei insbesondere selbstverantwortlich darüber entscheiden, wie sie untereinander die Familien- und Erwerbsarbeit aufteilen wollen (vgl BVerfGE_57,361 <390>; 68,256 <268>). Dabei gilt dieser Schutz unterschiedslos jeder - mithin der geschiedenen wie der bestehenden - Ehe (vgl BVerfGE_55,114 <128 f>; 66,84 <93> ). Dem Staat ist es danach verboten, die Ehe zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen, gleichgültig wie oft die Partner bereits eine Ehe eingegangen sind. Auch gerichtliche Entscheidungen müssen der Gewährleistung des Art.6 Abs.1 GG entsprechen und nach Möglichkeit Regelungen vermeiden, die geeignet wären, in die freie Entscheidung der Ehegatten über die Aufgabenverteilung in der Ehe einzugreifen.

9

Ausgehend von diesen Maßstäben hat das Oberlandesgericht die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art.6 Abs.1 GG bei der Auslegung und Anwendung der unterhaltsrechtlichen Vorschriften verkannt, nach denen die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen eine Grundvoraussetzung des Unterhaltsanspruchs ist und diesem Grenzen setzt (§§ 1581 und 1603 Abs.1 BGB). Nachdem das Gericht zunächst die gemeinsame Bewerbung des Beschwerdeführers mit seiner jetzigen Ehefrau auf jeweils eine halbe Stelle für unterhaltsrechtlich unbedenklich erklärt hatte, hat es die vom Beschwerdeführer durch Vorlage eines Schreibens des Landeskirchenamtes behauptete fehlende Möglichkeit zur Übernahme einer Vollzeitstelle dahinstehen lassen und den Beschwerdeführer darauf verwiesen, er könne die halbe Stelles einer Ehefrau - dh eine auf dem kirchlichen Arbeitsmarkt nicht verfügbare Arbeitsstelle - übernehmen. Allein aus dem Umstand der bestehenden Ehe des Beschwerdeführers mit der Stelleninhaberin hat das Gericht die Möglichkeit zur Übernahme dieser Stelle durch den Beschwerdeführer konstruiert. Damit hat es dem Beschwerdeführer auferlegt, eine einer dem verfassungsrechtlichen Bild der Ehe widersprechenden Weise auf seine Ehefrau einzuwirken und die Ehe als Druckmittel für eine Forderung zu bemühen, die jeglicher rechtlichen Grundlage entbehrt. Dabei hat das Gericht verkannt, dass Ehegatten gleichberechtigte Partner sind, die grundsätzlich frei darüber entscheiden können, wie sie untereinander die Erwerbsarbeit aufteilen wollen, und von denen keiner verpflichtet werden kann, den anderen zu seinen Gunsten zum Verzicht auf den eigenen Arbeitsplatz und sein Einkommen zu bewegen.

10

Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei Beachtung des Art.6 Abs.1 GG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

 

Auszug aus BVerfG B, 25.02.04, - 1_BvR_1000/98 -, www.BVerfG.de,  Abs.8 ff

§§§

04.015 Pflichtversicherung

  1. BVerfG,     B, 25.02.04,     – 1_BvR_1564/94 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.1; SGB-V_§_6 Abs.1 Nr.1, SGB-V_§_6 Abs.2

  4. Hinterbliebene - Beamter / Beschäftigungsverhältnis / Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung / Vereinbarkeit.

T-04-08

LB 1) Können versorgungs- und beihilfeberechtigte Hinterbliebene eines Beamten (Beamten-Hinterbliebene), die in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehen, ohne Verstoß gegen das Grundgesetz in die Pflichtversicherung der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen werden.

Abs.41

LB 2) Es ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, beschäftigte Beamten-Hinterbliebene im Gegensatz zu den versicherungsfreien Angehörigen beamtenrechtlicher Sicherungssysteme in die Pflichtversicherung einzubeziehen.

T-04-05

LB 3) Zu den Grenzen zulässiger Typisierung.

* * *

T-04-08Grenzen der Typisierung

34

"Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet es, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln (vgl BVerfGE_74,9 <24>; stRspr). Es ist dabei grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche Merkmale er beim Vergleich von Lebenssachverhalten als maßgebend ansieht, um sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln (vgl BVerfGE_50,57 <77>; stRspr). Dies erlaubt dem Gesetzgeber Differenzierungen, die ihre Grenze allerdings dort finden, wo er eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, die die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl BVerfGE_102,41 <54>; 104,126 <144 f>; stRspr).

35

Innerhalb dieser Grenzen hat das Bundesverfassungsgericht sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers hinzunehmen (vgl BVerfGE_89,365 <376>). Insbesondere bei der Ordnung von Massenerscheinungen braucht der Gesetzgeber nicht um die Gleichbehandlung aller denkbaren Einzelfälle besorgt zu sein. Er ist vielmehr berechtigt, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu verwenden, ohne allein wegen der damit verbundenen unvermeidlichen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Allerdings darf das Maß der Ungleichbehandlung die Grenzen, die dem Gesetzgeber gezogen sind, nicht überschreiten (vgl BVerfGE_100,59 <90> mwN; stRspr). Die Typisierung setzt, soll sie verfassungsrechtlich zulässig sein, voraus, dass die durch sie eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist. Wesentlich ist ferner, ob die Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären. Hierfür sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Gewicht(vgl BVerfGE_100,59 <90> mwN; stRspr).

36

An diesen Grundsätzen gemessen ist die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Grundrecht aus Art.3 Abs.1 GG verletzt. Die für sie nachteilige Ungleichbehandlung, welche sie durch die Einbeziehung in die Pflichtversicherung der gesetzlichen Krankenversicherung erfährt, ist hinreichend gerechtfertigt.

37

Ungleich behandelt wird die Beschwerdeführerin als beschäftigte Beamten-Hinterbliebene zum einen gegenüber sonstigen Angehörigen beamtenrechtlicher Sicherungssysteme, die in einer Beschäftigung nach § 6 Abs.1 Nr.2, 4 bis 6 und 8 in Verbindung mit § 6 Abs.3 Satz 1 SGB V sowie § 6 Abs.2 SGB V versicherungsfrei bleiben. Zum anderen bleibt sie anders als Personen, die allein mit dem Arbeitsentgelt die Jahresarbeitsentgeltgrenze überschreiten, versicherungspflichtig, weil ihre Versorgungsbezüge insoweit nicht berücksichtigt werden.

38

Diese Ungleichbehandlung wirkt sich für die Beschwerdeführerin nachteilig aus. Die Versicherungspflicht beschränkt sie in der freien Wahl ihrer Krankenvorsorge. Sie hat nicht die Möglichkeit, in eigener Verantwortung zu entscheiden, in welchem Umfang, bei welchem Versicherungsunternehmen, zu welchen Versicherungsbedingungen und mit welchen eigenen Leistungen sie Vorsorge treffen oder ob sie an Stelle einer Versicherung Rücklagen für den Krankheitsfall bilden will (vgl zum beamtenrechtlichen Grundsatz der Vorsorgefreiheit BVerwGE_20,44 <51>; 28,174 <176>). Einen Beihilfeanspruch kann sie nicht geltend machen. Eine - teilweise - Erstattung der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung ist im rheinland-pfälzischen Beihilferecht nicht vorgesehen.

39

Dieser Nachteil wird allerdings dadurch abgeschwächt, dass die Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung mit einer Beitragslast verbunden ist, die durch die Beitragsbemessungsgrenze begrenzt und durch die Höhe des Beitragssatzes näher bestimmt wird (§ 223 Abs.3 , § 241 Satz 1 SGB V). Jedenfalls im Ergebnis ist der Beitrag aus Arbeitsentgelt, Rente, Arbeitseinkommen und Versorgungsbezügen von den Versicherten nur zur Hälfte zu tragen (Arbeitsentgelt: § 249 SGB V; Rente: § 250 Abs.1 SGB V 1989 iVm § 1304e RVO = § 83e AVG, § 249a SGB V; Versorgungsbezüge und Arbeitseinkommen: § 248 SGB V). Die Betroffenen erhalten Krankenversicherungsschutz, eine beitragsfreie Mitversicherung für Familienangehörige und nach der bisherigen Rechtslage einen Krankengeldanspruch. Ob der Krankenversicherungsschutz, soweit er die durch die Beihilfen nicht erfassten Kosten deckt, privat günstiger zu erhalten ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Dies hängt insbesondere vom Alter und von der Zahl der mitzuversichernden Familienangehörigen sowie dem Vorliegen eines besonderen Krankheitsrisikos bei Versicherungsbeginn ab. Für die Beschwerdeführerin wird hier angenommen, dass sie einen günstigeren privaten Krankenversicherungsschutz hätte erwerben können.

40

Verfassungsrechtlich ist die Ungleichbehandlung jedoch nicht zu beanstanden.

41

Es hält den Anforderungen des Art.3 Abs.1 GG stand, die Jahresarbeitsentgeltgrenze der 6 Abs.1 Nr.1 SGB V Beschwerdeführerin nach § allein durch deren Arbeitsentgelt zu bestimmen.

42

Die Regelung entspricht der historisch gewachsenen Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung als Arbeitnehmerversicherung. In einer typisierenden Betrachtungsweise werden vorrangig abhängig Beschäftigte als schutzbedürftige Personengruppe in sie einbezogen. Insoweit steht dem Gesetzgeber grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum zu (vgl BVerfGE_102,68 <89>; stRspr). Zugleich beruht die Regelung auf der typisierenden Annahme, dass bei abhängig Beschäftigten in der Lebenswirklichkeit regelmäßig das Arbeitsentgelt im Wesentlichen die gesamten Einnahmen abbildet und damit hinreichend die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wiedergibt (vgl BVerfGE_79,223 <236 f>). Ob sich eine solche Annahme längerfristig aufrecht erhalten lässt, wird zunehmend erörtert (vgl auch BVerfGE_102,68 <93 f> mwN). Angesichts der historisch gewachsenen und organisatorisch ebenso wie rechtlichen Verfestigung der bestehenden Typisierung (vgl Endbericht der Enquete-GKV, BTDrucks 11/6380, S.152 f) besteht, jedenfalls soweit es um die hier allein in Frage stehende Bestimmung der Versicherungspflicht geht, kein aktueller verfassungsrechtlich gebotener Änderungsbedarf.

43

Es ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, beschäftigte Beamten-Hinterbliebene im Gegensatz zu den versicherungsfreien Angehörigen beamtenrechtlicher Sicherungssysteme in die Pflichtversicherung einzubeziehen.

44

Dabei kann offen bleiben, ob bei der Beschwerdeführerin auf Grund ihrer beamtenrechtlichen Sicherung das erforderliche Schutzbedürfnis für eine Einbeziehung in die gesetzliche Krankenversicherung vorliegt. Welches der beiden Sicherungssysteme unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Beitrag und Prämie zur Leistung sich im Einzelfall als günstiger erweist, lässt sich allgemein kaum beantworten. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings auch, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen des beamtenrechtlichen Sicherungssystems nicht gegen den Ausfall von Arbeitsentgelt geschützt ist, weil Beamte diesem Risiko nicht unterliegen, während sie als beschäftigte Beamten-Hinterbliebene in der gesetzliche - Krankenversicherung insoweit - nach noch geltendem Recht über den Krankengeldanspruch gemäß §§ 44 und 45 SGB abgesichert wäre.

45

Die in Frage stehende Regelung ist jedenfalls durch den s ozialpolitischen Willen des Gesetzgebers gerechtfertigt, Personen vorrangig demS icherungssystem zuzuordnen, dem ihre eigene Erwerbstätigkeit entspricht, und eine daneben bestehende, von einer anderen Person abgeleitete Sicherung dahinter zurücktreten zu lassen. Dem entsprechend sind die Beamten auch im Ruhestand ihrem Sicherungssystem zugeordnet. Nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst bleibt der versorgungsrechtliche Status des Beamten Ausfluss des besonderen Treue- und Fürsorgeverhältnis zwischen ihm und seinem Dienstherrn (vgl BVerfGE_19,76 <85>). Aus diesem Alimentationsprinzip folgt zwar die Pflicht desD ienstherrn, auch den Hinterbliebenen des Beamten im Todesfall einen eigenen Versorgungsanspruch zu gewähren (vgl BVerfGE_21,329 <347>; BVerfGE_39,196 <202>; stRspr). Diese Pflicht bleibt aber Ausfluss der Rechtsbeziehung zwischen Dienstherrn und Beamten (vgl BVerfGE_21,329 <346>; BVerfGE_39,196 <201>; stRspr).

46

Für abhängig Beschäftigte steht demgegenüber, auch wenn sie Beamten-Hinterbliebene sind, ein eigenes Sicherungssystem in der Gestalt der gesetzlichen Krankenversicherung bereit, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist und in dem sie oft schon längere Zeit vor dem Tod ihres verbeamteten Ehepartners Mitglied gewesen sind. Auch unter diesem Gesichtspunkt durfte der Gesetzgeber die abgeleitete, allein in dem besonderen Näheverhältnis zu einer anderen Person begründete Sicherung als Beamten-Hinterbliebene gegenüber der Sicherung aufgrund eigener Beschäftigung in der gesetzlichen Krankenversicherung zurücktreten lassen. Folgerichtig sind Beamten-Hinterbliebene dann nach § 6 Abs.2 SGB V von der Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung auszunehmen, wenn sie keiner abhängigen Beschäftigung nachgehen und allein aus der Versicherung des verstorbenen Beamten in der gesetzlichen Rentenversicherung eine Hinterbliebenenrente beziehen.

47

Schließlich begründet es keinen Gleichheitsverstoß, dass Hinterbliebene von Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften nach § 6 Abs.1 Nr.8 SGB V in Verbindung mit § 6 Abs.3 Satz 1 SGB V auch in einer Beschäftigung versicherungsfrei bleiben. Insoweit wird auf die Rechtfertigungsgründe in dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil des Bundessozialgerichts verwiesen.

 

Auszug aus BVerfG B, 25.02.04, - 1_BvR_1564/94 -, www.BVerfG.de,  Abs.34

§§§

04.016 Hamburger Wahlkampf

  1. BVerfG,     B, 26.02.04,     – 2_BvH_1/04 –

  2. BVerfGE_109,275 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.21 Abs.1; GG_Art.93 Abs.1 Nr.1; BVerfGG_§_13 Nr.5

  4. Organstreitverfahren / Anträge / Zulässigkeit / Antragsteller / politische Partei / Beteiligtenfähigkeit / Hansestadt Hamburg - Bürgermeister / Senatoren.

 

LB 1) Die Anträge sind im Organstreitverfahren nach Art.93 Abs.1 Nr.1 GG, §§ 13 Nr.5, 63 ff BVerfGG unzulässig.

 

LB 2) Zwar ist die Antragstellerin, eine politische Partei (vgl § 2 Abs.1 PartG), im Organstreitverfahren als anderer Beteiligter parteifähig (vgl BVerfGE_4,27 <31>; BVerfGE_73,40 <65>; BVerfGE_103,164 <168>; stRspr). Der Freien und Hansestadt Hamburg, den einzelnen Senatoren sowie dem Ersten Bürgermeister fehlt es jedoch an der Beteiligtenfähigkeit im (Bundes-)Organstreitverfahren nach Art.93 Abs.1 Nr.1 GG.

 

LB 3) Die Freie und Hansestadt Hamburg, ist kein möglicher Antragsgegner in einem Verfahren nach Art.93 Abs.1 Nr.4 3.Alt GG. Beteiligtenfähig können insoweit nur Verfassungsorgane der Länder oder mit eigenen Rechten ausgestattete Teile dieser Organe sein ( § 71 Abs.1 Nr.3 BVerfGG).

 

LB 4) Die Anträge gegen die Antragsgegner (Senatoren) sind nach Art.93 Abs.1 Nr.4 3.Alt GG ebenfalls unzulässig. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Bundesverfassungsgericht (auch) in anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist. Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht als "subsidiäres Landesverfassungsgericht" (vgl BVerfGE_99,1 <17> ) ist im Verfahren gemäß Art.93 Abs.1 Nr.4 3.Alt GG nur eröffnet, wenn der Antragsteller nicht die Möglichkeit hat, ein Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht einzuleiten (vgl BVerfGE_102,245 <250)).

§§§

04.017 Sorgerecht

  1. BVerfG,     B, 01.03.04,     – 1_BvR_738/01 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.6 Abs.2 S.1

  4. Eltern / soziale Beziehungen / Tragfähigkeit / Distanz / Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts.

T-04-09

LB 1) Zur sorgerechtsrelevanten tragfähigen sozialen Beziehung zwischen den Eltern.

 

LB 2) Über die Bedeutung der von einem Elternteil zu bewältigende Distanz bei der Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts.

* * *

T-04-09Elternrecht

8

"1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art.6 Abs.2 Satz 1 GG.

9

Das den Eltern gemäß Art.6 Abs.2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gegenüber dem Staat gewährleistete Freiheitsrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder dient in erster Linie dem Kindeswohl, das zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist (vgl BVerfGE_61,358 <371 f.>; BVerfGE_75,201 <218 f>). Der Schutz des Elternrechts, der dem Vater und der Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl BVerfGE_84,168 <180> ; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 29.Januar 2003, aaO, S.288). Dabei setzt die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus, erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen und hat sich am Kindeswohl auszurichten. Insbesondere auch für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der Sorge fehlen, bedarf das Elternrecht der gesetzlichen Ausgestaltung (vgl BVerfGE_92,158 <178 f> ; vgl. auch BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 29.Januar 2003, aaO, S.287). Dem dient § 1671 Abs.1 in Verbindung mit Abs.2 Nr.2 BGB, der bestimmt, dass einem Elternteil auf Antrag die elterliche Sorge oder ein Teil der elterlichen Sorge (wie beispielsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht) allein zu übertragen ist, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Dabei haben sich die Gerichte nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit Teilentscheidungen - als milderes Mittel - zu begnügen, wo immer dies dem Kindeswohl Genüge tut (vgl auch Diederichsen, in: Palandt, BGB, 63.Aufl, 2004, § 1671 Rn.18).

10

Diesen Anforderungen sind die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht geworden. Die Gerichte haben das Elternrecht des Beschwerdeführers nicht gebührend berücksichtigt.

11

Den Gründen der angegriffenen Entscheidungen lässt sich nicht entnehmen, dass es zwischen den Eltern an einer tragfähigen sozialen Beziehung und an einem Mindestmaß an Übereinstimmung fehlt. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung der fehlenden Kooperationsbereitschaft - entsprechend dem das Sorgerechtsverfahren einleitenden Antrag der Mutter - maßgeblich ("insbesondere") auf den Dissens der Eltern hinsichtlich des Aufenthaltes der Kinder abgestellt. Ausführungen darüber, ob, beziehungsweise wieso es den Eltern auch in anderen Sorgerechtsangelegenheiten an der notwendigen Kooperationsfähigkeit fehlt, finden sich weder in den Entscheidungsgründen noch in den Sitzungsprotokollen. Auch wenn das Amtsgericht in seinem Beschluss von "bestehenden tiefgreifenden Differenzen zwischen den beteiligten Kindeseltern" gesprochen hat, lässt sich seiner Entscheidung nicht entnehmen, ob diese Differenzen noch andere über den Streit wegen des Aufenthalts hinausgehende Ursachen haben. Zwar lässt sich den Ausgangsakten entnehmen, dass sich der Streit der Eltern im Laufe des Verfahrens verschärft hat und eine Einigung zwischen ihnen nicht zu erzielen war. Dieser Dissens bezieht sich aber ersichtlich auf den Aufenthalt der Kinder beziehungsweise die damit zusammenhängenden Probleme mit dem Umgangsrecht. Schließlich hat das Oberlandesgericht selbst ausgeführt, der Beschwerdeführer wolle aus "verständlichen Gründen erreichen", dass die Kinder weiterhin in Deutschland aufwachsen. Sowohl das Amts- wie auch das Oberlandesgericht haben folgerichtig auch beiden Eltern "zugebilligt", dass sie aufrichtig um das Wohl der gemeinsamen Kinder besorgt seien.

12

Um dem Elternrecht des Beschwerdeführers hinreichend Rechnung zu tragen, hätten die Gerichte bei dieser Sachlage prüfen müssen, ob es den Eltern auch in anderen Fragen des Sorgerechts an dem gebotenen Mindestmaß an Übereinstimmung beziehungsweise insgesamt an einer tragfähigen sozialen Beziehung fehlt. Gegebenenfalls hätten sie erwägen müssen, ob unter Beachtungd es Kindeswohls einerseits und des Elternrechts des Beschwerdeführers andererseits eine Übertragung lediglich des Aufenthaltsbestimmungsrechts ausreichend gewesen wäre, womöglich verbunden mit einer Regelung des Umgangsrechts. Diese Prüfung haben die Gerichte unterlassen und damit dem Elternrecht des Beschwerdeführers nicht die nötige Beachtung geschenkt.

13

Auch die Ausführungen der Gerichte, wonach die nunmehr von einem Elternteil zu bewältigende Distanz der Ausübung der gemeinsamen Sorge entgegensteht, werden dem Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art.6 Abs.2 Satz 1 GG nicht gerecht. Nicht zuletzt seine Tätigkeit als Pilot bei der Lufthansa, die ihn ausweislich der Feststellungen des Oberlandesgerichts in die Lage versetzt, den Kontakt zu seinen Kindern auch in Spanien aufrechtzuerhalten, hätte die Gerichte zu einer eingehenden Prüfung veranlassen müssen. Anstatt aber die konkreten Umstände zu erfassen beziehungsweise abzuwägen, haben die Gerichte lapidar auf die weite Entfernung verwiesen.

14

Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte bei Beachtung der sich aus Art.6 Abs.2 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

 

Auszug aus BVerfG B, 01.03.04, - 1_BvR_738/01 -, www.BVerfG.de,  Abs.8 ff

§§§

04.018 Großer Lauschangriff

  1. BVerfG,     U, 03.03.04,     – 1_BvR_2378/98 –

  2. BVerfGE_109,279 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.13 Abs.1, GG_Art.13 Abs.3-6, GG_Art.19 Abs.4, GG_Art.79 Abs.3, GG_Art.103 Abs.1; StPO_100c Abs.1 Nr.3, StPO_§_100d Abs.3 StPO_§_100d Abs.5 S.2, StPO_§_100f Abs.1, StPO_§_101 Abs.1 S.1 +2, StPO_§_101 Abs.1 S.3, StPO_§_100d Abs.4 S.3 iVm StPO_§_100b Abs.6

  4. Änderung GG / Vereinbarkeit / akustische Wohnraumüberwachung / Menschenwürde / Strafverfolgung / Vorschriften StPO / Vereinbarkeit.

 

1) Art.13 Abs.3 GG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 13) vom 26.März 1998 (BGBl I S.610) ist mit Art.79 Abs.3 GG vereinbar.

 

2) Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gemäß Art.1 Abs.1 GG gehört die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. In diesen Bereich darf die akustische Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung ( Art.13 Abs.3 GG) nicht eingreifen. Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen der Unverletzlichkeit der Wohnung ( Art.13 Abs.1 iVm Art.1 Abs.1 GG) und dem Strafverfolgungsinteresse findet insoweit nicht statt.

 

3) Nicht jede akustische Überwachung von Wohnraum verletzt den Menschenwürdegehalt des Art.13 Abs.1 GG.

 

4) Die auf die Überwachung von Wohnraum gerichtete gesetzliche Ermächtigung muss Sicherungen der Unantastbarkeit der Menschenwürde enthalten sowie den tatbestandlichen Anforderungen des Art.13 Abs.3 GG und den übrigen Vorgaben der Verfassung entsprechen.

 

5) Führt die auf eine solche Ermächtigung gestützte akustische Wohnraumüberwachung gleichwohl zur Erhebung von Informationen aus dem absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung, muss sie abgebrochen werden und Aufzeichnungen müssen gelöscht werden; jede Verwertung solcher Informationen ist ausgeschlossen.

 

6) Die Vorschriften der Strafprozessordnung zur Durchführung der akustischen Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf den Schutz der Menschenwürde ( Art.1 Abs.1 GG), den vom Rechtsstaatsprinzip umfassten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Gewährung effektiven Rechtsschutzes ( Art.19 Abs.4 GG) und den Anspruch auf rechtliches Gehör ( Art.103 Abs.1 GG) nicht in vollem Umfang.

 

LB 7) Abweichende Meinung der Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt siehe BVerfGE_109,382 = www.BVerfG.de, Abs.355 ff.

* * *

Urteil:

Entscheidungsformel:

1. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1a ist durch seinen Tod erledigt.

2. Unvereinbar nach Maßgabe der Gründe sind von den Vorschriften der Strafprozessordnung in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität vom 4.Mai 1998 (Bundesgesetzblatt I Seite 845) und in der Fassung späterer Gesetze

- § 100c Absatz 1 Nummer 3, § 100d Absatz 3, § 100d Absatz 5 Satz 2 und § 100f Absatz 1 mit Artikel 13 Absatz 1, Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes,

- § 101 Absatz 1 Satz 1 und 2 darüber hinaus mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes,

- § 101 Absatz 1 Satz 3 mit Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes und

- § 100d Absatz 4 Satz 3 in Verbindung mit § 100b Absatz 6 mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.

3. Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zu 1b und 2 zurückgewiesen.

4. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern zwei Drittel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

04.019 Postverkehrsüberwachung

  1. BVerfG,     B, 03.03.04,     – 1_BvF_3/92 –

  2. BVerfGE_110,33 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.10 Abs.1, GG_Art.87 Abs.1 S.2, GG_Art.87 Abs.3 S.1

  4. Bund / Einrichtung / Zentralstelle / Bundesoberbehörde / Wahlrecht / Straftatenverhütung / Ermächtigungsgrundlage / rechtsstaatliche Anforderungen.

 

1) Der Bund kann zwischen der Einrichtung einer Zentralstelle nach Art.87 Abs.1 Satz 2 GG und der Errichtung einer selbständigen Bundesoberbehörde nach Art.87 Abs.3 Satz 1 GG wählen, soweit die Voraussetzungen beider Ermächtigungsnormen erfüllt sind.

 

2) Im Bereich der Straftatenverhütung unterliegen Ermächtigungen zum Eingriff in das Grundrecht aus Art.10 Abs.1 GG keinen geringeren rechtsstaatlichen Anforderungen an die Normenbestimmtheit und Normenklarheit als Ermächtigungen zu Maßnahmen der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung. Die Ermächtigung des § 39 Abs.1 und 2 AWG zur Überwachung des Postverkehrs und der Telekommunikation im Bereich der Straftatenverhütung und die des § 41 Abs.2 AWG zur Verarbeitung und Weitergabe der erlangten personenbezogenen Daten für weitere Zwecke genügt diesem Maßstab nicht.

* * *

Beschluss:

Entscheidungsformel:

Die §§ 39, 40 und 41 des Außenwirtschaftsgesetzes, zuletzt geändert durch das Zollfahndungsneuregelungsgesetz vom 16.August 2002 (Bundesgesetzblatt I Seite 3202), sind mit Artikel 10 des Grundgesetzes unvereinbar.

§§§

04.020 Fortsetzungsfeststellung

  1. BVerfG,     B, 03.03.04,     – 1_BvR_461/03 –

  2. BVerfGE_110,77 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.19 Abs.4 S.1; VwGO_§_113 Abs.1 S.4

  4. Anspruch auf Rechtsschutz / Hauptsache / Eilverfahren / Fortsetzungsfeststellungsinteresse / Hauptsacheverfahren.

 

1) Art.19 Abs.4 Satz 1 GG gewährt einen Anspruch auf Rechtsschutz in der Hauptsache und nicht nur auf Rechtsschutz im Eilverfahren.

 

2) Zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse für das verwaltungsgerichtliche Hauptsacheverfahren in versammlungsrechtlichen Streitigkeiten.

§§§

04.021 Spekulationssteuer

  1. BVerfG,     U, 09.03.04,     – 2_BvL_17/02 –

  2. BVerfGE_110,94 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; EStG_§_23 Abs.1 S.1 Nr.1 Buchst.b

  4. Steuerrecht / Gleichheitssatz / Belastungserfolg / Erhebungsverfahren / Verfassungswidrigkeit der Besteuerungsgrundlage.

 

1) Der Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Wird die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen (Anschluss an BVerfGE_84,239).

 

2) Verfassungsrechtlich verboten ist der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung angelegten Erhebungsregel. Zur Gleichheitswidrigkeit führt nicht ohne weiteres die empirische Ineffizienz von Rechtsnormen, wohl aber das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

§ 23 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b des Einkommensteuergesetzes in der für die Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 geltenden Neufassung des Einkommensteuergesetzes vom 16.April 1997 (Bundesgesetzblatt I Seite 821) ist mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit er Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft.

§§§

04.022 Blinder Schöffe

  1. BVerfG,     B, 10.03.04,     – 2_BvR_577/01 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.3 S.2

  4. Schöffenliste - Streichung eines Blinden / Diskirminierungsverbot / Zweck.

T-04-10

LB 1) Zur Streichung eines Blinden von der Schöffenliste.

 

LB 2) Art.3 Abs.3 Satz 2 GG will den Schutz des allgemeinen Gleichheitssatzes für bestimmte Personengruppen verstärken und der staatlichen Gewalt insoweit engere Grenzen vorgeben, als die Behinderung nicht als Anknüpfungspunkt für eine benachteiligende Ungleichbehandlung dienen darf.

 

LB 3) Das Diskriminierungsverbot des Art.3 Abs.3 Satz 2 GG gilt jedoch nicht ohne jede Einschränkung. Fehlen einer Person gerade wegen ihrer Behinderung bestimmte körperliche Fähigkeiten, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist danach zulässig, wenn behinderungsbezogene Besonderheiten es zwingend erfordern.

* * *

T-04-10Eignung zum Schöffen

6

"Die Entscheidung des Landgerichts, den Beschwerdeführer wegen seiner Blindheit gemäß §§ 77, 52 Abs.1 Nr.2 GVG von der dort geführten Schöffenliste zu streichen, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die dieser Entscheidung zu Grunde liegende Auffassung, die mangelnde Sehfähigkeit des Beschwerdeführers sei ein seine Eignung als Hilfsschöffe der Strafkammern ausschließendes körperliches Gebrechen im Sinne der §§ 77 GVG, 33 Nr.4 GVG aF, verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten."

 

Auszug aus BVerfG B, 10.03.04, - 2_BvR_577/01 -, www.BVerfG.de,  Abs.6 f

§§§

04.023 Kampfhunde

  1. BVerfG,     U, 16.03.04,     – 1_BvR_1778/01 –

  2. BVerfGE_110,141 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.72 Abs.2, GG_Art.74 Abs.1 Nr.20; StGB_§_143 Abs.1; TSchG_§_11b Abs.2

  4. Hunde / Einfuhr- + Verbringungsverbot / Vereinbarkeit / Züchtungsverbot / Nachkommen mit erblich bedingten Aggressionssteigerungen / strafrechtliche Sanktionierung.

 

1) Das Einfuhr- und Verbringungsverbot in § 2 Abs.1 Satz 1 des Hundeverbringungs- und -einfuhrbeschränkungsgesetzes vom 12.April 2001 ist, soweit es sich auf Hunde der darin genannten Rassen bezieht, mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Gesetzgeber hat allerdings die weitere Entwicklung zu beobachten und zu prüfen, ob die der Norm zugrunde liegenden Annahmen sich tatsächlich bestätigen.

 

2) Das Verbot des Züchtens von Hunden zur Vermeidung von Nachkommen mit erblich bedingten Aggressionssteigerungen in § 11b Abs.2 Buchstabe a des Tierschutzgesetzes in Verbindung mit § 11 der Tierschutz-Hundeverordnung dient nicht dem Tierschutz im Sinne des Art.74 Abs.1 Nr.20 GG.

 

3) Die strafrechtliche Sanktionierung sehr unterschiedlicher landesrechtlicher Verbote, einen gefährlichen Hund zu züchten oder Handel mit ihm zu treiben, in § 143 Abs.1 StGB genügt nicht den Anforderungen des Art.72 Abs.2 GG.

* * *

Urteil:

Entscheidungsformel:

§ 11b Absatz 2 Buchstabe a Alternative 2 des Tierschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung gefährlicher Hunde vom 12.April 2001 (Bundesgesetzblatt I Seite 530) in Verbindung mit § 11 der Tierschutz-Hundeverordnung vom 2.Mai 2001 (Bundesgesetzblatt I Seite 838) sowie § 143 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs, eingefügt durch das Gesetz vom 12.April 2001, sind mit Artikel 12 Absatz 1 und Artikel 14 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern die Hälfte ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

04.024 Spätaussiedler

  1. BVerfG,     U, 17.03.04,     – 1_BvR_1266/00 –

  2. BVerfGE_110,177 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.11 Abs.1, GG_Art.11 Abs.2; WoZuG_§_3a

  4. Verfassungsrecht / Grundrecht auf Freizügigkeit / Beschränkung / Unterbringungslasten,

 

1) Art.11 Abs.2 GG ermöglicht dem Gesetzgeber, das Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art.11 Abs.1 GG zu beschränken, wenn unterstützungsbedürftige Personen in anhaltend großer Zahl in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und Bund, Ländern und Gemeinden daraus erhebliche Lasten der Unterbringung, Unterstützung und Eingliederung erwachsen.

 

2) Es ist mit Art.11 Abs.1 GG vereinbar, dass Spätaussiedler, die an einem anderen als dem ihnen zugewiesenen Ort ständigen Aufenthalt nehmen, grundsätzlich keine Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz erhalten (§ 3a WoZuG).

§§§

04.025 Aktenvorlage

  1. BVerfG,     B, 30.03.04,     – 2_BvK_1/01 –

  2. BVerfGE_110,199 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. (SH) LVerf_Art.23

  4. Verfassung des Landes Schleswig-Holstein / parlamentarische Rechte auf Information / Willensbildung der Regierung / Funktionsfähigkeit der Regierung / Beeinträchtigung.

 

1) Parlamentarische Rechte auf Information über abgeschlossene Vorgänge scheiden gemäß Art.23 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein nicht von vorneherein deshalb aus, weil es sich um Informationen aus dem Bereich der Willensbildung der Regierung handelt. Ob die Vorlage von Akten aus diesem Bereich die Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung der Regierung beeinträchtigen würde, lässt sich nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände feststellen.

 

2) Dem parlamentarischen Informationsinteresse kommt besonders hohes Gewicht zu, soweit es um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb der Regierung geht.

§§§

04.026 Geldwäsche

  1. BVerfG,     U, 30.03.04,     – 2_BvR_1520/01 –

  2. BVerfGE_110,226 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. StGB_§_261 Abs.2 Nr.1

  4. § 261/2 Nr.1 / Vereinbarkeit / Strafverteidiger / Honorarannahme / sichere Kenntnis.

 

1) § 261 Absatz 2 Nummer 1 des Strafgesetzbuchs ist mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit Strafverteidiger nur dann mit Strafe bedroht werden, wenn sie im Zeitpunkt der Annahme ihres Honorars sichere Kenntnis von dessen Herkunft hatten.

 

2) Strafverfolgungsbehörden und Gerichte sind bei der Anwendung des § 261 Absatz 2 Nummer 1 StGB verpflichtet, auf die besondere Stellung des Strafverteidigers schon ab dem Ermittlungsverfahren angemessen Rücksicht zu nehmen.

§§§

04.027 Ökologische Steuerreform

  1. BVerfG,     U, 20.04.04,     – 1_BvR_1748/99 –

  2. BVerfGE_110,274 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.106 Abs.1 Nr.2; StromStG_§_9 Abs.3, StromStG_§_10 Abs.1 +2; MinöStG_§_25, MinöStG_§_25a

  4. Strom- und Mineralölsteuer / ökölogische Steuerreform / Vereinbarkeit / Differenzierungen / Gleichbehandlung / Anspruch.

 

1) Strom- und Mineralölsteuer sind Verbrauchsteuern im Sinne des Art.106 Abs.1 Nr.2 GG. Die Einführung der Stromsteuer und die Erhöhung der Mineralölsteuer im Rahmen der ökologischen Steuerreform berühren das Grundrecht der Berufsfreiheit der Verbraucher nicht.

 

2) Die Differenzierung zwischen Produzierendem Gewerbe und Dienstleistungsunternehmen bei der Steuervergünstigung nach § 9 Abs.3, § 10 Abs.1 und 2 StromStG sowie nach den §§ 25, 25a MinöStG verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG.

 

3) Aus einer Steuervergünstigung für eine Gruppe erwächst aus Art.3 Abs.1 GG kein Anspruch einer anderen Gruppe auf eine andere Steuervergünstigung, die wirtschaftlich zu einer vergleichbaren Entlastung führt.

§§§

04.028 Fachspezifische Leistungen

  1. BVerfG,     U, 20.04.04,     – 1_BvR_838/01 –

  2. BVerfGE_110,304 = www.BVerfG.de

  3. DD:Art.12 Abs.1; GG_Art.33 Abs.2; BNotO_§_6, BNotO_§_7 Abs.1

  4. Zugang zum Beruf des Notars / fachspezifische Leistungen / Prüfungsmaßstab / Auswahlkriterien / Allgemeinbefähigung / ständige Vertretung.

T-04-11

1) Zur angemessenen Gewichtung fachspezifischer Leistungen beim Zugang zum Beruf des Notars im Nebenamt.

Abs.61

LB 2) Zum Prüfunsmaßstab bei der Bewerberauswahl um ein Notarsamt.

Abs.67

LB 3) Zu den Auswahlkriterien für das Notarsamt.

Abs.94

LB 4) Die Vorgaben in § 6 AVNot stehen in Widerspruch zu den aus Art.33 Abs.2 GG abzuleitenden Grundsätzen für Auswahlentscheidungen beim Zugang zu einem öffentlichen Amt, weil diese nicht auf hinreichend aussagekräftigen fachlichen Beurteilungsgrundlagen beruhen.

Abs.106

LB 5) Zur Allgemeinbefähigung im Verhältnis zur notarspezifischen Befähigung.

Abs.109

LB 6) Zur Bedeutung der ständigen Vertretung eines Notars.

* * *

T-04-11Prüfungsmaßstab-Bewerberauswahl

61

Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab für die Auswahl unter Bewerbern für das Amt des Notars ist das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art.12 Abs.1 in Verbindung Berufsfreiheit mit Art.33 Abs.2 GG.

62

Das Grundrecht schützt neben der freien Berufsausübung auch das Recht, einen Beruf frei zu wählen. Unter Beruf ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit zu verstehen, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient (vgl BVerfGE_102,197 <212> ). Dabei umfasst die Berufsfreiheit grundsätzlich auch das Recht, mehrere Berufe zu wählen und gleichzeitig nebeneinander auszuüben (vgl BVerfGE_21,173 <179>).

63

Eingriffe in dieses Recht sind nach Art.12 Abs.1 Satz 2 GG, der auch für Maßnahmen gilt, die die Freiheit der Berufswahl betreffen (vgl BVerfGE_102,197 <213> mwN), nur auf der Grundlage einer Regelung zulässig, aus der sich hinreichend deutlich die gesetzgeberische Entscheidung über den Umfang und die Grenzen des Eingriffs ergibt. Dabei sind an Bestimmtheit und Erkennbarkeit der gesetzlichen Einschränkung der Freiheit der Berufswahl strengere Anforderungen zu stellen als an Regelungen, die nur die Berufsausübung betreffen (vgl BVerfGE_54,237 <245 f>).

64

Dass die Tätigkeit des Notars nach der Art der von ihm zu bewältigenden Aufgaben in einem öffentlichen Amt in sachlich bedingter Nähe zum öffentlichen Dienst steht, ermöglicht für diesen Beruf zwar grundsätzlich Sonderregelungen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass an die nach Art.12 Abs.1 Satz 2 GG gebotene gesetzliche Regelung geringere Anforderungen zu stellen wären als bei anderen Berufen. Allerdings kann die Nähe zum öffentlichen Dienst für den Inhalt der gesetzlichen Regelung Bedeutung erlangen (vgl BVerfGE_73,280 <294 f>). Lässt der Gesetzgeber unterschiedliche Ausgestaltungen desselben Berufs zu und ist die Ausübung eines öffentlichen Amtes im Haupt- und im Zweitberuf möglich, wirken sich solche Unterschiede nicht nur im Hinblick auf Regelungen der Berufsausübung aus (vgl BVerfGE_47,285 <319 f>; 54,237 <247>; 98,49 <68>), sondern vor allem im Hinblick auf die grundgesetzkonforme Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen und die verfassungsrechtlich zulässigen Einschränkungen der Berufswahl.

65

Diesen Maßstäben wird § 6 BNotO gerecht. Dessen Auswahlkriterien entsprechen den Erfordernissen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1986 eingefordert hat (vgl BVerfGE_73,280 <295 f.>). Sie sind genügend bestimmt und greifen nicht unangemessen in die Berufswahlfreiheit ein.

66

1. Die Bundesnotarordnung legt zunächst fest, dass nur solche Bewerber zu Notaren bestellt werden dürfen, die die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz erlangt haben (§ 5), noch nicht 60 Jahre alt und im Übrigen nach ihrer Persönlichkeit und ihren Leistungen für das Amt des Notars geeignet sind (§ 6 Abs.1). Diese Voraussetzungen werden amtsangemessen einheitlich sowohl für die hauptberuflichen Notare nach § 3 Abs.1 BNotO wie auch für die Anwaltsnotare nach § 3 Abs.2 BNotO festgelegt. In Anlehnung an die auslegungsfähigen und von der Rechtsprechung inzwischen umfänglich konkretisierten Begriffe aus Art.33 Abs.2 GG knüpft das Gesetz die Übertragung des Amtes an Eignung, Befähigung und fachliche Leistungen. Dabei zielt die Befähigung auf allgemein der Tätigkeit zugute kommende Fähigkeiten wie Begabung, Allgemeinwissen, Lebenserfahrung und allgemeine Ausbildung. F achliche Leistung bedeutet Fachwissen, Fachkönnen und Bewährung im Fach. Eignung im engeren Sinne erfasst insbesondere Persönlichkeit und charakterliche Eigenschaften, die für ein bestimmtes Amt von Bedeutung sind ( vgl Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 7.Aufl, 2004, Art.33 Rn.13; vgl auch BVerfGE_92,140 <154 ff.> und BVerfG, NJW 2003, S.3111 < 3112>). 66

67

a) Diese Kriterien, insbesondere Befähigung und fachliche Leistung, werden in der Bundesnotarordnung für die unterschiedlichen Berufsausübungsformen näher konkretisiert. Das geschieht für die Anwaltsnotare in § 6 Abs.2 und 3 BNotO und für die Nur-Notare in § 6 Abs.3 und § 7 BNotO. Mit den in diesen Vorschriften enthaltenen Erfordernissen beschränkt das Gesetz die Freiheit der Berufswahl in Gestalt subjektiver Zulassungsvoraussetzungen durch an den einzelnen Notarbewerber absolut und im Vergleich zu Mitbewerbern gestellte Anforderungen. Die grundlegenden Eignungs- und Auswahlgesichtspunkte hat der Gesetzgeber dadurch selbst und mit der erforderlichen Klarheit geregelt.

68

b) Die gesetzlichen Bestimmungen machen insbesondere hinlänglich deutlich, in welchem Maße Unterschiede bei der Ernennung zum Notar im Hauptberuf und bei der Ernennung zum Notar im Nebenberuf zu beachten sind. Diese ergeben sich zwangsläufig daraus, dass zwar in beiden Notariatsformen der Notar Inhaber eines öffentlich Amtes ist, das Berufsbild jedoch unterschiedlich ausgestaltet ist (vgl BVerfGE_98,49 <68>), was sich auf die Berufszugangsvoraussetzungen auswirkt.

69

aa) Im Hauptberuf kommt der fachlichen Eignung unter besonderer Berücksichtigung der Leistungen in der die juristische Ausbildung abschließenden Staatsprüfung schon nach § 7 Abs.2 Satz 1 BNotO für die Aufnahme in den Anwärterdienst herausragende Bedeutung zu. Zu diesem Zeitpunkt haben die Anwärter im Allgemeinen noch keine besonderen Fachkenntnisse aufzuweisen. Deshalb wird die Auswahl vorrangig anhand der Examensnoten getroffen mit der Folge, dass regelmäßig nur solche Anwärter zu Notarassessoren bestellt werden, die das Examen mit gut oder mindestens einem oberen vollbefriedigend abgelegt haben.

70

Ihre fachliche Qualifikation erwerben die Notarassessoren während des in der Regel dreijährigen Anwärterdienstes (§ 7 Abs.1 BNotO); fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten werden ihnen vermittelt; ihr Leistungsstand wird beurteilt. Zu diesem Zweck wird der Notarassessor einem Notar zugewiesen und von diesem in einer dem Zweck des Anwärterdienstes entsprechenden Weise beschäftigt (§ 7 Abs.5 Satz 1 BNotO). Er erhält eine Ausbildung, die sich nach einschlägigen Länderverordnungen richtet (vgl beispielsweise für Nordrhein-Westfalen: § 2 der Verordnung über die Ausbildung der Notarassessorinnen und Notarassessoren vom 18.Oktober 1999 ; im Folgenden: AusbildungsVO). Diese Ausbildung hat zur Folge, dass bei der Auswahl unter mehreren geeigneten Bewerbern, die sich gemäß § 6 Abs.3 BNotO an der persönlichen und fachlichen Eignung ausrichtet, im Zeitpunktd er Bewerbung um ein Notaramt im Hauptberuf zwar erneut das Zweite Staatsexamen, aber eben auch die bei der Vorbereitung auf den Notarberuf gezeigten und beurteilten Leistungen Gewicht haben.

71

bb) In § 6 Abs.2 und 3 Satz 2 BNotO nimmt der Gesetzgeber hingegen auf die Besonderheiten des Berufs des Anwaltsnotars als einem Zweitberuf Rücksicht, ohne indessen das Merkmal der Eignung im weiteren Sinne zu vernachlässigen. Auch beim Zugang zum Zweitberuf rechtfertigt vor Art.12 Abs.1 GG allein die Sicherstellung einer qualitätsvollen vorsorgenden Rechtspflege Einschränkungen beim Berufszugang, soweit diese hierzu geeignet und erforderlich sind, die Bewerber nicht unverhältnismäßig belasten und den chancengleichen Zugang zum angestrebten öffentlichen Amt wahren (vgl auch BVerfGE_73,280 <295>). Diesen Maßstäben werden die gesetzlichen Vorgaben gerecht.

72

Obwohl das Gesetz für die Auswahl der Anwaltsnotare strikte Regeln nur hinsichtlich Dauer und Ort der Berufstätigkeit als Anwalt vorsieht (§ 6 Abs.2 Nr.1 und 2 BNotO), gibt es der Normanwendung mit den Kriterien von persönlicher und fachlicher Eignung (§ 6 Abs.3 Satz 1 BNotO) hinreichend klare Konturen. Es ermöglicht eine einzelfallbezogene Würdigung der gesamten Persönlichkeit des Bewerbers, die in eine Prognose einmündet (vgl BVerfGE_92,140 <155>). Die angemessene Berücksichtigung von in den Notarberuf einführenden Tätigkeiten sowie die erfolgreiche Teilnahme an freiwilligen Vorbereitungskursen (§ 6 Abs.3 Satz 2 BNotO) bieten neben den in der Staatsprüfung gezeigten Leistungen insoweit eine ausreichende Prognosegrundlage. Daneben ist die Dauer der Anwaltstätigkeit nach § 6 Abs.3 Satz 3 BNotO angemessen zu berücksichtigen, woraus sich nach Auffassung der Bundesnotarkammer und des Deutschen Notarvereins vor allem Eignungsmerkmale im Hinblick auf Erfahrungen mit der allgemeinen Büroorganisation und dem Umgang mit Rechtsuchenden ergeben. Die vom Gesetz erwähnten Merkmale sind danach ausreichend bestimmt und in Verbindung mit der Gesamtregelung auch einer der Verfassung entsprechenden Auslegung und Gewichtung zugänglich.

73

2. Der Sache nach ist die Berücksichtigung sämtlicher Kriterien, insbesondere derjenigen zur fachlichen Eignung, verfassungsrechtlich auch geboten. Sie und nicht allein die Berücksichtigung der die juristische Ausbildung abschließenden Staatsprüfung sind geeignet, dem Schutz eines wichtigen Gemeinschaftsgutes in Gestalt der vorsorgenden Rechtspflege zu dienen, indem sie gewährleisten, dass nur solche Bewerber zu Notaren ernannt werden, die den Anforderungen des Amtes voraussichtlich gewachsen sind.

74

Für diese Prognose genügt - auch nach dem im Gesetz zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers - das Zweite Staatsexamen nicht, das lediglich die Befähigung zum Richteramt und damit zugleich zum Beruf des Rechtsanwalts vermittelt, aber keine hinlängliche Aussage über die spezielle Befähigung zum Amt des Notars enthält. Deshalb hat der Gesetzgeber für die Zulassung zum Notar in hauptberuflicher Amtsausübung ergänzende Voraussetzungen aufgestellt. Nach dem erfolgreichen Abschluss der juristischen Ausbildung hält der Gesetzgeber hier eine dreijährige Weiterbildung - die AusbildungsVO nennt es sogar Ausbildung - zur Erlangung spezifischer Kenntnisse für notwendig (vgl § 7 Abs.1 BNotO), die im Notariat und von Notaren praktisch und theoretisch vermittelt werden.

75

Ein entsprechender Eignungsnachweis kann im Anwaltsnotariat nicht allein aus längerer berufspraktischer Tätigkeit in der Anwaltschaft erbracht werden, da sich die beruflichen Anforderungen unterscheiden. Aus diesem Grund lässt sich beim Anwaltsnotar die fachliche Eignung auch nicht ausschließlich an dem Ergebnis der die juristische Ausbildung abschließenden Staatsprüfung in Verbindung mit einer nicht notariellen Berufstätigkeit ablesen. Wie bei den Notaren im Hauptberuf, bei denen die bei der Vorbereitung auf den Notarberuf gezeigten Leistungen in Rechnung zu stellen sind, ist es gemäß Art.12 Abs.1 GG auch bei den Notaren im Nebenberuf erforderlich, dass der spezifische Vorbereitungsaufwand in die fachliche Bewertung ihrer Eignung angemessen eingeht. Die notwendige Qualifikation kann in praktischer Tätigkeit und erfolgreicher Teilnahme an Vorbereitungskursen erworben werden. Eine solche spezielle auf das Amt zugeschnittene Qualifikation ist geboten, damit der angestrebte Zweck erreicht werden kann. Ohne das Zusatzerfordernis bliebe das Ergebnis des Staatsexamens zu wenig aussagekräftig; es gibt lediglich über die allgemeine juristische Befähigung, nicht aber über die spezifische fachliche Eignung für das Amt des Notars Auskunft.

76

3. Nach allem ermöglicht die Bundesnotarordnung bei der Auswahl der Anwaltsnotare eine angemessene Berücksichtigung solcher Kenntnisse und Fähigkeiten, welche sich speziell auf das angestrebte Amt und damit auf den Zweitberuf beziehen. Solange der Gesetzgeber keine andere Regelung trifft, ergeben sich angesichts der Gleichwertigkeit der Berufsausübung im Haupt- und im Nebenamt aus den Vorschriften über den Anwärterdienst für Notare im Hauptamt Hinweise auf eine der Bedeutung von Fachkompetenz gerecht werdenden Bewertung der im Gesetz vorgesehenen Kriterien beim Zugang zum Beruf im Nebenamt. In beiden Fällen sind spezifische Fachkenntnisse bewertet nachzuweisen und angemessen zu gewichten. In dieser Auslegung ist das Gesetz mit Art.12 Abs.1 in Verbindung mit Art.33 Abs.2 GG vereinbar; es schränkt die Berufsfreiheit der Bewerber nicht unverhältnismäßig ein. ...."

94

4. Die Vorgaben in § 6 AVNot stehen damit in Widerspruch zu den aus Art.33 Abs.2 GG abzuleitenden Grundsätzen für Auswahlentscheidungen beim Zugang zu einem öffentlichen Amt, weil diese nicht auf hinreichend aussagekräftigen fachlichen Beurteilungsgrundlagen beruhen.

95

a) Im öffentlichen Dienst sind bei der Beurteilung der Eignung vor allem zeitnahe Beurteilungen heranzuziehen (vgl BVerwG, DVBl 2004, S.317 <319> mwN), die bei der Übernahme weiterer oder neuer Ämter auch auf diese zugeschnitten sind. Das setzt aber voraus, dass solche Beurteilungen tatsächlich vorliegen. Für das Nur-Notariat wird dies vom Gesetz sichergestellt. Im Anwaltsnotariat fehlt demgegenüber eine Qualitätssicherung durch Bewertung fachspezifischer Leistungen.

96

Die derzeit geübte Praxis verhindert, dass die Qualität notarieller Vorbereitung in die Bewertung nach Punkten eingeht. Der Bundesgerichtshof hat die Auswirkungen der Kappung verstärkt, indem er für weitere praktische Erfahrungen im Urkundenwesen keine zusätzlichen Punkte anerkannt hat und hinsichtlich der Bewertung der Vorbereitungszeit auch keine Differenzierung zwischen lang zurückliegenden und jüngeren Lehrgängen zulässt. Selbst für den Fall, dass Klausuren tatsächlich geschrieben und bewertet worden waren, kannn ach der Rechtsprechung durch ein gutes Ergebnis keine Steigerung der Punktzahl erreicht werden (vgl BGH, NJW-RR_97,948; NJW-RR_98,637 ). Die Spreizung zwischen 20 und 90 erreichbaren Punkten je nach Qualität des Staatsexamens steht hierzu im Missverhältnis. Nicht nur die allgemeine juristische Befähigung, auch der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten mit spezifischem Bezug zum Notariat gelingt den einzelnen Bewerbern mehr oder weniger gut. Die Höchstpunktzahl von 45 ist indessen für jeden erreichbar, der einige kurzzeitige Vertretungen übernimmt und die Kosten für die Lehrgänge aufbringt.

97

b) Gegen eine Differenzierung bei der Leistungsbewertung und gegen eine eigenständige Berücksichtigung der praktischen Erfahrung neben theoretischen fachspezifischen Kenntnissen sprechen auch nicht die in den vorliegenden Verfahren vor allem vom Bundesministerium der Justiz, der Niedersächsischen Staatskanzlei sowie der Bundesnotarkammer und dem Deutschen AnwaltVerein vorgebrachten Argumente.

98

Die Stärke des Punkteschemas soll darin liegen, dass die Auswahlentscheidung transparent, vorhersehbar und nachprüfbar sei. Eine ins Einzelne gehende Bewertung, gar eine erneute Prüfung, wird für Personen, die bereits langjährig berufstätig sind, als diskriminierend angesehen. Das Scheitern in einer solchen Prüfung entwerte zudem nachträglich die Investitionen in Zeit und Geld, die zur Vorbereitung notwendig gewesen seien. Eine solche Situation werde von den Rechtsanwälten als psychisch zu belastend empfunden.

99

Transparente, vorhersehbare und nachprüfbare Auswahlentscheidungen sind ein legitimes Ziel. Sie stehen aber einer benoteten Leistungsbewertung nicht entgegen.

100

aa) Gerade Benotungen können die fachlichen Leistungen transparenter machen. Auch Berufstätige, die nach einem weiteren Betätigungsfeld streben, können nicht erwarten, dass das Risiko des Scheiterns vorhersehbar ausgeschlossen wird. Schriftliche und mündliche Prüfungen nach langjähriger einschlägiger Berufstätigkeit finden sich beispielsweise auch im Gesetz über eine Berufsordnung der Wirtschaftsprüfer in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.November 1975 (BGBl I S.2803), zuletzt geändert durch das Wirtschaftsprüfungsexamens-Reformgesetz vom 1.Dezember 2003 (BGBl I S.2446). Dem Prinzip der Bestenauslese in der Konkurrenz um eine beschränkte Anzahl von öffentlichen Ämtern ist das Risiko des Scheiterns mangels genügender fachlicher Kompetenz bei gleichmäßig guter allgemeiner Befähigung sozusagen immanent.

101

bb) Dem Prinzip der Bestenauslese ist vor allem der Gedanke fremd, erworbene Qualifikationen durch eine zusammengefasste Bewertung unterschiedlicher fachlicher Leistungen in ihrer Bedeutung zu verringern. Herausragende Leistungen müssen - gegebenenfalls durch Sonderpunkte - das ihnen gebührende Gewicht erhalten.

102

Soweit das Bundesministerium der Justiz befürchtet, dass dann noch mehr Bewerber mit mäßigen Leistungen im Staatsexamen zum Zuge kommen könnten, kann dem mit anderen Mitteln, beispielsweise mit Mindestvoraussetzungen für den Zugang zur Weiterbildung, begegnet werden, sofern gewichtige Gründe dafür sprechen, dass die - möglicherweise viele Jahre zurückliegende - Examensleistung weiterhin besonders aussagekräftig bleibt und deshalb ein mäßiges Examen nicht durch nachgewiesene hervorragende Leistungen in der Vorbereitung auf den Notarberuf kompensiert werden kann.

103

Soweit in den Stellungnahmen im Hinblick auf die Berücksichtigung von Beurkundungen, also die derzeit einzige nachweisbare praktische Erfahrung, angeführt wird, dass sich deren Qualität nur schlecht messen lasse, weil sich der Schwierigkeitsgrad und die Qualität der Urkunde der Bewertung in einem Punkteschema verschlössen und weil aus der Beurkundungstätigkeit nicht hervorgehe, ob und inwieweit die Urkunde selbständig vorbereitet sowie mit Vorbesprechung und Vollzug begleitet worden ist, lässt sich die Berechtigung dieser Einwände angesichts des derzeit praktizierten Verfahrens nicht bestreiten. Das könnte aber geändert werden, wenn sich die praktische Tätigkeit mehr an den in den §§ 20, 24 BNotO umschriebenen Aufgaben der Beratung und Betreuung orientierte und die Beurkundung fertig vorbereiteter Vertragstexte ohne jede begleitende notarielle Dienstleistung anders gewichtet würde als die verantwortungsvolle Vertretung eines Notars über einen gewissen Zeitraum.

104

Dem ist in den Stellungnahmen entgegengehalten worden, dass insoweit der chancengleiche Zugang zum Notariat gefährdet werde, weil in bestimmten Sozietätsformen besonders gute Gelegenheit zur Notarvertretung bestehe, die einem Einzelanwalt nicht zugänglich sei. Diesem Argument kommt insofern auch verfassungsrechtlich Bedeutung zu, als die Bestenauslese nur dann voll gewährleistet ist, wenn nicht auf der Ebene der Anwaltstätigkeit bereits eine Vorselektion stattfindet. Diesem Umstand darf ein Auswahlverfahren entgegenwirken, um im Notariat eine das Leistungsprinzip unterlaufende Kooptation zu verhindern. Die Unterbewertung praktischer Erfahrung bis zum völligen Verzicht auf Praxis ist jedoch insoweit kein geeigneter Weg, weil er die fachliche Berufserfahrung, also ein wesentliches Merkmal für die Eignungsprognose, fast vollständig entwertet. Ebenso wie im Nur-Notariat dere inzelne Notar dem ihm zur Ausbildung zugewiesenen Notarassessor Gelegenheit zur praktischen Bewährung bieten muss (vgl § 7 Abs.3 Satz 2, Abs.5 Satz 1 BNotO),könnten auch Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass Anwälten, die nach ihrer allgemeinen Befähigung, ihrer anwaltlichen Berufserfahrung und den bereits gezeigten Erfolgen in der theoretischen Weiterbildung hierfür in Betracht kommen, Gelegenheit zur praktischen Bewährung, insbesondere zu Vertretungen, gegeben wird. Das Ziel der Bewerberauswahl ist ebenso wie im Nur-Notariat auch im Anwaltsnotariat die Bestenauslese. Deshalb müssen die Auswahlvorkehrungen geeignet sein, auf der Basis einer amtsangemessenen allgemeinen juristischen Befähigung die fachlich besten Bewerber zu ermitteln. Allein dieses Ziel rechtfertigt die Einschränkungen beim Berufszugang.

105

5. Dem werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

106

a) Welche spezifischen notariellen Kenntnisse und Fähigkeiten der Beschwerdeführer zu I.inzwischen aufzuweisen hat, lässt sich dem Ausgangsverfahren nicht zuverlässig entnehmen. Hinsichtlich der Allgemeinbefähigung übertrifft der Beschwerdeführer nach der vor 20 Jahren erzielten Bewertung im Zweiten Staatsexamen von 6,55 Punkten die Mindestnote (ausreichend) nur wenig. Dasselbe gilt allerdings für die jeweils erfolgreichen Mitbewerber, die mit 7,40 Punkten (Verfahren 1 BvR 838/01) und 7,10 Punkten (Verfahren 1 BvR 1303/01) ebenfalls im unteren Drittel des befriedigend abgeschnitten haben. Signifikante Unterschiede lassen sich hieraus nicht ableiten. Wie lange die jeweiligen Prüfungsleistungen zurückliegen, ist ebenso wenig bekannt wie der jeweilige Schwerpunkt der anwaltlichen Berufstätigkeit, die je nach Ausrichtung "notarnäher" oder "notarferner" sein kann, worauf die Bundesrechtsanwaltskammer überzeugend hingewiesen hat.

107

Eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Auswahl wird die für den Notarberuf wesentlichen Eigenschaften, also die fachliche Eignung der Bewerber, ebenso differenziert zu bewerten haben wie die von ihnen in der Vorbereitung auf das angestrebte Amt gezeigten theoretischen und praktischen Kenntnisse. Solange weder die erworbenen theoretischen Kenntnisse der Bewerber um ein Anwaltsnotariat noch deren praktische Erfahrungen, insbesondere bei den Beurkundungen, bewertet sind, wird in Abwägung zu den weiterhin berücksichtigungsfähigen Leistungen aus der die Ausbildung abschließenden Prüfung eine individuelle Prognose über die Eignung des Bewerbers im weiteren Sinne zu treffen sein. Dabei kommt den beiden genannten spezifischen Eignungskriterien im Verhältnis zur Anwaltspraxis und dem Ergebnis des Staatsexamens eigenständiges Gewicht zu.

108

Es ist nicht auszuschließen, dass der Beschwerdeführer bei einer solchen Neubewertung Erfolg haben kann. Das wird vor allem davon abhängen, ob die Konkurrenten im engeren Sinne im notarspezifischen Bereich besser oder schlechter als der Beschwerdeführer abschneiden. Zur Beantwortung dieser Frage und der weiteren bisher nicht geklärten Fragen werden die den Beschwerdeführer zu I.betreffenden Sachen gemäß § 95 Abs.2 BVerfGG unter Aufhebung der angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

109

b) Auch die Verfassungsbeschwerde des 0eschwerdeführers zu III hat Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs stehen mit Art.12 Abs.1 GG schon deshalb nicht in Einklang, weil sie die Vergabe von Sonderpunkten für solche Rechtsanwälte verweigern, die dauerhaft als ständige Vertreter eines Notars tätig sind.

110

Der Beschwerdeführer hat mit seiner Notariatsvertretung seit 1988, die er beanstandungsfrei bewältigt hat, bewiesen, dass er als Notar geeignet ist. Schon zu dem Zeitpunkt, als ihn die Justizverwaltung zum Vertreter bestellte, musste sie nach § 39 Abs.3 Satz 1 BNotO von seiner Eignung und Fähigkeit überzeugt sein, das Amt des Notars zu bekleiden. Die Eignungsprognose ist letztlich mit insgesamt drei Notargeschäftsprüfungen in den Jahren 1990, 1994 und 1998 sowie einer Prüfung der Verwahrungsgeschäfte im Jahr 1995 bestätigt worden. Die Prüfungen haben beim Beschwerdeführer zu keinerlei Beanstandungen geführt.

111

Die in den angegriffenen Entscheidungen zum Ausdruck kommende Auffassung, die im hessischen Runderlass vorgenommene Höchstbewertung von 20 Punkten für Urkundsgeschäfte schließe Sonderpunkte für ständige Notarvertretungen aus, steht mit einer dem Maßstab des Art.12 Abs.1 GG entsprechenden Bewerberauswahl nicht in Einklang. Sie verfehlt zudem die Grundsätze der Bestenauslese gemäß Art.33 Abs.2 GG. Überzeugend weisen die Niedersächsische Staatskanzlei, die Bundesnotarkammer, der Deutsche Notarverein und der DeutscheA nwaltVerein darauf hin, dass die ständige Vertretung eines Notars neben der reinen Beurkundungstätigkeit eine Vielzahl von weiteren Aufgaben umfasst, insbesondere die unparteiische Beratung der Rechtsuchenden, das selbständige Aufsetzen von Urkunden sowie die Durchführung der beurkundenden Geschäfte. Eine solche Vertretung ist - je länger sie dauert, umso stärker - vielseitig und steht der vollen Ausübung des Amts des Notars gleich. Nicht zuletzt deshalb wird schon bisher eine Notartätigkeit an einem anderen Ort bei der Bewerbung um einen neuen Notarsitz mit Sonderpunkten belegt.

112

Das Ziel der Gewährleistung eines chancengleichen Zugangs zum Notaramt rechtfertigt es nicht, unbestritten erworbene Qualifikationen außer Betracht zu lassen. Sofern bei der Bestellung des Beschwerdeführers zum ständigen Vertreter dess einer Sozietät angehörenden Notars Auswahlfehler vorgekommen sein sollten (etwa im Hinblick auf die Examensnote des Beschwerdeführers), können diese die danach gezeigte Bewährung und Befähigung für das Amt des Notars nicht in Frage stellen. Die Bewährungschance, die sich für den Beschwerdeführer zu III durch mehr als zehnjährige Notariatspraxis eröffnet hat, ist jedenfalls nicht allein Folge einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sozietät. Sie wurde durch die hoheitliche Tätigkeit der Aufsichtsbehörde bei seiner Bestellung als Vertreter geschaffen. Ob auch bei der Vertreterbestellung für alle Bewerber ein chancenwahrendes Verfahren eingehalten werden müsste, ist im vorliegenden Fall nicht Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung. Die der Praxis der Hessischen Justizverwaltung entsprechende Vergabe von fünf Sonderpunkten für die langjährige ständige Vertretung war jedenfalls rechtmäßig. Die den Bescheid aufhebenden, mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs haben daher keinen Bestand."

 

Auszug aus BVerfG U, 20.04.04, - 1_BvR_838/01 -, www.BVerfG.de,  Abs.61

§§§

04.029 Fax-Berufung

  1. BVerfG,     B, 26.04.04,     – 1_BvR_1819/00 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.19 Abs.4, GG_Art.103 Abs.1; ZPO_§_85, ZPO_§_233

  4. Berufung mittels Fax / Unterschrift / Wiedereinsetzung.

T-04-12

Zur Wiedereinsetzung bei Berufung mittels Fax, ohne Unterschrift des Rechtsanwaltes.

* * *

T-04-12Wiedereinsetzung + Art.19 Abs.4

6

"Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs.1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG statt.

7

1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art.19 Abs.4 und Art.103 Abs.1 GG angezeigt (§ 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl BVerfGE_40,88 <91>; BVerfGE_67,208 <211 f>; BVerGE_79,372 <376>).

8

2. Die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages und die Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art.19 Abs.4 und Art.103 Abs.1 GG.

9

a) Der in Art.19 Abs.4 GG verankerte Justizgewähranspruch umfasst das Recht auf Zugang zu den Gerichten und eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter (vgl BVerfGE_54,277 <291> ). Der Rechtsweg darf weder ausgeschlossen noch in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art.19 Abs.4 GG dem Bürger in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl BVerfGE_40,272 <274 f>; BVerfGE_54,94 <96 f> ). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen (vgl BVerfGE_78,88 <99> ). Nach Art.103 Abs.1 GG hat der Bürger ferner das Recht, sich im gerichtlichen Verfahren zu äußern und in diesem Sinne vom Richter zur Sache gehört zu werden.

10

Die Fachgerichte haben diese einander ergänzenden verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien, unbeschadet ihrer grundsätzlichen Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des einfachen Verfahrensrechts, bei ihren Entscheidungen zu beachten (vgl BVerfGE_42,128 <130 f>; BVerfGE_44,302 <306> ). Dementsprechend dürfen sie bei der Anwendung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozessrechtlichen Vorschriften die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen (vgl BVerfGE_40,88 <91>; BVerfGE_67,208 <212 f> ). Nach diesen Maßstäben widerspricht es rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung, dem rechtsuchenden Bürger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten seines Anwalts zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen er auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Spruchkörpers nicht rechnen musste (vgl BVerfGE_79,372 <376>).

11

Nach gefestigter, höchstrichterlicher Rechtsprechung darf ein Anwalt einfache Verrichtungen, die keine juristische Schulung verlangen, zur selbstständigen Erledigung seinem geschulten und zuverlässigen Büropersonal übertragen. Versehen dieses Personals, die nicht auf eigenes Verschulden des Anwalts zurückzuführen sind, hat die Partei nicht zu vertreten. Eine solch einfache Tätigkeit ist auch die Überprüfung bestimmter Schriftsätze auf die erforderliche Unterschrift sowie das Absenden eines Fax. Der Anwalt muss allerdings durch eine allgemeine Anweisung Vorsorge dafür getroffen haben, dass bei normalem Lauf der Dinge Fristversäumnisse wegen fehlender Unterschrift vermieden werden.

12

b) Diesen Anforderungen an die Sorgfaltspflicht ist der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers gerecht geworden. Insoweit genügt die angegriffene Entscheidung nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, die die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 233, 85 Abs.2 ZPO zu beachten haben. Aufgrund seiner regelmäßigen Anweisungen, sämtliche ausgehenden Schriftsätze vor der Absendung auf das Vorhandensein der Unterschrift zu überprüfen, hat der Prozessbevollmächtigte darauf vertrauen dürfen, seine Sorgfaltspflichten erfüllt zu haben. Diese Anweisungen hat er mit seinem Vermerk über die Eilbedürftigkeit der Berufungsbegründung auch nicht außer Vollzug gesetzt. Schließlich kann ihm als Verschulden nicht angelastet werden, er hätte sich erinnern müssen, die Berufungsbegründungsschrift nicht unterschrieben zu haben. Das Gericht hat dabei einen Sachverhalt unterstellt, der sich weder aus dem Sachvortrag noch aus dem zeitlichen Zusammenhang ergibt. Da das unterschriebene Original der Berufungsbegründung nur zwei Tage nach dem Fax auf dem Postweg beim Gericht eingegangen ist, kann ebenso davon ausgegangen werden, dass der Prozessbevollmächtigte das Original zwar unterschrieben hatte, entgegen seiner Anweisung aber ein nicht unterschriebenes Doppel per Fax abgesandt worden ist.

13

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei Beachtung der Art.19 Abs.4 und Art.103 Abs.1 GG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre."

 

Auszug aus BVerfG B, 26.04.04, - 1_BvR_1819/00 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.14 ff

§§§

04.030 Wiedereinsetzung

  1. BVerfG,     B, 04.05.04,     – 1_BvR_1892/03 –

  2. BVerfGE_110,339 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.19 Abs.4; VwGO_§_124a Abs.5 S.5

  4. Fristversäumnis / Fehler des Gerichts / faires Verfahren / Wiedereinsetzung

T-04-13

Zu den Anforderungen des Grundsatzes eines fairen Verfahrens bei der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Fällen, in denen die Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts beruht.

 

LB 2) Zur Abweichenden Meinung der Richterin Haas, siehe BVerfGE_110,346 = www.BVerfG.de, Abs.23 ff.

* * *

T-04-13Fehler des Gerichts

9

"Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein faires Verfahren aus Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie in ihrem Justizgewährungsanspruch aus Art.19 Abs.4 GG.

10

1. Das aus Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.20 Abs.3 GG als allgemeinem Prozessgrundrecht folgende Recht auf ein faires Verfahren (vgl BVerfGE_38,105 <111>; BVerfGE_57,250 <274 f>) hat für ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren grundlegende Bedeutung (vgl auch Art.6 EMRK und Art.47 Abs.2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union). Aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgt unter anderem, dass das Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten darf (vgl BVerfGE_78,123 <126>).

11

Der in Art.19 Abs.4 GG verankerte Justizgewährungsanspruch gegen Akte der öffentlichen Gewalt überlässt zwar die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtsweges der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren (vgl BVerfGE_44,302 <305>; BVerfGE_52,203 <207>; BVerfGE_69,381 <385>). Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl BVerfGE_40,88 <91>; BVerfGE_67,208 <212 f>). Beruht eine Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts, sind die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung mit besonderer Fairness zu handhaben.

12

2. Diese Grundsätze werden durch die angegriffene Entscheidung verletzt. Sowohl Verwaltungsgericht als auch Verwaltungsgerichtshof haben im Verfahren Fehler begangen. Sie haben der Beschwerdeführerin nicht nur missverständliche, sondern falsche Hinweise gegeben.

13

a) Das Verwaltungsgericht forderte die Beschwerdeführerin auf, künftige Schriftsätze an den Verwaltungsgerichtshof zu richten, und übermittelte ihr die Abschrift eines Schreibens an den Verwaltungsgerichtshof, mit dem das Verwaltungsgericht den Verwaltungsgerichtshof über den Eingang des Antrages auf Zulassung der Berufung informierte und die Akten nebst Anlagen und Überstücken an den Verwaltungsgerichtshof übersandte. Alle Unterlagen, die für den Prozess von Bedeutung sein können, waren damit schon beim Berufungsgericht, obwohl erst nach der noch beim Verwaltungsgericht einzureichenden Begründung die Abgabe an die zweite Instanz ansteht. Das Schreiben des Verwaltungsgerichts war kein bloßes Versehen der Geschäftsstelle, sondern beruhte auf richterlicher Anordnung. Es war auch nicht mehrdeutig. Als künftiger Schriftsatz kam in diesem Verfahrensstand nur die - bereits angekündigte - Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung in Betracht. Diese ist jedoch gemäß § 124a Abs.4 Satz 5 VwGO bei dem Verwaltungsgericht und gerade nicht bei dem Verwaltungsgerichtshof einzureichen.

14

b) Der Verwaltungsgerichtshof bestätigte der Beschwerdeführerin den Eingang der Akten und des Zulassungsantrags. Außerdem wurde bei der Beschwerdeführerin angefragt, ob sie mit einer Streitentscheidung durch den Vorsitzenden gemäß § 87a Abs.2 und 3 VwGO einverstanden sei. Der Hinweis über die Einreichung künftiger Schriftsätze enthielt zudem die Worte "unmittelbar hier". Insgesamt lässt sich das Schreiben des Verwaltungsgerichtshofs im Berufungszulassungsverfahren, bei dem es nach Stellung des Antrags auf Zulassung der Berufung im Wesentlichen nur um einen einzigen Schriftsatz, nämlich die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung geht, nicht anders auslegen, als dass das Verfahren nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof anhängig ist und alle Schriftsätze dorthin gerichtet werden sollen. Auch in diesem Schreiben konnten die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin nicht lediglich ein Versehen der Geschäftsstelle sehen. Das Schreiben ist vom Vorsitzenden des zuständigen Senats unterschrieben und enthielt mit der Anfrage nach § 87a VwGO auch Elemente, die eine inhaltliche richterliche Befassung mit dem Gegenstand voraussetzen.

15

3. Die Einreichung der Begründung zum Berufungszulassungsantrag direkt beim Verwaltungsgerichtshof durch die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin wurde daher unmittelbar durch die unzutreffenden Hinweise beider Gerichte veranlasst.

16

Allerdings widerspricht das Vorgehen der Prozessbevollmächtigten dem Wortlaut der Vorschrift des § 124a Abs.4 Satz 5 VwGO, die den Prozessbevollmächtigten bekannt sein musste. Auch die Rechtsmittelbelehrung verlangte dem Gesetz entsprechend die Einreichung der Begründung beim Verwaltungsgericht. Grundsätzlich darf sich ein Prozessbevollmächtigter bei einer klaren Rechtslage nicht auf eine falsche Auskunft des Gerichts verlassen. Im vorliegenden Fall sind die Hinweise gleich zweier Gerichte jedoch so eindeutig und in Form eines Schreibens des Senatsvorsitzenden so gewichtig, dass bei den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin der Eindruck entstehen musste, sie bräuchten sich nicht nach der Rechtslage und der Belehrung zu richten.

17

Dass die Prozessbevollmächtigten diesen Hinweisen folgten, lag auch deshalb nahe, weil der Rechtsuchende im Falle des § 124a Abs.4 Satz 5 VwGO mit einer zwar sprachlich eindeutigen, aber der Sache nach nicht ohne weiteres nachvollziehbaren gesetzlichen Regelung konfrontiert ist. Da das Gesetz eine Abhilfemöglichkeit durch das Verwaltungsgericht nicht vorsieht und der Rechtsstreit nach verbreiteter Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (vgl die Nachweise bei Roth, NVwZ 2003, S.1189 <1190 Fn.17>) mit Stellung des Zulassungsantrags beim Verwaltungsgerichtshof anhängig ist, ist es wenig einsichtig, dass die Begründung beim Verwaltungsgericht eingereicht werden muss. Inzwischen hat auch der Gesetzgeber beschlossen, die Regelung zu ändern; er sieht künftig die Einreichung der Begründung beim Oberverwaltungsgericht vor (Art.6 Nr.2 a des Ersten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz ). Die Gesetzesmaterialien zur noch geltenden Fassung enthalten zu Absatz 4 keine Begründung (BTDrucks 14/6393, S.13 ). Im Anschluss an die Begründung einer erfolglosen Anregung des Bundesrates, bei zugelassener Berufung die Berufungsbegründung ebenfalls beim Verwaltungsgericht einzureichen (BTDrucks 14/6854, S.5 Nr.13), wird in der Rechtsprechung der Sinn von § 124a Abs.4 Satz 5 VwGO darin gesehen, die Akten bis zur Fertigstellung der Begründung zur Erleichterung der Akteneinsicht beim - typischerweise für den Rechtsuchenden näheren - Verwaltungsgericht zu belassen (vgl VGH Baden-Württemberg, NVwZ-RR 2003, S.156 <157>; OVG Nordrhein-Westfalen, NVwZ 2003, S.1279; vgl auch BVerfG, 3.Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 3.März 2003 - 1 BvR 310/03 -, NVwZ 2003, S.728 <729>). Damit ist es schwer zu vereinbaren, wenn die Akten wie im vorliegenden Fall formularmäßig schon mit Antragseingang an das Berufungsgericht weiter geleitet werden. Jedenfalls musste der Hinweis auf die Aktenweiterleitung die Prozessbevollmächtigten zusätzlich in der Vorstellung bestärken, dass sie von nun an nur noch mit dem Verwaltungsgerichtshof zu verkehren haben.

18

In dieser Situation durften die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin davon ausgehen, dass die Gerichte sich zu einer pragmatischen Handhabung entschlossen hatten. Unter diesen besonderen Umständen kann ihnen auch ausnahmsweise aus der Nichtbeachtung des Wortlauts von Gesetz und Rechtsmittelbelehrung kein Vorwurf gemacht werden. Die schwer nachvollziehbare Gesetzeslage verstärkt hier die Fürsorgepflicht der Gerichte. Sie müssen es vermeiden, durch eigenes Verhalten zusätzliche Verwirrung zu stiften. Das kann nur gelingen, wenn sie die Handhabung der Eingangsbestätigung und Aktenversendung genau an der Rechtslage ausrichten, die für die Rechtsmittelführer gilt.

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4. Die Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin haben die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfüllt. Sie haben rechtzeitig nach der Belehrung über die Fristversäumung die Begründungsschrift beim Verwaltungsgericht eingereicht und rechtzeitig die Wiedereinsetzung beantragt.

20

Unter diesen Umständen kann die Zurückweisung des Antrags der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keinen Bestand haben."

 

Auszug aus BVerfG B, 04.05.04, - 1_BvR_1892/03 -, www.BVerfG.de,  Abs.9 ff

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