2005  
  2004           2006 [ ‹ ]
05.001 Jahresgrenzbetrag
 
  • BVerfG,     U, 11.01.05,     – 2_BvR_167/02 –

  • BVerfGE_112,153 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.3 Abs.1; EStG_§_32 Abs.4 S.2

 

Die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs.4 Satz 2 EStG zu Lasten der unterhaltsverpflichteten Eltern verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG.

§§§

05.002 Geldwäscheverdacht
 
  • BVerfG,     B, 14.01.05,     – 2_BvR_1975/03 –

  • = www.BVerfG.de

  • GG_§_12 Abs.1, GG_Art.13 Abs.1, GG_Art.13 Abs.2; StGB_§_261 Abs.2 Nr.1

 

LB 1) Das Risiko, sich durch die Entgegennahme eines Honorars oder Honorarvorschusses im Rahmen eines Wahlmandats wegen Geldwäsche strafbar zu machen, gefährdet das Recht des Strafverteidigers, seine berufliche Leistung in angemessenem Umfang wirtschaftlich zu verwerten.

 

LB 2) Der durch die Strafnorm des § 261 Abs.2 Nr.1 StGB bewirkte Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Strafverteidiger - und in die Institution der Wahlverteidigung - bedarf im Hinblick auf den ansonsten verletzten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer verfassungskonformen Reduktion und ist deshalb verfassungsrechtlich nur dann gerechtfertigt, wenn der Strafverteidiger im Zeitpunkt der Entgegennahme des Honorars - oder des Honorarvorschusses - sicher weiß, dass dieses aus einer Katalogtat herrührt.

 

LB 3) Da die Strafvorschrift ein sozial unauffälliges Handeln pönalisiert, hat im vorliegenden Zusammenhang die Verwirklichung des objektiven Tatbestands nur wenig Aussagekraft. Den Beweisschwierigkeiten hinsichtlich der inneren Tatseite ist Rechnung zu tragen.

 

LB 4) Ein Anfangsverdacht setzt auf Tatsachen beruhende, greifbare Anhaltspunkte für die Annahme voraus, dass der Strafverteidiger zum Zeitpunkt der Honorarannahme bösgläubig war. Indikatoren für die subjektive Tatseite können beispielsweise in der außergewöhnlichen Höhe des Honorars oder in der Art und Weise der Erfüllung der Honorarforderung gefunden werden.

 

LB 5) Berührt eine gerichtliche Entscheidung - wie hier - die Freiheit der Berufsausübung, so steht sie mit Art.12 Abs.1 GG aber nur dann in Einklang, wenn die Norm, auf der die Entscheidung beruht, verfassungsgemäß ist und wenn die angegriffene Entscheidung auch im Übrigen erkennen lässt, dass sie auf die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte Bedacht genommen und die materiellen und prozessualen Normen im Lichte der betroffenen Grundrechte ausgelegt und angewendet hat.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Die Beschlüsse des Landgerichts Hannover vom 24.September 2003 - 40 Qs 130/03 - und des Amtsgerichts Hannover vom 5.Juni 2003 - 272 Gs 2372/03 - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 13 Absatz 1 und 2 sowie Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Hannover zurückgewiesen.

§§§

05.003 Gewerbesteuer
 
  • BVerfG,     B, 25.01.05,     – 2_BvR_2185/04 –

  • BVerfGE_112,216 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.28 Abs.2 S.1 +3; GG_Art.72 Abs.2, GG_Art.105 Abs.2, GG_Art.106 Abs.6 S.1 + 4; GewStG_§_16 Abs.4 S.2; BVerfGG_§_32

T-05-01

LB 1) Nach dem BVerfG ist es zur Zeit eine ungeklärte Rechtsfrage, ob eine Gemeinde auf die Erhebung der Gewerbesteuer verzichten kann.

Abs.24

LB 2) Der Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde bei dem offenen Hauptsacheverfahren auf Grund einer Folgenabwägung abgelehnt.

* * *

T-05-01Verzicht auf Erhebung

17

"1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Beschwerdeführerin ist von der angegriffenen Regelung gegenwärtig betroffen. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1.Januar 2004 ist sie verpflichtet, Gewerbesteuer nach einem Mindesthebesatz zu erheben; der Verzicht auf die Gewerbesteuer oder die Steuererhebung nach einem niedrigeren Hebesatz sind ihr seitdem verwehrt. Auf die finanziellen Folgen, die die Bundesregierung für maßgeblich hält und die nach ihrer Auffassung erst ab 2006 zu erwarten sind, kommt es für eine mögliche Verletzung des Rechts auf gemeindliche Selbstverwaltung nicht an.

18

2. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet.

19

a) Zunächst wird in der Hauptsache die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes zu prüfen sein. Auf eine Überschreitung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes kann eine Kommunalverfassungsbeschwerde gestützt werden, denn kompetenzwidrige Eingriffe in die Selbstverwaltung müssen die Kommunen nicht hinnehmen (vgl BVerfGE_56,298 <310> ). Das Gesetzgebungsrecht des Bundes in Bezug auf die Gewerbesteuer hängt davon ab, ob die Voraussetzungen des Art.72 Abs.2 GG erfüllt sind. Die Gewerbesteuer ist eine der "übrigen Steuern" (Art.105 Abs.2 GG), und ihr Aufkommen steht allein den Gemeinden zu (Art.106 Abs.6 Satz 1 GG). Die nach Art.106 Abs.6 Satz 4 GG mögliche und auch tatsächlich erhobene Gewerbesteuerumlage führt nicht dazu, dass das Aufkommen der Steuer teilweise dem Bund zustünde, sodass seine Gesetzgebungskompetenz von den Voraussetzungen des Art.72 Abs.2 GG gelöst wäre (Art.105 Abs.2 GG). Denn die Umlage begründet keine eigene Ertragskompetenz der Umlageberechtigten, sondern nur einen Anspruch gegen den Inhaber der Ertragshoheit, die Gemeinden (Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 10.Aufl 2004, Art.106 Rn.20; Siekmann, in: Sachs, GG, 3.Aufl 2003, Art.106 Rn.31; Heun, in: Dreier, GG, 2000, Art.106 Rn.38).

20

Die Befugnis des Bundes zur Regelung der Gewerbesteuer hängt deshalb vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art.72 Abs.2 GG ab (Vogel/Walter, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, BK-GG, Loseblatt , Art.105 Rn.81, 83; Heun, aaO, Art.105 Rn.35). Die Frage, ob sich die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Gewerbesteuer aus Art.105 Abs.2 GG in Verbindung mit Art.72 Abs.2 GG auch auf die Anordnung einer Untergrenze des Hebesatzes und damit auf den Zwang zur Erhebung der Gewerbesteuer erstreckt, ist nicht geklärt und bedarf näherer Prüfung im Hauptsacheverfahren.

21

b) Wenn der Bund zur Gesetzgebung befugt war, wird zu klären sein, ob das Recht auf Selbstverwaltung (Art.28 Abs.2 Sätze 1 und 3 GG) die Befugnis umfasst, ohne gesetzliche Vorgaben allein entscheiden zu können, ob Gemeindesteuern überhaupt erhoben werden sollen. Das "Hebesatzrecht" wird zu den Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung gezählt, die von der Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst wird. Art.28 Abs.2 Satz 3 GG könnte eine neben der Finanzhoheit bestehende "Hebesatzhoheit" begründen, die das Recht umfasst, über die Steuererhebung selbst zu entscheiden. Wenn die "Hebesatzhoheit" zum Kernbereich der Selbstverwaltung gehören sollte, könnte das Recht, den Hebesatz festzusetzen, von Vorgaben des Gesetzgebers freizuhalten sein. Wäre nur der Randbereich betroffen, dann könnten Gründe des Gemeinwohls Eingriffe rechtfertigen.

22

Für eine weitgehende Autonomie bei der Festsetzung der Hebesätze und damit bei der Entscheidung, ob die Steuer überhaupt erhoben werden soll, könnte der Umstand sprechen, dass es sich bei der Gewerbesteuer um eine Gemeindesteuer handelt (Art.106 Abs.6 Satz 1 GG). Ob die Gemeinde diese in ihrer Ertragshoheit stehende Steuer zu ihrer Finanzausstattung benötigt, könnte ihrer eigenen, autonomen Entscheidung unterliegen. Andererseits wird die Bedeutung des Art.106 Abs.6 Satz 2 GG zu prüfen sein, der das Recht, Hebesätze festzusetzen, in den "Rahmen der Gesetze" stellt.

23

Diese mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen lassen sich weder anhand verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung noch mit Hilfe von Stellungnahmen des rechtswissenschaftlichen Schrifttums ohne weiteres beantworten.

24

Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist über den Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Grund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese führt zur Ablehnung des Antrags.

25

1. Die Nachteile, die dem gemeinen Wohl drohen, wenn die einstweilige Anordnung nicht ergeht, die gesetzliche Bestimmung eines Mindesthebesatzes für die Gewerbesteuer sich aber später im Hauptsacheverfahren als verfassungswidrig und nichtig erweist, überwiegen nicht hinreichend deutlich diejenigen Nachteile, die entstünden, wenn die beantragte einstweilige Anordnung erginge, sich die angegriffene Regelung aber später als verfassungsgemäß herausstellen würde. Die der Beschwerdeführerin auf Grund der angegriffenen Regelung drohenden Nachteile können teilweise auch durch eine einstweilige Anordnung nicht beseitigt und andernteils von den betroffenen Gemeinden selbst durch verfahrensrechtliche Maßnahmen gemildert werden.

26

a) Die Pflicht, Gewerbesteuer zu erheben, würde bei Nichterlass einer einstweiligen Anordnung zunächst bis zur Hauptsacheentscheidung weiter gelten. Dann würde sie, wenn eine Nichtigerklärung ergehen sollte mit Rückwirkung, wieder entfallen.

28

Gewerbebetriebe könnten sich im Hinblick auf die Erhebung der Gewerbesteuer veranlasst sehen, ihre Standortentscheidung zu überprüfen, da der Vorteil einer Ansiedlung durch die gesetzlich angeordnete Gewerbesteuererhebungspflicht weggefallen ist. Sie könnten deshalb ihr Gewerbe an attraktivere Standorte in Deutschland oder ins Ausland verlagern. Dadurch könnte den betroffenen Gemeinden ein bleibender Schaden entstehen, wenn die Gewerbebetriebe nicht später wieder zurückkehren.

29

Die Veränderung im Unternehmensbestand kann damit vorübergehende, aber auch dauerhaft weit reichende Auswirkungen auf die Finanzausstattung der Gemeinden haben.

30

b) Die Einführung der Gewerbesteuererhebungspflicht nach Mindesthebesätzen ab dem Erhebungsjahr 2004 und die Rückkehr zu der Möglichkeit, auf die Steuererhebung zu verzichten, nach einer möglichen stattgebenden Hauptsacheentscheidung berührt die Dispositionssicherheit sowohl der Gemeinden als auch der steuerpflichtigen Unternehmer.

31

Die Gemeinden, die bislang auf die Erhebung der Gewerbesteuer verzichtet haben und an dieser Entscheidung auch festhalten wollen, müssten nach dem sich aus dem Bundesrecht ergebenden Mindesthebesatz mit der Steuererhebung beginnen. Der dafür erforderliche Einsatz von Verwaltungskraft würde schon nach kurzer Zeit wieder entbehrlich, wenn die Steuer nach einer Nichtigerklärung des angegriffenen Gesetzes zurückzuzahlen und künftig wiederum keine Steuer zu erheben wäre.

32

c) Eine einstweilige Anordnung, mit der der Vollzug der Pflicht, die Gewerbesteuer nach einem Mindesthebesatz zu erheben, bis zur Entscheidung über die Hauptsache nur ausgesetzt würde, könnte die Nachteile im Wesentlichen nicht beseitigen. Wenn sich nach der Aussetzung des Vollzugs die angegriffene Regelung als verfassungsgemäß erweist, dann müsste die Steuer auch für den Zeitraum der Geltung der einstweiligen Anordnung erhoben werden. Die Gemeinden könnten lediglich in der Übergangszeit auf die Steuererhebung verzichten und damit von zusätzlichem Sach- und Personaleinsatz absehen.

33

Die betroffenen Unternehmer könnten aber auch bei Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht mit der Steuerfreiheit rechnen und ihre Planungsentscheidungen nicht an der Erwartung ausrichten, die Steuer werde für die Übergangszeit nicht zu zahlen sein. Diese Sicherheit kann nicht eine einstweilige Anordnung, sondern erst eine die Nichtigkeit der angegriffenen Regelung aussprechende Hauptsacheentscheidung herbeiführen. Die Gewerbesteuer müsste zwar zunächst nicht gezahlt werden, Bilanz und Kalkulation wären aber mit zu bildenden Rückstellungen (§ 249 HGB) belastet.

34

d) Um sicherzustellen, dass die bis zur Entscheidung über die Hauptsache erhobene Steuer zurückgezahlt wird, wenn sich das angegriffene Gesetz als nichtig erweist, bedarf es der einstweiligen Anordnung nicht. Die Gemeinden können die Wirkung von § 95 Abs.3 Satz 3, § 79 Abs.2 BVerfGG durch eigene Maßnahmen verhindern.

35

Die Gemeinden brauchen auch nach der angegriffenen Regelung einen Hebesatz nicht festzusetzen. Liegt ihre Festsetzung darunter oder verzichten sie unter Berufung auf ihre Finanzautonomie gänzlich auf eine Hebesatzregelung, so gilt kraft des angegriffenen § 16 Abs.4 Satz 2 GewStG ein Hebesatz von 200 vH Die darauf beruhende Steuer kann nach § 1 Abs.2 Nr.3, § 165 Abs.1 Satz 2 Nr.3 AO vorläufig festgesetzt werden. Entfällt § 16 Abs.4 Satz 2 GewStG rückwirkend, so gilt die abweichende Hebesatzfestsetzung oder der Verzicht auf Gewerbesteuer durch die Gemeinde, und sie kann die Steuerfestsetzung aufheben oder ändern (§ 1 Abs.2 Nr.3, § 165 Abs.2 Satz 1 AO).

36

2. Die Nachteile, die bei unterstellter Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelung mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden wären, wiegen wenigstens ebenso schwer wie jene im Fall des Nichtergehens einer einstweiligen Anordnung.

37

Wenn der Vollzug des angegriffenen Gesetzes ausgesetzt würde, die Verfassungsbeschwerde aber erfolglos bliebe, dann könnte Gewerbesteuer zunächst nicht erhoben werden.

38

Der aus einer Anwendung des Gesetzes folgende Anstieg der dem Bund und den Ländern zufließenden Gewerbesteuerumlage (§ 6 GFRG) bliebe zunächst aus. Die mit der angegriffenen Gesetzesänderung verbundene Einnahmeerwartung würde erhalten bleiben. Der Anstieg der Umlage würde aufgeschoben; denn sie wäre auch aus der nacherhobenen Steuer abzuführen. Zu bleibenden Umlageausfällen käme es zwar nicht, wenn sich die Gewerbesteuererhebungspflicht als verfassungsgemäß erweisen sollte. Auf kurzfristig eintretende Einnahmeverbesserungen müssten Bund und Länder allerdings verzichten. Darin läge ein aktueller und spürbarer Nachteil für deren Haushalte.

39

Das Anliegen des Gesetzgebers, das Ausweichen von Steuerpflichtigen in Gemeinden mit niedriger oder ganz fehlender Gewerbesteuer zu verhindern, würde durch einen Aufschub der Anwendung des Gesetzes jedenfalls vorübergehend entwertet. Das eingesetzte Mittel der Gewerbesteuererhebungspflicht nach Mindesthebesätzen könnte seine Wirkung erst später entfalten, wenn sich das angegriffene Gesetz als verfassungsgemäß erweist.

40

3. Die mit der Ablehnung einer einstweiligen Anordnung verbundenen Nachteile überwiegen die mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Nachteile nicht so deutlich, dass sie den Eingriff in vom Parlament gesetztes Recht unabdingbar erscheinen lassen."

 

Auszug aus BVerfG B, 25.01.05, - 2_BvR_2185/04 -,www.BVerfG.de,  Abs.17 ff

§§§

05.004 Urkundeninhalt
 
  • BVerfG,     B, 25.01.05,     – 2_BvR_656/99 –

  • BVerfGE_112,185 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.19 Abs.4, GG_Art.20 Abs.3; StPO_§_344 Abs.2 S.2, StPO_§_261

 

1) Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn das Revisionsgericht für eine den Anforderungen des § 344 Abs.2 Satz 2 StPO genügende Rüge der Verwertung des Inhalts einer in der Hauptverhandlung nicht verlesenen Urkunde (§ 261 StPO) regelmäßig den Vortrag fordert, dass der Urkundeninhalt auch nicht in sonstiger prozessordnungsgemäßer Weise in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist.

 

2) Hingegen überspannt das Revisionsgericht die Zulässigkeitsanforderungen, wenn es die Mitteilung von Tatsachen fordert, denen kein über den Revisionsvortrag hinausgehender Bedeutungsgehalt zukommt, weil sie etwa mit dem Vorgang der Beweisgewinnung in der Hauptverhandlung in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen.

§§§

05.005 Hochschulgebühren
 
  • BVerfG,     U, 26.01.05,     – 2_BvF_1/03 –

  • BVerfGE_112,226 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.72 Abs.2, GG_Art.75 Abs.1 S.1 Nr.1a

T-05-02

Dem Bund ist es gemäß Art.75 Abs.1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art.72 Abs.2 GG gegenwärtig verwehrt, die Gesetzgebung der Länder durch Rahmenvorschriften auf den Grundsatz der Gebührenfreiheit des Studiums und zur Bildung verfasster Studierendenschaften an den Hochschulen zu verpflichten.

Abs.62

LB 2) Zur Rahmenkompetenz des Bundes: Grundsätze des Hochschulwesens

Abs.66

LB 3) Zu dem Begriff Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse.

Abs.80

LB 4) Zu dem Begriff Wahrung der Wirtschaftseinheit.

Abs.83

LB 5) Zu dem Begriff der Wahrung der Rechtseinheit.

Abs.84

LB 6) Zu dem Gesetzgebungsrecht des Bundes aus Art.125a GG.

Abs.93

LB 7) Zum Prüfungsumfang eines Normenkontrollantrages.

* * *

T-05-02Rahmenkompetenz: Grundsätze des Hochschulwesens

62

"Die Bestimmung des Art.1 Nr.3 6.HRGÄndG, nach der das Studium bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss und das Studium in einem konsekutiven Studiengang, der zu einem weiteren berufsqualifizierenden Abschluss führt, studiengebührenfrei ist und das Landesrecht in besonderen Fällen Ausnahmen vorsehen kann (§ 27 Abs.4 HRG), regelt zwar allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens und fällt damit dem Gegenstand nach in die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes (Art.75 Abs.1 Satz 1 Nr.1a GG). Dem Bund fehlt jedoch - jedenfalls gegenwärtig - gemäß Art.75 Abs.1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art.72 Abs.2 GG das Gesetzgebungsrecht.

63

1. a) Die Gesetzgebungsmaterie des Art.75 Abs.1 Satz 1 Nr.1a GG an sich ist weit gefasst. Der Begriff "Hochschulwesen" lässt es nicht zu, von vornherein bestimmte Angelegenheiten der Hochschulen auszugrenzen (zur Definition der HochschuleBVerfGE 37,314 <321> ; s ferner §§ 1 ff HRG). Auch die Entstehungsgeschichte lässt einen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers, die durch Rahmengesetzgebung des Bundes regelbaren Gegenstände in sachlicher Hinsicht nicht erkennen; die Schranken der Regelungsbefugnis des Bundes sind vielmehr in Art.75 GG anderweit verankert worden (vgl Urteil vom 27.Juli 2004 - 2 BvF 2/02 -, NJW 2004, S.2803; zur Entstehungsgeschichte S. 2806). Der Titel "Hochschulwesen" umfasst auch Regelungen über die Erhebung von Studiengebühren als nichtsteuerliche Abgabe (vgl BVerfGE_108,1 <13 f.>).

64

b) Allerdings erstreckt sich die Regelungsbefugnis des Bundes lediglich auf "die allgemeinen Grundsätze" des Hochschulwesens. Der Bund ist im Hochschulbereich zu einer außerordentlich zurückhaltenden Gesetzgebung verpflichtet. Den Ländern muss im Bereich des Hochschulwesens noch mehr an Raum für eigene Regelungen verbleiben als in sonstigen Materien der Rahmengesetzgebung. Dies schließt es freilich nicht aus, dass der Bundesgesetzgeber auch hier ausnahmsweise nähere bis in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen trifft (vgl im Einzelnen Urteil vom 27.Juli 2004, aaO, S.2806).

65

Die Frage, ob die Studierenden nicht nur in besonderen Fällen, sondern generell zu einem individuellen Beitrag zur Finanzierung der Hochschulen herangezogen werden dürfen, betrifft die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens. Aus der Sicht der Studierenden geht es um die Ausgestaltung der Studienbedingungen, aus der Sicht der Hochschulen und ihrer staatlichen Träger um die Frage, auf welche Einnahmequellen sie zurückgreifen können. Vor allem vor dem Hintergrund, dass seit dem Jahr 1970 keine allgemeinen Studiengebühren erhoben werden, wird mit der Entscheidung, daran festzuhalten, unter beiden Aspekten ein allgemeiner hochschulpolitischer Grundsatz fixiert, für den der Bundesgesetzgeber den Kompetenztitel des Art.75 Abs.1 Satz 1 Nr.1a GG in Anspruch nehmen kann.

66

"2. Gemäß Art.75 Abs.1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art.72 Abs.2 GG darf der Bund Rahmenvorschriften nur erlassen, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. Dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist nicht dargetan.

67

a) Zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine bundesgesetzliche Regelung erst dann erforderlich, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet (vgl BVerfGE 106,62 <144>).

68

Aus den im Gesetzgebungsverfahren dokumentierten Erwägungen und dem Vorbringen der Bundesregierung im Normenkontrollverfahren ergibt sich die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung über die Erhebung von Studiengebühren unter dem Aspekt gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht.

69

aa) Der Bundesgesetzgeber hat sich zunächst darauf gestützt, dass die Debatte über die Einführung von Studiengebühren zu einer Verunsicherung derjenigen führe, die in den nächsten Jahren ein Studium aufnehmen wollten; dies könne in letzter Konsequenz zu einem Rückgang der Zahl der Studienanfänger führen. Mit der Festschreibung der Gebührenfreiheit würden Rechtssicherheit geschaffen und die Studierneigung positiv und für das gesamte Bundesgebiet unterstützt (vgl BTDrucks 14/8361 S.4; 14/8732 S.6). Die Bundesregierung hat ihr Anliegen, im Interesse der Förderung der Studierneigung und der Heranführung bildungsferner Bevölkerungskreise an das Hochschulstudium ein gebührenfreies Erststudium zu gewährleisten, im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vertieft und ihre Befürchtung abschreckender Wirkungen von Studiengebühren unter Hinweis auf ausländische Erfahrungen näher begründet.

70

Auf die bildungspolitische Einschätzung der Erhebung allgemeiner Studiengebühren und des dazu vorgelegten Materials kommt es hier indes nicht an.

71

Ein die Regelung des § 27 Abs.4 HRG rechtfertigendes besonderes Interesse an bundeseinheitlicher Regelung, wie es das Bundesverfassungsgericht zur Neufassung des Art.72 Abs.2 GG durch die Verfassungsreform 1994 entwickelt hat (BVerfGE 106,62 <143 ff>), ergibt sich nicht bereits aus dem (sozialstaatlichen) Anliegen, möglichst breiten Kreisen der Bevölkerung den Zugang zum Hochschulstudium zu eröffnen und diesbezügliche Barrieren abzubauen oder gar nicht erst zu errichten. Ein derartiges Interesse bestünde nur dann, wenn sich abzeichnete, dass die Erhebung von Studiengebühren in einzelnen Ländern zu einer mit dem Rechtsgut Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse unvereinbaren Benachteiligung der Einwohner dieser Länder führt. Dafür bestehen jedoch zurzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte.

72

Der Bundesgesetzgeber selbst geht davon aus, dass die Studienbewerber und Studierenden in erheblichem Ausmaß bereit und in der Lage sind, durch die Wahl des Studienorts und der Hochschule auf die Erhebung von Studiengebühren zu reagieren (dazu bb>). Wie die mündliche Verhandlung bestätigt hat, ist für diese Wahl - einschließlich der Entscheidung für ein Studium in Heimatnähe - zudem eine Vielzahl von Faktoren bedeutsam, deren jeweiliges Gewicht für die individuelle Entscheidung nicht ohne weiteres einschätzbar ist und sich auch mit Hilfe der vorliegenden sozialwissenschaftlichen Untersuchungen nicht sicher erschließt. Soweit finanzielle Erwägungen danach bei der Wahl des Studienorts überhaupt eine Rolle spielen, ist zu beachten, dass Studiengebühren in der bislang diskutierten Größenordnung von 500 je Semester im Vergleich zu den - von Ort zu Ort unterschiedlichen - Lebenshaltungskosten von nachrangiger Bedeutung sind. Vor allem aber ist davon auszugehen, dass die Länder in eigenverantwortlicher Wahrnehmung der sie - nicht anders als den Bund - treffenden Aufgabe zu sozialstaatlicher, auf die Wahrung gleicher Bildungschancen (Art. 3, Art. 7 Abs. 4 Satz 3, Art.12 Abs.1 GG; Art.13 Abs.1 Satz 1, Abs.2 Buchstabe c des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.Dezember 1966 ; vgl BVerwGE_102,142 <147>; BVerfGE_115,32 <37,49>) bedachter Regelung bei einer Einführung von Studiengebühren den Belangen einkommensschwacher Bevölkerungskreise angemessen Rechnung tragen werden. Zwar kann trotz alledem nicht ausgeschlossen werden, dass Einzelne durch Studiengebühren unausweichlich und in überdurchschnittlich hohem Maß belastet werden. Die nicht näher quantifizierte Möglichkeit derartiger Fälle rechtfertigt zumindest derzeit kein Eingreifen des Bundesgesetzgebers unter dem Aspekt der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gemäß Art.72 Abs.2 GG.

73

bb) Der Bundesgesetzgeber und die Bundesregierung halten den Ausschluss von Studiengebühren für Erststudien und konsekutive Studiengänge zur Verwirklichung der Zielsetzung des Art.72 Abs.2 GG, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, ferner für erforderlich, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Einführung von Studiengebühren in einzelnen Ländern zu einem Wechsel dortiger Studienbewerber und Studierender an Hochschulen derjenigen Länder führt, die keine Studiengebühren erheben; dadurch könne es zu erheblichen Kapazitätsproblemen und finanziellen Belastungen und in der Folge zu einer nennenswerten Verschlechterung der Studienbedingungen in diesen Ländern kommen (vgl BTDrucks 14/8361 S.4; 14/8732 S.6). Auch damit wird die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung nicht gestützt.

74

(1) Die mündliche Verhandlung hat bestätigt, dass eine Entwicklung dieser Art zwar nicht ausgeschlossen werden kann, sich nach gegenwärtigem Erkenntnisstand jedoch nicht konkret abzeichnet. Wie bereits angesprochen, ist nicht ausreichend belegt, dass Studierende den Studienort maßgeblich unter dem Aspekt möglicher Studiengebühren wählen. Wie die Bundesregierung im Wesentlichen einräumt, spielen Gesichtspunkte wie die Lebenshaltungskosten und etwaige Studiengebühren vielmehr eine nachrangige Rolle; dies zeigen die in der mündlichen Verhandlung diskutierten Beispiele von Hochschulen, deren Kapazitäten trotz niedriger Lebenshaltungskosten und vermeintlicher anderer Vorteile nicht ausgeschöpft werden.

75

Diese Einschätzung wird nicht durch die Tatsache erschüttert, dass nach Einführung von Langzeitstudiengebühren in Hessen im Sommersemester 2004 rund 1400 Studierende hauptsächlich von hessischen Hochschulen an die Universität Mainz gewechselt sind, während die Zahl zuvor nur etwa 200 bis 250 betrug. Die besondere Interessenlage bei einem Teil derjenigen, die dieser speziellen Art der Gebühr entgehen wollen, sowie die besonderen räumlichen Verhältnisse im Rhein-Main-Gebiet und dessen Infrastruktur bieten dafür eine plausible Erklärung, die nicht durch den Vortrag anderer maßgeblicher Umstände in Frage gestellt worden ist. Zudem genügt ein einmaliger Vorgang nicht, um die nahe liegende Annahme zu widerlegen, dass mit der Überbelegung einer Hochschule verbundene Qualitätsverluste regulierend auf das Verhalten der Studierenden einwirken und sich dadurch binnen Kurzem eine - jedenfalls auf das Ganze gesehen - hinnehmbare, wenn nicht sogar ausgewogene Inanspruchnahme der Hochschulen einstellt. Im Übrigen darf bei der Prognose über den Einfluss von Studiengebühren auf die Entscheidung der Studierenden, an studiengebührenfreie Hochschulen zu wechseln, die Erwartung, dass das Aufkommen aus Studiengebühren entsprechend den vorliegenden Konzepten den Hochschulen verbleibt und damit mögliche Verbesserungen der Studienbedingungen ihre Attraktivität steigern, nicht von vornherein - etwa wegen Bedenken im Hinblick auf ihre politische Durchsetzbarkeit angesichts der Haushaltslage der Länder - ausgeklammert werden.

76

(2) Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse erfordert nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben eine bundesgesetzliche Regelung aber auch dann nicht, wenn angenommen werden könnte, dass Unterschiede in der Erhebung von Studiengebühren zwischen den Ländern erhebliche Wanderungsbewegungen auslösen würden. Keine der insoweit in Frage kommenden Erwägungen greift durch.

77

Verschlechterungen der Studienbedingungen an einzelnen Hochschulen schränken die freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art.12 Abs.1 Satz 1 GG) nicht ein. Anders als in Fragen der Zulassung zum Studium ist im vorliegenden Zusammenhang das Hochschulwesen in Deutschland nicht in dem Sinne als ein zusammenhängendes System anzusehen, dass im Interesse länderübergreifender Nutzung der Ausbildungskapazitäten grundsätzlich eine bundesweite Reglementierung erforderlich wäre (vgl BVerfGE 33,303 <352>). Soweit die Bundesregierung auf gleichheitswidrige Beeinträchtigungen der Freizügigkeit von Studierenden verweist, die sich den Folgen der Erhebung von Studiengebühren aus finanziellen Gründen nicht entziehen können, fehlt es bereits an ausreichenden Belegen dafür, dass eine beachtliche Zahl von Studierenden betroffen ist.

78

Das Normenkontrollverfahren hat auch keinen Hinweis darauf erbracht, dass die prognostizierte Belastung der Hochschulen und Studierenden einzelner Länder über die in der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes angelegte Bandbreite unterschiedlicher Lebensverhältnisse hinausgehen könnte. Sinn der föderalen Verfassungssystematik ist es, den Ländern eigenständige Kompetenzräume für partikular-differenzierte Regelungen zu eröffnen ( BVerfGE_106,62 <150>). In diesem System ist enthalten, dass in Materien wie der Hochschulbildung, die durch hohe Mobilität des angesprochenen Personenkreises gekennzeichnet sind, durch die jeweilige Landesgesetzgebung Wanderungsbewegungen ausgelöst werden können. Daraus resultierende Nachteile hat ein Land - vorbehaltlich des Verstoßes gegen die Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme durch ein anderes Land (vgl BVerfGE_43,291 <348> ) - grundsätzlich in eigener Verantwortung zu bewältigen. Sache der demokratisch legitimierten Organe des betroffenen Landes ist es, darüber zu befinden, ob als nachteilig eingeschätzte Entwicklungen hingenommen oder welche gegensteuernden Maßnahmen ergriffen werden. Voraussetzung einer bundesgesetzlichen Regelung ist insoweit, dass vorhersehbare Einbußen in den Lebensverhältnissen von den betroffenen Ländern durch eigenständige Maßnahmen entweder gar nicht oder nur durch mit den anderen Ländern abgestimmte Regelungen bewältigt werden können (vgl BVerfGE_106,62 <150>). Dies lässt sich hier nicht feststellen.

79

Den befürchteten Kapazitätsengpässen kann, soweit nötig, mit Hilfe von Zulassungsbeschränkungen begegnet werden. Was die weiter prognostizierten Folgen für die Studienbedingungen angeht, lässt sich dem Vorbringen der Bundesregierung nicht entnehmen, warum die Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Länder nicht ausreichen sollten, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im gebotenen Umfang sicherzustellen. Die Erwägung, dass durch die Entscheidung einzelner Länder, allgemeine Studiengebühren zu erheben, die anderen Länder - etwa aus Wettbewerbsgründen - politisch gezwungen sein könnten, ebenfalls Studiengebühren einzuführen, zeigt keine Gefahr für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auf und ist daher nicht geeignet, die angegriffene Bestimmung unter diesem Gesichtspunkt vor Art.72 Abs.2 GG zu rechtfertigen.

80

"b) Die Wahrung der Wirtschaftseinheit im Sinne von Art.72 Abs.2 GG liegt im gesamtstaatlichen Interesse, wenn es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Rechtsetzung geht, wenn also Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich brächten (vgl BVerfGE_106,62 <146 f.>). Die Regelung des § 27 Abs.4 HRG findet unter keinem der insoweit in Frage kommenden Aspekte eine Rechtfertigung.

81

Die Bundesregierung hat nicht vorgetragen, und es ist auch nicht ersichtlich, dass unterschiedliche Landesregelungen über die Erhebung von Studiengebühren das - auch im gesamtwirtschaftlichen Interesse liegende - Ziel, möglichst viele Befähigte an das Studium heranzuführen und ihnen einen berufsqualifizierenden Hochschulabschluss zu ermöglichen, in erheblicher Weise beeinträchtigen könnten. Die Länder sind bundesrechtlich verpflichtet, den Hochschulunterricht auf geeignete Weise jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Befähigungen zugänglich zu machen (oben a> aa>). Es ist daher davon auszugehen, dass die Länder die bezeichnete gesamtstaatliche Zielsetzung zur Grundlage ihrer bildungspolitischen Entscheidungen machen. Solange sich gegenteilige, für die Gesamtwirtschaft nachteilige Entwicklungen nicht konkret abzeichnen, bedarf es eines Bundesgesetzes nicht.

82

Zur Wahrung der Wirtschaftseinheit kann ein Bundesgesetz auch dann erforderlich sein, wenn es die Einheitlichkeit der beruflichen Ausbildung sicherstellen oder wenn es für gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Berufen oder Gewerben in allen Ländern sorgen muss. Dies gilt insbesondere dann, wenn unterschiedliche Ausbildungs- und Zulassungsvoraussetzungen im deutschen Wirtschaftsgebiet störende Grenzen aufrichten, eine Ballung oder Ausdünnung in bestimmten Regionen bewirken, das Niveau der Ausbildung beeinträchtigen und damit erhebliche Nachteile für die Chancen des Nachwuchses sowie für die Berufssituation im Gesamtstaat begründen (vgl BVerfGE_106,62 <147> ). Dass die partikulare Erhebung von Studiengebühren negative Effekte dieser Art nach sich ziehen könnte, ist nicht ausreichend wahrscheinlich gemacht. Wie die Antragstellerinnen in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben haben, bietet die Möglichkeit, allgemeine Studiengebühren einzuführen und auszugestalten, den Ländern darüber hinaus die Chance, die Qualität der Hochschulen und eine wertbewusste Inanspruchnahme ihrer Ausbildungsleistungen zu fördern und auf diese Weise auch Ziele der Gesamtwirtschaft zu verfolgen. Der Bundesgesetzgeber hat diesen Aspekt der bundesstaatlichen Ordnung vernachlässigt, indem er ausschließlich die Risiken der Einführung von Studiengebühren für die Hochschulbildung in den Blick genommen hat.

83

c) Zur Wahrung der Rechtseinheit im Sinne von Art.72 Abs.2 GG (dazu BVerfGE_106,62 <145 f>) ist § 27 Abs.4 HRG ebenfalls nicht erforder lich. Unterschiedliches Landesrecht in Bezug auf Studiengebühren beeinträchtigt nicht unmittelbar die Rechtssicherheit und Freizügigkeit im Bundesstaat. Die Erwägung namentlich des Deutschen Studentenwerks, die Erhebung von Studiengebühren habe Auswirkungen auf familienrechtliche Unterhaltsverpflichtungen und das Recht der Ausbildungsförderung und führe insoweit zu einer Rechtszersplitterung, betrifft nicht das Regelungsanliegen des Art.72 Abs.2 GG, sondern Fragen der Anwendung von Bundesrecht und etwaiger rechtspolitischer Konsequenzen einer Veränderung der von ihm erfassten Sachverhalte.

84

3. Der Bund kann sein Gesetzgebungsrecht nicht aus Art.125a Abs.2 Satz 1 GG herleiten. Nach dieser - auf die Rahmengesetzgebung anwendbaren - Übergangsbestimmung verbleibt die Zuständigkeit zur Änderung von Vorschriften, die aufgrund des Art.72 Abs.2 GG in der bis zum 15.November 1994 geltenden Fassung erlassen worden sind, ohne Rücksicht darauf, ob die Voraussetzungen des Art.72 Abs.2 GG erfüllt sind, beim Bundesgesetzgeber, soweit die Änderung die wesentlichen Elemente der in dem fortbestehenden Bundesgesetz enthaltenen Regelung beibehält und keine grundlegende Neukonzeption enthält; die Änderungskompetenz ist eng auszulegen (vgl Urteil vom 27.Juli 2004, aaO, S.2809 f; Urteil des Ersten Senats vom 9.Juni 2004 - 1 BvR 636/02 -, NJW 2004, S.2363 <2364>). Das am 30.Januar 1976 in Kraft getretene Hochschulrahmengesetz enthielt bis zum Erlass des hier angegriffenen Sechsten Änderungsgesetzes keine Regelungen über Studiengebühren. Mit diesem ist daher der Bereich der Rahmengesetzgebung im Hoch schulwesen in sachlicher Hinsicht erweitert worden. Dies wird von der durch Art.125a Abs.2 Satz 1 GG vermittelten Befugnis zur Änderung bestehender Bundesgese tze nicht umfasst. ..."

93

"Die Prüfung und Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist auf die im Urteilstenor bezeichneten Vorschriften begrenzt. Die Erstreckung der Zustimmungspflicht und der Nichtigkeitsfolge eines Verstoßes gegen Art.84 Abs.1 GG auf das gesamte Gesetz (sog Einheitsthese; vgl BVerfGE_8,274 <294 f>; BVerfGE_37,363 <381>; BVerfGE_55, 274 <319>; s ferner BVerfGE_105,313 <339> ) besagt für sich genommen noch nichts über die Reichweite der dem Bundesverfassungsgericht auf einen Normenkontrollantrag hin obliegenden Prüfung. Das Sechste Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes bildet keine untrennbare Einheit; vielmehr sind in ihm der Sache nach voneinander unabhängige Regelungen lediglich zu einer gesetzgebungstechnischen Einheit zusammengefasst. Der Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle wird durch die gegen Einzelbestimmungen oder Regelungskomplexe gerichteten Beanstandungen, nicht hingegen durch die von den Antragstellern erwarteten Rechtsfolgen bestimmt (vgl BVerfGE_73,118 <151>; BVerfGE_97,198 <213>). Die angegriffenen Normen werden vom Bundesverfassungsgericht zwar unter allen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, aber ohne Bindung an die erhobenen Rügen überprüft (vgl BVerfGE_97,198 <214> mwN; s auch BVerfGE_100,249 <263>).

94

Nachdem die grundsätzlich vorrangige Prüfung der Gesetzgebungskompetenz ergeben hat, dass die Bestimmungen des Art.1 Nrn.3 und 4 6.HRGÄndG wegen fehlenden Gesetzgebungsrechts des Bundes nichtig sind, kommt es auf die weitere Rüge eines durch Art.1 Nr.4 6.HRGÄndG ausgelösten Verstoßes gegen Art.84 Abs.1 GG, also eines Mangels im Gesetzgebungsverfahren, nicht an. Dieser Rüge ist auch nicht - gewissermaßen hypothetisch - deshalb nachzugehen, weil die Antragsteller sie an die erste Stelle ihres Vorbringens gerückt und ihren Antrag entsprechend gefasst haben. Denn damit haben sie nicht das Sechste Änderungsgesetz über die Bestimmungen des Art.1 Nrn.3 und 4 hinaus zur Prüfung durch dasndesverfassungsgericht gestellt, sondern lediglich die Rechtsfolgen antizipiert, die die bisherige Rechtsprechung an die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 84 Abs. 1 GG knüpft.

§§§

05.006 Heimschließung
 
  • BVerfG,     B, 28.01.05,     – 1_BvR_136/05 –

  • = www.BVerfG.de

  • BVerfGG_§_32, BVerfGG_§_93d Abs.2; VwGO_§_80 Abs.5 S.1

 

LB 1) Zur Aussetzung der sofortigen Vollziehung einer Ordnungsverfügung betreffend die Schließung eines Heimes.

 

LB 2) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, entstünden der Beschwerdeführerin durch den Vollzug der Ordnungsverfügung schon jetzt schwere und kaum wieder gutzumachende wirtschaftliche Nachteile.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung der Stadt Bielefeld vom 18.August 2004 - 500.314 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, vorläufig ausgesetzt.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die einstweilige Anordnung zu erstatten.

§§§

05.007 Schmähkritik
 
  • BVerfG,     B, 05.02.05,     – 1_BvR_2666/95 –

  • = www.BVerfG.de

  • GG_Art.5 Abs.1; BGB_§_1004 Abs.1 S.2, BGB_§_823 Abs.1; BVerfGG_§_90 Abs.1

 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen ein zivilrechtliches Urteil, das dem Bescherdeführer zum Unterlassen bestimmter Äußerungen verpflichtete, die vom Gericht fälschlicherweise als Schmähkitik eingestuft wurden.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Das Urteil des Landgerichts Limburg vom 15.November 1995 - 3 S 58/95 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Limburg zurückverwiesen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

§§§

05.008 Anwaltsnotar
 
  • BVerfG,     B, 08.03.05,     – 1_BvR_2561/03 –

  • BVerfGE_112,255 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.12 Abs.1; BNotO_§_29 Abs.3 S.1

 

§ 29 Abs.3 Satz 1 der Bundesnotarordnung ist mit Art.12 Abs.1 GG unvereinbar, soweit Anwaltsnotaren in überörtlichen Sozietäten untersagt wird, die Amtsbezeichnung als Notar auf Geschäftspapieren anzugeben, die nicht von der Geschäftsstelle des Notars aus versandt werden.

§§§

05.009 Kinderbetreuungskosten
 
  • BVerfG,     B, 16.03.05,     – 2_BvL_7/00 –

  • BVerfGE_112,268 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.6 Abs.1; EStG_§_33, EStG_§_33c Abs.1 S.1

 

Das Gebot horizontaler Steuergleichheit gemäß Art.3 Abs.1 GG und das aus Art.6 Abs.1 GG folgende Verbot der Benachteiligung von Eltern gegenüber Kinderlosen verbieten es, die einkommensteuerliche Freistellung der erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten alleinerziehender Elternteile um eine zumutbare Belastung (§ 33 Abs.3 EStG) zu kürzen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 33c Absatz 1 Satz 1 letzter Halbsatz des Einkommensteuergesetzes in der durch das Jahressteuergesetz 1997 vom 20.Dezember 1996 (Bundesgesetzblatt I Seite 2049, 2067) eingeführten und durch das Gesetz zur Familienförderung vom 22.Dezember 1999 (Bundesgesetzblatt I Seite 2552, 2554) aufgehobenen Fassung verstößt gegen Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes und ist nichtig.

§§§

05.010 Technische Fraktion
 
  • BVerfG,     B, 16.03.05,     – 2_BvR_315/05 –

  • = www.BVerfG.de

  • GG_Art.38 Abs.1 S.2, GG_Art.28 Abs.1 S.2, GG_Art.103 Abs.1; VwGO_§_152a

 

LB 1) Eine Fraktion eines Kreistages kann eine Verfassungsbeschwerde nicht auf die Verletzung des Art.38 Abs.1 oder Art.28 Abs.1 S.2 GG stützen.

 

LB 2) Für Streitigkeiten um die Anerkennung als Fraktion ist das Organstreitverfahren gegeben, das durch einfaches Recht geregelt ist und ausschließlich vor den Verwaltungsgerichten auszutragen ist.

 

LB 3) Die Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (Art.103 Abs.1 GG) ermöglicht auch einer kommunalen Fraktion das BVerfG anzurufen. Insoweit ist aber die Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn der Rechtsweg nicht erschöpft ist. Das ist der Fall wenn es versäumt wurde eine Anhörungsrüge gemäß § 152a VwGO zu erheben.

§§§

05.011 Kontostammdaten
 
  • BVerfG,     B, 22.03.05,     – 1_BvR_2357/04 –

  • BVerfGE_112,284 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.2 Abs.1 GG_Art.1 Abs.1; BVerfGG_§_32; AO_§_93 Abs.7, AO_§_93 Abs.8, AO_§_93b; KWG_§_23c

T-05-03

LB 1) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel den Vollzug von Vorschriften des Gesetze zur Förderung der Steuererehrlichkeit betreffend den automatisierten Abbruf von Kontenstammdaten bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde gegen dieses Gesetzes auszusetzen, wurde aufgrund einer Folgenabwägung abgelehnt.

Abs.42

LB 2) Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, ist bei der Folgenabwägung ein besonders strenger Maßstab anzulegen (vgl BVerfGE_3,41 <44>; BVerfGE_104,51 <55>; stRspr).

Abs.43

LB 3) Im Zuge der Folgenabwägung kann bedeutsam werden, ob die zur Anwendung der angegriffenen Norm befugten Stellen in der Zeit bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde im Rahmen des Gesetzes Vorkehrungen treffen, die zu einer Abmilderung oder Beseitigung der von den Antragstellern geltend gemachten Nachteile führen.

Abs.43

LB 4) Wird dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Erfolg mit Rücksicht auf solche Vorkehrungen auf der Anwendungsebene versagt und zeigt sich vor der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, dass die Vorkehrungen zur Nachteilsbegrenzung nicht ausreichen oder dass die Behörden ihre Praxis zum Nachteil der Antragsteller ändern, kann das Bundesverfassungsgericht auf Antrag oder von Amts wegen (vgl BVerfGE_1,74 <75>; BVerfGE_46,337 <338>) einstweiligen Rechtsschutz gewähren.

* * *

T-05-03Vollzugsaussetzung eines Gesetzes

Abs.41

" Gemäß § 32 Abs.1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Kann Letzteres nicht festgestellt werden, muss der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens also als offen angesehen werden, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl BVerfGE_104,51 <55>; BVerfGE_105,365 <370 f>; stRspr).

42

Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, ist bei der Folgenabwägung ein besonders strenger Maßstab anzulegen (vgl BVerfGE_3,41 <44>; BVerfGE_104,51 <55>; stRspr). Das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, das In-Kraft-Treten eines Gesetzes zu verzögern, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung stets ein erheblicher Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist. Ein Gesetz darf deshalb nur dann vorläufig am In-Kraft-Treten gehindert werden, wenn die Nachteile, die mit seinem In-Kraft-Treten nach späterer Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit verbunden wären, in Ausmaß und Schwere die Nachteile deutlich überwiegen, die im Falle der vorläufigen Verhinderung eines sich als verfassungsgemäß erweisenden Gesetzes einträten (vgl BVerfGE_104,23 <27>; BVerfGE_104,51 <55>; stRspr). Bei dieser Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von dem Gesetz Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur bezogen auf die Antragsteller (vgl BVerfG, Beschluss vom 25.Januar 2005 - 2 BvR 2185/04 -, JURIS).

43

Im Zuge der Folgenabwägung kann bedeutsam werden, ob die zur Anwendung der angegriffenen Norm befugten Stellen in der Zeit bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde im Rahmen des Gesetzes Vorkehrungen treffen, die zu einer Abmilderung oder Beseitigung der von den Antragstellern geltend gemachten Nachteile führen. Wird dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Erfolg mit Rücksicht auf solche Vorkehrungen auf der Anwendungsebene versagt und zeigt sich vor der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, dass die Vorkehrungen zur Nachteilsbegrenzung nicht ausreichen oder dass die Behörden ihre Praxis zum Nachteil der Antragsteller ändern, kann das Bundesverfassungsgericht auf Antrag oder von Amts wegen (vgl BVerfGE_1,74 <75>; BVerfGE_46,337 <338>) einstweiligen Rechtsschutz gewähren.

II.

44

Die von den Antragstellern bereits erhobenen Verfassungsbeschwerden sind hinsichtlich des wesentlichen Teils der geltend gemachten Grundrechtsrügen nicht von vornherein unzulässig. Sie sind auch nicht offensichtlich unbegründet. Im Verfahren über die Verfassungsbeschwerden wird unter anderem zu prüfen sein, ob die angegriffenen Regelungen den Anforderungen der Gesetzesbestimmtheit und der Verhältnismäßigkeit gerecht werden. Angesichts der Offenheit des Ausgangs eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im Zuge einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese geht zu Lasten der Antragsteller aus.

55

1. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung und erwiese sich das angegriffene Gesetz später als verfassungsgemäß, so würde damit vorläufig verhindert, dass die zuständigen Behörden und Gerichte auf die Möglichkeit des Datenabrufs nach § 93 Abs. 7 und 8 AO zurückgreifen können. Die damit verbundenen Nachteile sind gewichtig. Eine gesetzlich neu geschaffene Möglichkeit zur Kontrolle von Voraussetzungen der Erhebung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen sowie des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Sozialleistungen und zur Verhinderung des Missbrauchs solcher Leistungen wäre nicht eröffnet.

46

a) Verwaltung und Gerichten würde ein Instrument zur Tatsachenermittlung vorenthalten, das zum gleichmäßigen Vollzug von Abgaben- und Sozialleistungsgesetzen beitragen soll. Die Gleichmäßigkeit der Erhebung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen sowie die Verhinderung des Bezugs von Sozialleistungen bei Fehlen der gesetzlichen Voraussetzungen sind gewichtige Gemeinwohlbelange. Wird bei der Abgabenerhebung die Gleichheit im Belastungserfolg verfehlt, kann dies sogar zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Grundlagen der Abgabenerhebung führen (so BVerfGE_84,239 <268 ff>; BVerfGE_110,94 <112 ff> zur Steuererhebung).

47

b) Darüber hinaus entfiele die Koppelung der neuen Ermittlungsmöglichkeiten an das Auslaufen der Steueramnestie, wenn das Gesetz nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt in Kraft träte.

48

Die Befugnisse zum Abruf der Kontostammdaten, die in den nach § 24 c KWG geführten Dateien enthalten sind, hat der Gesetzgeber im Zusammenhang mit dem Gesetz über die strafbefreiende Erklärung (Strafbefreiungserklärungsgesetz - StraBEG) vom 23.Dezember 2003 (BGBl I S.2928), dem Art.1 des Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit, eingeführt. Das Strafbefreiungserklärungsgesetz räumt denjenigen, die in der Vergangenheit Steuern verkürzt hatten, bis zum 31.März 2005 die Möglichkeit ein, durch Korrektur der steuererheblichen Angaben und Entrichtung einer pauschalen Abgabe Strafbefreiung oder Befreiung von Geldbußen zu erlangen (so genannte Steueramnestie). Die parallel dazu neu geschaffene Ermittlungsbefugnis soll den Finanzbehörden bessere Möglichkeiten zur Überprüfung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben der Steuerpflichtigen und damit zum gleichmäßigen Vollzug der Steuergesetze nach Ablauf der Steueramnestie eröffnen. Zugleich wird diese Ermittlungsbefugnis im Rahmen des § 93 Abs. 8 AO den Behörden der Sozialleistungsverwaltung und den Gerichten eröffnet. Der verbesserte Gesetzesvollzug soll nach dem Willen des Gesetzgebers einen "Beitrag zum Rechtsfrieden" leisten (so BTDrucks 15/1309, S.1).

49

c) Die Kontenabfrage führt zur Effektivierung bestehender Ermittlungsmöglichkeiten.

50

Mit der Eröffnung der neuen Ermittlungsbefugnis will der Gesetzgeber ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs eine gesetzliche Grundlage für den einzelfallbezogenen, bedarfsgerechten und gezielten Zugriff auf Kontostammdaten und damit zur Erlangung der Kenntnis über das Bestehen von Konten schaffen (vgl BTDrucks 15/1309, S.2). Diese Kenntnis führt noch nicht zur Ermittlung der für belastende oder begünstigende Maßnahmen hinreichenden Tatsachen, ermöglicht aber weitere Ermittlungen, um sie aufzufinden. Die neuen Ermittlungsbefugnisse treten zu den Ermittlungsbefugnissen hinzu, die den im Zuge der Amtsermittlung (vgl § 88 Abs.1 AO, § 20 SGB X) tätig werdenden Behörden schon jetzt zustehen.

51

An der Erfassung der tatsächlichen Grundlagen der Besteuerung haben die Steuerpflichtigen dadurch mitzuwirken, dass sie die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offen legen (§ 90 Abs.1 AO). Da diese Pflicht erfahrungsgemäß nicht stets befolgt wird, ermöglichen die den Finanzbehörden zustehenden Befugnisse bei einem hinreichenden Anlass gemäß § 93 Abs.1 AO schon bisher, Auskünfte über die bei Kreditinstituten verfügbaren Vorgänge zu verlangen. Ein hinreichender Anlass für Ermittlungsmaßnahmen wird in der Rechtsprechung bejaht, wenn auf Grund konkreter Anhaltspunkte oder auf Grund allgemeiner Erfahrungen die Möglichkeit einer Steuerverkürzung in Betracht kommt (vgl BFHE_199,451 <470>). Ist der Finanzbehörde ein Konto des Steuerpflichtigen jedoch nicht bekannt, kann sie Auskünfte nach § 93 Abs.1 AO vom Kreditinstitut nicht verlangen; angesichts der Zahl von über 2.400 Kreditinstituten in Deutschland scheitern Nachfragen bei allen Kreditinstituten praktisch an dem dafür erforderlichen Aufwand. Dem begegnet die Neuregelung durch die Möglichkeit, mithilfe des automatisierten Abrufs der Kontostammdaten zunächst zu erfahren, bei welchen Kreditinstituten der Steuerpflichtige Konten unterhält.

52

Auch für den Vollzug der von der Neuregelung erfassten Sozialgesetze sind Mitwirkungspflichten und -lasten der Betroffenen vorgesehen (insbesondere §§ 60 ff SGB I), darunter die zur Angabe der zur Feststellung eines Anspruchs erforderlichen Tatsachen (vgl. auch etwa § 46 Abs.3 BAföG) und Pflichten zur Erteilung von Auskünften (vgl etwa § 117 SGB XII). Die angegriffene Neuregelung reagiert auf Defizite bei der Erfüllung dieser Vorgaben und erlaubt nunmehr auch im Bereich der Sozialleistungen den Zugriff auf Kontostammdaten, um Anknüpfungspunkte für weitere Ermittlungen zu gewinnen.

53

Die neuen Ermittlungsmöglichkeiten entfielen beim Erlass der einstweiligen Anordnung mit dem Risiko des Fortbestands von Vollzugsdefiziten im Steuer- und Sozialrecht.

54

2. Träte das angegriffene Gesetz am 1.April 2005 in Kraft, wären die betroffenen Behörden und gemäß § 93 Abs.8 AO auch Gerichte befugt, Kontostammdaten abrufen zu lassen und damit personenbezogene Informationen zu gewinnen, die auf diese Weise vorher nicht zugänglich waren. Die Auswirkungen auf die Steuerpflichtigen (a) und unter ihnen auf Berufsgeheimnisträger (b) sind teilweise andere als für die von den Auskunftsersuchen der Behörden der Sozialverwaltung Betroffenen (c) sowie für die zur Auskunft verpflichteten Kreditinstitute (d). In allen Fällen aber treten die Nachteile hinter diejenigen zurück, die beim Nicht-In-Kraft-Treten des Gesetzes für die Allgemeinheit zu erwarten wären, jedenfalls solange die im Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) vom 10.März 2005 verfügten Einschränkungen der Kontenabfrage beim Gesetzesvollzug beachtet werden.

55

a) Die für die Besteuerung zuständige Behörde erhielte beim In-Kraft-Treten des angegriffenen Gesetzes die Möglichkeit der Kenntnisnahme vom Bestehen oder Nichtbestehen von Konten und Depots des Steuerpflichtigen, die insbesondere in Verbindung mit anderen Informationen Rückschlüsse auf persönliche Verhältnisse erlauben. Da die Ermächtigung einen automatisierten Abruf vorsieht, bestehen technisch einfache Möglichkeiten zur Verknüpfung solcher Daten mit anderen. Die gewonnenen Informationen, die sämtlich vom Steuergeheimnis (§ 30 AO) geschützt sind, können weitere Ermittlungen zur Steuererhebung auslösen.

56

Der im Rahmen der Folgenabwägung maßgebende Nachteil für den Steuerpflichtigen besteht nicht darin, dass den Finanzbehörden auf diese Weise einzelne der für die Besteuerung maßgebenden tatsächlichen Umstände bekannt werden können und die Steuer dementsprechend nach den gesetzlichen Vorgaben festgesetzt werden kann, sondern in der Kenntnis personenbezogener Daten über das Bestehen von Konten und Depots, die zur weiteren Ermittlung von steuererheblichen Tatsachen genutzt werden kann. Die Steuerpflichtigen sind zur Offenlegung der steuererheblichen Tatsachen verpflichtet, grundsätzlich aber nicht zur Angabe von Konten (vgl etwa § 30a Abs.4 sowie § 150 AO). Daran ändert die Neuregelung zwar nichts, erlaubt aber eine Kenntniserlangung über Konten und Depots ohne Mitwirkung des Steuerpflichtigen. Wie gewichtig die damit verbundenen Nachteile sind, hängt auch davon ab, ob der Abruf der Kontostammdaten an einengende Tatbestandsmerkmale, insbesondere an einen hinreichenden Anlass, geknüpft oder ob er ohne nähere Voraussetzungen, etwa rastermäßig, oder in großem Umfang möglich ist (aa). Ferner ist erheblich, ob der Betroffene ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten hat (bb).

57

aa) Die Neuregelung knüpft die zusätzlichen Ermittlungsbefugnisse an tatbestandliche Voraussetzungen, die auch sonst bei finanzbehördlichen Ermittlungen gelten. So setzt § 93 Abs.7 AO voraus, dass der Abruf zur Festsetzung oder Erhebung von Steuern erforderlich ist. Die Anforderungen an die Erforderlichkeit werden nicht näher umschrieben, so dass die allgemein bei der steuerlichen Ermittlung maßgebenden Anforderungen zu beachten sind (siehe oben unter B II 1 c). Inhaltlich hängt mit dem Grundsatz der Erforderlichkeit die weitere Voraussetzung zusammen, dass ein an den Steuerpflichtigen selbst gerichtetes Auskunftsersuchen nicht zum Erfolg geführt hat oder keinen Erfolg verspricht. Dies ist die gleiche Einschränkung, die für Auskunftsersuchen nach § 93 Abs.1 AO gilt. Ferner sind die allgemein für Ermessensakte der Finanzverwaltung maßgebenden Grenzen zu beachten (vgl § 5 AO). Damit schließt das Gesetz die Ermittlungen von Kontostammdaten "ins Blaue hinein" oder durch anlasslosen rasterhaften Abgleich aller Konten aus.

58

Im Rahmen der hier allein vorzunehmenden Folgenabwägung bedarf es keiner Klärung, ob es verfassungsrechtlich geboten ist, für den automatisierten Abruf der Kontostammdaten weitere, insbesondere strengere Anforderungen zu stellen als allgemein für steuerliche Ermittlungsmaßnahmen. Der vom Bundesministerium der Finanzen verfügte Anwendungserlass zur Abgabenordnung konkretisiert jedenfalls die Schutzvorkehrungen für die Betroffenen. So betont der Anwendungserlass, dass ein Abruf der Kontostammdaten nur anlassbezogen und zielgerichtet und unter Bezugnahme auf eindeutig bestimmte Personen zulässig ist (Nr.2.3 AEAO). Der Erlass schreibt in Nr.2.6 ferner vor, dass dem Betroffenen zunächst Gelegenheit zu geben ist, selbst Auskunft über seine Konten und Depots zu erteilen und entsprechende Unterlagen vorzulegen, es sei denn, der Ermittlungszweck würde dadurch gefährdet. Damit kann der Betroffene seinen ohnehin gegebenen Mitwirkungspflichten nach § 90 AO nachkommen und den Datenzugriff beim Kreditinstitut vermeiden. Auch diese Vorgabe schließt einen Kontenabruf in großem Umfang ohne Prüfung der Erforderlichkeit im Einzelfall aus. Durch diese Vorkehrungen sind die möglichen Belastungen durch die neuen Ermittlungsbefugnisse deutlich abgeschwächt.

59

bb) Das Gewicht des Nachteils für den Betroffenen hängt auch von der Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes ab. Die Inanspruchnahme von Rechtsschutz setzt voraus, dass der Steuerpflichtige Kenntnis von der Maßnahme hat. Die Möglichkeit, effektiven Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, setzt überdies voraus, dass die Abfrage und der zu ihr führende Anlass hinreichend dokumentiert sind.

60

(1) Da § 24c Abs.1 Satz 5 und 6 KWG einen automatisierten und gegenüber dem Kreditinstitut heimlichen Abruf vorsieht, muss die Kenntnisnahme durch den Steuerpflichtigen auf andere Weise gesichert sein. Der Steuerpflichtige erhält jedenfalls Kenntnis, wenn ihm der bevorstehende oder erfolgte Abruf im Zuge der Ermittlungen mitgeteilt wird. Eine solche Mitteilung liegt auch im Interesse der Behörde, da ein Auskunftsersuchen an den Steuerpflichtigen erfahrungsgemäß zu größerem Erfolg führt, wenn er mit Sanktionen bei unrichtigen oder unvollständigen Informationen rechnen muss. Da der Hinweis auf eine Abfrage von Kontostammdaten wegen des Risikos anschließender Ermittlungen eine solche Sanktion sein und damit den Ermittlungserfolg fördern kann, schafft § 93 Abs.7 AO einen Anreiz für die Finanzbehörden, auf die Abrufmöglichkeit oder das Bevorstehen eines Abrufs bei Nichterfüllung des Auskunftsersuchens hinzuweisen. Unterbleibt der Hinweis, können die sonstigen Ermittlungsmaßnahmen gegebenenfalls dem Grundsatz der Erforderlichkeit widersprechen und deswegen rechtswidrig sein.

61

Werden über einen ohne vorherige Information des Betroffenen erfolgten Abruf Konten ermittelt und dient dies als Anlass für weitere Nachforschungen oder für den Erlass oder die Korrektur von Steuerbescheiden oder sonstigen Verwaltungsakten, kann die Tatsache des Abrufs in der Begründung für darauf aufbauende Maßnahmen angeführt sein. Die dadurch bewirkte Kenntnis ermöglicht nachträglichen Rechtsschutz. Eine Sicherheit der nachträglichen Information des Betroffenen über den Abruf besteht insofern allerdings nicht.

62

Inanspruchnahme und Gewährung von Rechtsschutz können nicht nur an fehlender Kenntnis, sondern auch daran scheitern, dass die Abrufmaßnahme nicht so dokumentiert wird, dass ihre Rechtmäßigkeit effektiv überprüft werden kann. § 93 AO sieht die Dokumentation nicht vor. Die in § 24c Abs.4 KWG vorgesehene Protokollierung darf nach Satz 2 nur für Datenschutzzwecke genutzt werden, steht also nicht in Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit einer durch den Datenzugriff ermöglichten Verwaltungsentscheidung zur Verfügung.

63

(2) Die möglichen Mängel in der Vorsorge für effektiven Rechtsschutz werden jedoch durch den Anwendungserlass zur Abgabenordnung und die zum Abruf der Daten vorgesehenen Formulare derart abgemildert, dass eine einstweilige Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht vor der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden nicht geboten ist.

64

(a) Der Anwendungserlass sieht Informationen des Betroffenen auf verschiedene Weise vor. Schon mit der an ihn gerichteten Anforderung von Auskünften soll darauf hingewiesen werden, dass ein Kontenabruf bei nicht hinreichender Sachaufklärung durch die Beteiligten möglich ist (Nr.2.6 AEAO). Ist der Abruf der Kontostammdaten erfolgt und hat sich herausgestellt, dass Konten oder Depots vorhanden sind, die der Beteiligte auf Nachfrage nicht angegeben hatte, ist er über das Ergebnis des Kontenabrufs zu informieren. Hierbei ist der Beteiligte darauf hinzuweisen, dass die Finanzbehörde das betroffene Kreditinstitut nach § 93 Abs.1 Satz 1 AO um Auskunft ersuchen kann, wenn ihre Zweifel durch die Auskunft des Beteiligten nicht ausgeräumt werden (Nr.2.7 Abs.1 AEAO). Wurden die Angaben des Beteiligten durch einen Kontenabruf bestätigt, ist der Beteiligte gleichwohl über die Durchführung des Abrufs zu informieren, beispielsweise durch einen Hinweis im Steuerbescheid (Nr.2.8 AEAO).

65

Die in Nr.2.7 AEAO vorgesehene vorhergehende Information des Betroffenen unterbleibt allerdings, wenn durch sie der Ermittlungszweck gefährdet wird oder sich aus den Umständen des Einzelfalls ergibt, dass eine Aufklärung durch den Beteiligten selbst nicht zu erwarten ist. In diesen Fällen ist der Beteiligte nachträglich über die Durchführung des Kontenabrufs zu informieren (Nr.2.7 Abs.2 AEAO).

66

Auf Grund dieser Verwaltungsanweisungen ist grundsätzlich eine vorherige, jedenfalls aber eine nachfolgende Information des Betroffenen sichergestellt, die es ihm in einer für das vorliegende Verfahren des Eilrechtsschutzes hinreichenden Weise erlaubt, Rechtsschutz nach Maßgabe der dafür geltenden allgemeinen Grundsätze zu erlangen.

67

(b) Die Effektivität des Rechtsschutzes wird gestützt, wenn die Anforderung, Kontostammdaten abzurufen, schriftlich oder elektronisch dokumentiert ist. Dies sehen die zurzeit im Bundesministerium für Finanzen vorbereiteten Formulare vor. Gefordert wird in ihnen unter anderem die Angabe des Aktenzeichens des Vorgangs bei der ersuchenden Behörde, so dass die Gerichte Möglichkeiten zur Überprüfung des Erhebungsanlasses und der sonstigen rechtlichen Voraussetzungen des Ersuchens haben.

68

b) Soweit die Stammdaten von Konten und Depots eines Berufsgeheimnisträgers im Sinne des § 102 AO - wie dem Antragsteller zu 1b - zum Zwecke der Ermittlung seiner Steuerpflicht abgerufen werden, ist er genauso betroffen wie andere Inhaber von Konten und Depots. Führen die Kontostammdaten des Berufsgeheimnisträgers allerdings zu weiteren Ermittlungen, die rechtserhebliche Tatsachen mit Bezug auf andere Personen - etwa die Mandanten - offenbaren, kann dies Auswirkungen auf seine berufliche Tätigkeit haben.

69

Ob - wie der Antragsteller zu 1b befürchtet - durch den von ihm nicht veranlassten automatisierten Abruf der Daten das Vertrauensverhältnis zu Dritten in rechtserheblicher Weise beeinträchtigt werden kann, bedarf im Rahmen der hier vorzunehmenden Folgenabwägung keiner Klärung. Der Anwendungserlass zur Abgabenordnung trägt einer möglichen Beeinträchtigung dadurch hinreichend Rechnung, dass er bei einem Kontenabruf im Verfahren der Besteuerung eines Berufsgeheimnisträgers eine zusätzliche Abwägung zwischen der besonderen Bedeutung der Verschwiegenheitspflicht des Berufsgeheimnisträgers und der Bedeutung der Gleichmäßigkeit der Besteuerung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gebietet. Ferner wird ausdrücklich untersagt, Kontrollmitteilungen über Anderkonten der Berufsgeheimnisträger zu fertigen, die in deren Besteuerungsverfahren festgestellt werden (Nr.2.5 Abs.2 AEAO). Damit besteht auch insoweit kein Anlass für eine einstweilige Anordnung.

70

c) Die nach § 93 Abs.8 AO auf Anforderung der Behörden der Sozialleistungsverwaltung oder der Gerichte erhobenen Kontostammdaten sind in gleicher Weise personenbezogen wie die nach § 93 Abs.7 AO erlangten. Auch unterliegen sie dem Sozialgeheimnis (§ 35 SGB I). Die Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze, insbesondere der Normenbestimmtheit und der Sicherung effektiven Rechtsschutzes, hat für die Antragsteller zu 2 gleiches Gewicht wie für die Antragsteller zu 1. Im Zusammenwirken mit dem Anwendungserlass und den für das Ersuchen vorgesehenen Formularen werden die möglichen Nachteile für die Betroffenen so weit ausgeräumt, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung vor der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden angesichts des öffentlichen Interesses am In-Kraft-Treten des Gesetzes nicht geboten ist.

71

Als Verwaltungsanweisung des Bundesministeriums der Finanzen kann der Anwendungserlass allerdings nur die zu dessen Geschäftsbereich zählenden Behörden binden, also die Finanzbehörden und das Bundesamt für Finanzen. Die ersuchenden Behörden sowie die Gerichte sind beim Vollzug des Gesetzes durch den Anwendungserlass demgegenüber nicht unmittelbar gebunden. Eine einstweilige Anordnung ist gleichwohl nicht geboten, weil davon auszugehen ist, dass die ersuchten Behörden solchen Ersuchen keine Folge leisten werden, die den Anforderungen des Anwendungserlasses und den für das Abrufersuchen vorgesehenen Formularen nicht genügen. § 93 Abs. 8 AO ermöglicht dies durch seinen als Sollvorschrift ausgestalteten Tatbestand.

72

aa) § 93 Abs.8 AO ist allerdings nicht zuverlässig zu entnehmen, welche Bereiche der Sozialverwaltung betroffen sind und welche Behörden und Gerichte dementsprechend das Abrufersuchen vornehmen dürfen. Die in § 93 Abs.8 AO vorgesehene Anknüpfung eines anderen Gesetzes an "Begriffe des Einkommensteuergesetzes" ist schon deshalb nicht eindeutig, weil nicht geklärt wird, welche im Einkommensteuergesetz benutzten Begriffe solche dieses Gesetzes sind. Überdies richten sich die Rechtmäßigkeitsanforderungen an ein Ersuchen um Abruf der Kontostammdaten anders als bei § 93 Abs. 7 AO nicht nach der Abgabenordnung und den Steuergesetzen, sondern ergeben sich aus den für die ersuchenden Stellen maßgebenden sozialrechtlichen Gesetzen. Damit wirkt sich die Unsicherheit über den Anwendungsbereich von § 93 Abs. 8 AO auch auf das Auffinden der Rechtmäßigkeitsanforderungen aus. Allerdings benennt der Anwendungserlass in Nr. 3.2 die Anwendungsbereiche unter Bezugnahme auf entsprechende Gesetze. Ferner bestimmt er, dass ein Kontenabruf in anderen Fällen unzulässig ist, das Ersuchen also von der Finanzbehörde abgelehnt werden muss. Dazu ist sie im Rahmen der Sollregelung des § 93 Abs. 8 AO berechtigt. Damit werden die Anwendungsmöglichkeiten durch den Erlass eingegrenzt, so dass eine einstweilige Anordnung auch hier ausscheidet, solange nach diesen Grundsätzen verfahren wird.

73

bb) § 93 Abs.8 AO sieht vor, dass die ersuchte Behörde das Ersuchen ausführen soll, wenn die ersuchende Stelle versichert, dass ihre eigenen Ermittlungen nicht zum Ziele geführt haben oder keinen Erfolg versprechen. Da die Bindung der Finanzbehörde nur im Rahmen einer Sollvorschrift besteht, braucht die Finanzbehörde das Ersuchen nicht zu befolgen, wenn es Gründe gibt, es nicht auszuführen, etwa bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Versicherung oder an dem Vorliegen sonstiger Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen.

74

In diesem Zusammenhang verlangt das für das Ersuchen vorgesehene Formular Erläuterungen zu den Gründen des Ersuchens, darunter auch zu dessen Erforderlichkeit. Dies ermöglicht es, die Beachtung der in Nr.3.3 AEAO formulierten Subsidiarität der Kontenabfragemöglichkeit einer Plausibilitätskontrolle zu unterwerfen. Von dieser Kontrollmöglichkeit wird auch die in Nr.3.4 Abs.2 AEAO vorgesehene Regelung erfasst, nach der die Versicherung, dass eigene Ermittlungen nicht zum Ziele geführt haben, nur ausreichen kann, wenn der Betroffene auf die Möglichkeit eines Kontenabrufs ausdrücklich hingewiesen worden ist, es sei denn, der Ermittlungszweck würde dadurch gefährdet.

75

cc) § 93 Abs.8 AO könnte im Hinblick auf effektiven Rechtsschutz insofern Bedenken auslösen, als eine Dokumentation des Ersuchens und die Information des Betroffenen über das bevorstehende oder erfolgte Ersuchen nicht vorgesehen sind. Auch insofern sorgen jedoch der Anwendungserlass und ergänzend das für das Ersuchen vorgesehene Formular für Korrektive, die dazu führen, dass einstweiliger Rechtsschutz nicht geboten ist.

76

Hinsichtlich der Voraussetzungen zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verweist Nr.3.7 AEAO auf Informationspflichten der Behörde und Auskunftsrechte der Betroffenen nach dem für die ersuchende Behörde maßgeblichen Recht, etwa § 67a Abs.5 Satz 1, § 83 Abs.1 Satz 1 SGB X, sowie ergänzend auf die Informationsmöglichkeiten nach den Datenschutzgesetzen. Dadurch trägt der Erlass dem Umstand Rechnung, dass ein Rechtsschutzbegehren sich an die ersuchende Behörde zu richten hat und das Bundesministerium der Finanzen nicht befugt ist, auf das für diese anwendbare Recht Einfluss zu nehmen. Konsequenterweise verweist Nr.3.8 AEAO auf die Möglichkeit des Rechtsschutzes vor dem Verwaltungsgericht oder dem Sozialgericht. Implizit geht der Anwendungserlass von der Annahme aus, dass der Betroffene spätestens dann, wenn die Kontenabfrage zu rechtlichen Folgen bei der Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen oder der Festsetzung oder Korrektur von Sozialleistungen führt, Kenntnis von ihr erlangt und nach Maßgabe der Rechtsschutzmöglichkeiten die Gerichte anrufen kann.

77

Die rechtsschutzfähige Dokumentation des Abrufvorgangs wird dadurch gesichert, dass das in Vorbereitung befindliche Formular die Schriftlichkeit des Ersuchens und die Angabe des Aktenzeichens des Vorgangs, der das Ersuchen auslöst, verlangt.

78

d) Die den Kreditinstituten durch die Abrufmöglichkeit drohenden Nachteile sind ebenfalls nicht so gewichtig, dass eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist. Bei der Bewertung der Nachteile muss die schon durch § 24c KWG bewirkte Pflicht zur Führung der Datei außer Ansatz bleiben. Die mit der zusätzlichen Nutzung dieser Datei für Zwecke des § 93 Abs.7 und 8 AO verbundenen Kosten der Kreditinstitute sind vergleichsweise gering. Da die Bank gegenüber ihren Kunden nicht treuwidrig handelt, wenn eine Behörde kraft gesetzlicher Ermächtigung ohne Kenntnis und Mitwirkung der Bank automatisiert Daten aus einer auf Grund gesetzlicher Verpflichtung errichteten Datei abruft, ist entgegen dem Vortrag der Beschwerdeführerin zu 1a auch eine Verletzung des vertraglichen Vertrauensverhältnisses nicht zu befürchten."

 

Auszug aus BVerfG B, 22.03.05, - 1_BvR_2357/04 -,www.BVerfG.de,  Abs.41 ff

§§§

05.012 Kindererziehungszeiten
 
  • BVerfG,     B, 05.04.05,     – 1_BvR_774/02 –

  • BVerfGE_113,1 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.3 Abs.2; (BW) RAVwS_§_11 Abs.3

T-05-04

Zu den Anforderungen des Art.3 Abs.2 GG an die Regelung der Beitragsverpflichtung von Mitgliedern berufsständischer Versorgungswerke, die aus Gründen der Kindererziehung ohne Einkommen sind.

Abs.52

LB 2) Art.3 Abs.2 GG bietet Schutz auch vor faktischen Benachteiligungen. Über eine direkt ans Geschlecht anknüfende unmittelbare Ungleichbehandlung hinaus erlangen aufgrund Art.3 Abs.2 GG die unterschiedlichen Auswirkungen einer Regelung für Frauen und Männer ebenfalls Bedeutung.

Abs.53

LB 3) Die Beitragsregelung in § 11 Abs.3 RAVwS führt zu einer faktischen Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern. Sie bürdet Mitgliedern des Versorgungswerks, die aufgrund von Kindererziehungszeiten vorübergehend einkommenslos sind, erhebliche Nachteile auf, die typischerweise Frauen treffen.

Abs.64

LB 4) Zu den Nachteilen, die in der sozialen Wirklichkeit vor allem Frauen treffen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 11 Absatz 2 und 3 der Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg in der Fassung vom 29.November 1991 (Die Justiz 1994 Seite 5) und in der Fassung vom 4.Dezember 1998 (Die Justiz 1999 Seite 167) ist mit Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht vereinbar, soweit es an einer Regelung fehlt, die Mitglieder des Versorgungswerks von der Beitragspflicht freistellt, wenn diese wegen Kindererziehung höchstens bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes ohne Einkommen sind.

2. § 11 Absatz 2 und 3 der Satzung kann für die vorstehend genannten Mitglieder bis zum In-Kraft-Treten einer verfassungsmäßigen Neuregelung, längstens bis zum 30. Juni 2006, weiter angewendet werden. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.

3. Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

* * *

T-05-04Benachteiligung

51

"Die angegriffene Regelung verstößt gegen das Gleichberechtigungsgebot aus Art.3 Abs.2 GG. Einer Prüfung am Maßstab der weiteren als verletzt gerügten Grundrechte bedarf es daher nicht.

52

1. Art.3 Abs.2 GG bietet Schutz auch vor faktischen Benachteiligungen. Die Verfassungsnorm zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse von Frauen und Männern (vgl BVerfGE_109,64 <89> mwN; auch BVerfGE_87,1 <42>). Durch die Anfügung von Satz 2 in Art.3 Abs.2 GG ist ausdrücklich klargestellt worden, dass sich das Gleichberechtigungsgebot auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt (vgl BVerfGE_92,91 <109>; BVerfGE_109,64 <89>). In diesem Bereich wird die Durchsetzung der Gleichberechtigung auch durch Regelungen gehindert, die zwar geschlechtsneutral formuliert sind, im Ergebnis aber aufgrund natürlicher Unterschiede oder der gesellschaftlichen Bedingungen überwiegend Frauen betreffen (vgl BVerfGE_97,35 <43>; BVerfGE_104,373 <393>). Demnach ist es nicht entscheidend, dass eine Ungleichbehandlung unmittelbar und ausdrücklich an das Geschlecht anknüpft. Über eine solche unmittelbare Ungleichbehandlung hinaus erlangen für Art.3 Abs.2 GG die unterschiedlichen Auswirkungen einer Regelung für Frauen und Männer ebenfalls Bedeutung.

53

2. Die Beitragsregelung in § 11 Abs.3 RAVwS führt zu einer faktischen Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern. Sie bürdet Mitgliedern des Versorgungswerks, die aufgrund von Kindererziehungszeiten vorübergehend einkommenslos sind, erhebliche Nachteile auf (a), die typischerweise Frauen treffen (b).

54

a) Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die während Kindererziehungszeiten auf Berufstätigkeit verzichten und deshalb vorübergehend einkommenslos sind, können sich der Verpflichtung zur Beitragszahlung nach § 11 Abs.3 RAVwS grundsätzlich nicht entziehen, solange sie ihre Zulassung zur Rechtsanwaltschaft aufrechterhalten.

55

aa) Auf der Grundlage des § 8 RAVG, wonach der monatliche Regelpflichtbeitrag nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogen ist, regelt § 11 RAVwS die Beiträge der Mitglieder des Versorgungswerks. Nach der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, die als Ergebnis der Auslegung von Landesrecht dem angegriffenen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde liegt, gehen die §§ 11 ff RAVwS unausgesprochen davon aus, dass - vom Fall der Berufsunfähigkeit abgesehen (vgl § 15 Abs.8 Nr.4 RAVwS) - jedes Mitglied des Versorgungswerks beitragspflichtig ist. Von dieser Auslegung ist für die verfassungsrechtliche Prüfung im Verfassungsbeschwerdeverfahren auszugehen. Sie erscheint nicht nur nach dem Wortlaut und dem systematischen Zusammenhang der maßgebenden Satzungsbestimmungen vertretbar, sondern lässt auch nicht erkennen, dass der Rahmen der landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage überschritten sein könnte. Für die weitere verfassungsrechtliche Prüfung ist daher davon auszugehen, dass fehlendes Einkommen lediglich zu einer verminderten Beitragshöhe bis auf das in § 11 Abs.3 RAVwS geregelte Mindestmaß führt, wobei nach dem der gegenwärtigen Beitragserhebung zugrunde liegenden Satzungsverständnis des Versorgungswerks selbst diese Wirkung aufgrund der Maßgeblichkeit des Einkommens im vorletzten oder - für angestellte Rechtsanwälte - letzten Kalenderjahr gemäß § 11 Abs.2 RAVwS nur verzögert eintreten soll.

56

bb) Im Unterschied zu den Bestimmungen anderer Versorgungswerke (vgl unten B.I.3.a) enthält die Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg demnach keine Regelung, die eine Freistellung von der Beitragsverpflichtung für den Fall ermöglicht, dass ein Mitglied wegen der von ihm übernommenen Kindererziehung über kein Einkommen verfügt. Die Satzung sieht lediglich generell bei Vorliegen einer besonderen Härte die Stundung fälliger Beiträge (§ 15 Abs. 5 RAVwS) sowie bei einer im Einzelfall gegebenen groben Unbilligkeit die Reduzierung des geschuldeten Beitrages (§ 15 Abs.4 RAVwS) vor. Diese Härtefallklauseln gleichen die fehlende Regelung nicht aus. Sie dienen lediglich der Vorsorge zur Vermeidung von Extremfällen (vgl BVerfGE_48,102 <116>), während es bei der Einkommenslosigkeit eines Mitglieds aus Gründen der Kindererziehung um die Bewältigung eines vorhersehbaren typischen Geschehens geht.

57

cc) Da die Satzung nicht nach den Gründen der Einkommenslosigkeit unterscheidet, wird ein Mitglied, das aus Gründen der Kindererziehung auf Berufstätigkeit und Einkommen verzichtet, in gleicher Weise wie ein Mitglied behandelt, das aus anderen Gründen - etwa wegen ausbleibenden beruflichen Erfolges - kein Einkommen erzielt. Das Fehlen von Einkommen kann ungeachtet der jeweiligen Umstände lediglich zur Folge haben, dass sich die Verpflichtung der Höhe nach auf die Entrichtung des Mindestbeitrages nach § 11 Abs.3 RAVwS reduziert, wobei nach der inzwischen geänderten Praxis des Versorgungswerks selbst dieser Vorteil nur in deutlich abgeschwächter Weise eintritt (vgl. oben B.I.2.a aa). Auch eine nur in Höhe des Mindestbeitrages fortbestehende Verpflichtung bedeutet aber für eine junge Familie im Regelfall eine erhebliche finanzielle Belastung. Von ursprünglich zwei Erwerbseinkommmen steht - abgesehen von etwaigen Erziehungsgeldzahlungen - nur noch eines zur Verfügung, aus dem die Beitragsverpflichtung beglichen werden muss. Für Alleinerziehende, die auf Unterstützung oder Unterhaltsleistungen Dritter angewiesen sind, ist die Belastung durch die Beitragspflicht noch schwerwiegender.

58

dd) Die Alternative, durch einen Verzicht auf die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft aus dem Versorgungswerk auszuscheiden (vgl § 10 Abs.2 Satz 1 RAVwS) und sich hierdurch der Beitragsverpflichtung zu entziehen, ist ebenfalls mit erheblichen Nachteilen verbunden.

59

(1) Eine schwerwiegende Folge des durch die Beitragsverpflichtung erzwungenen Zulassungsverzichts stellen die entgangenen Versorgungsansprüche für den Fall der Berufsunfähigkeit dar. Der Kindererziehende kann einen Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente (§ 21 RAVwS) verlieren, ohne dass ihm die gesetzliche Rentenversicherung entsprechenden Schutz bietet.

60

Eine Berufsunfähigkeitsrente steht nach § 21 Abs.1 Halbsatz 1 RAVwS nur einem Mitglied des Versorgungswerks zu. Den Mitgliedstatus hat der Kindererziehende jedoch bewusst aufgegeben. Die Mitgliedschaft kann auch nicht wieder erlangt werden; denn nach Eintritt der Berufsunfähigkeit schließt § 5 Abs.3 RAVwS eine Rückkehr in das Versorgungswerk aus. Wird der Kindererziehende berufsunfähig, kann er eine Rente nach § 21 RAVwS mithin selbst dann nicht verlangen, wenn er zuvor über Jahre hinweg Beiträge an das Versorgungswerk erbracht hat.

61

Ein Ausgleich durch den Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung kann für den Regelfall nicht angenommen werden. Ein Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist - abgesehen von wenigen besonderen Ausnahmefällen - davon abhängig, dass die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt wurde (vgl § 50 Abs.1 Satz 1 Nr.2 SGB VI), was jedenfalls bei der Geburt des ersten Kindes nicht ohne weiteres erwartet werden kann. Vorversicherungszeiten erlangen, anders als etwa in der landwirtschaftlichen Alterssicherung wegen der Rentenversicherungspflicht während der Ausbildungszeit (vgl dazu BVerfGE_109,96 <126>), für Rechtsanwälte typischerweise keine Bedeutung. Berufsanfänger werden sich nach dem Ausscheiden aus dem Referendardienst schon mit Blick auf ihre ohnehin bestehende Beitragsverpflichtung gegenüber dem Versorgungswerk nach § 13 Abs.1 RAVwS für die Möglichkeit der Nachversicherung in dem Versorgungswerk (§ 186 SGB VI) entscheiden.

62

(2) Mit der Aufgabe des Anwaltsstatus ist ein weiterer Nachteil verbunden, der sich auf die berufliche Entwicklung der Kindererziehenden auswirken kann. Die Dauer der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ist für den Erwerb der gleichzeitigen Zulassung bei dem Oberlandesgericht entscheidend. Hierfür verlangt § 226 Abs.2 der Bundesrechtsanwaltsordnung eine fünfjährige Zulassung als Rechtsanwalt bei einem Gericht des ersten Rechtszuges, wobei nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung für die Berechnung der Wartefrist ausschließlich die Dauer der Zulassung entscheidend ist (vgl BGHZ_94,60 <62>).

63

b) Die dargestellten Nachteile treffen in der sozialen Wirklichkeit vor allem Frauen.

64

aa) Trotz des Anstiegs der Zahl berufstätiger Frauen übernehmen im Allgemeinen noch immer Frauen die Kindererziehung und verzichten aus diesem Grund zumindest vorübergehend ganz oder teilweise auf eine Berufstätigkeit. Dies wird nachdrücklich durch den verschwindend geringen Anteil der Erziehungsgeldzahlungen an Männer belegt, der 2,6 % im Jahr 2000 (vgl. Statistisches Bundesamt , Datenreport 2002, 2.Aufl 2003, S.205) betragen hat und im folgenden Jahr auf 2,1 % gesunken ist (vgl Statistisches Bundesamt , Datenreport 2004, S.216). Der geringe Anteil kindererziehender Männer zeigt zudem, dass nicht nur eine kleine Zahl von Frauen von der Benachteiligung betroffen ist.

65

Das Festhalten an der überkommenen Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern wird auch dadurch befördert, dass Löhne und Gehälter berufstätiger Frauen noch immer deutlich hinter denen von Männern zurückbleiben und es mithin für die Familie leichter hinzunehmen ist, wenn die Mutter anstelle des Vaters auf Einkommen aus der Berufstätigkeit verzichtet. So blieb etwa im produzierenden Gewerbe im Jahr 2002 der durchschnittliche Bruttoverdienst von Frauen um 21 % hinter dem der Männer zurück, während im Dienstleistungsbereich das Durchschnittsgehalt der weiblichen Angestellten um 25 % geringer war als das männlicher Angestellter (vgl Statistisches Bundesamt , Datenreport 2004, S.352 f).

66

Es gibt keine Hinweise dafür, dass die Situation in Familien, in denen ein Elternteil oder beide Elternteile dem Anwaltsberuf nachgehen, von dem gesamtgesellschaftlichen Bild grundlegend verschieden ist. Der gegenüber Rechtsanwälten geringere Anteil von Rechtsanwältinnen unter den selbständigen Berufsträgern und die geringere durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Rechtsanwältinnen (vgl Fuchsloch/Schuler-Harms, NJW 2004, S.3065 <3068>) sprechen im Gegenteil dafür, dass auch in dieser Berufsgruppe typischerweise Frauen die Aufgaben der Kinderbetreuung und -erziehung übernehmen.

67

bb) In zeitlicher Hinsicht wirken sich die dargestellten Nachteile wegen der insoweit unzureichenden Betreuungsmöglichkeiten vor allem innerhalb der ersten drei Jahre nach der Geburt eines Kindes und damit während der Kindererziehungszeiten im Sinne des § 56 Abs.1 Satz 1 SGB VI aus. Zum Jahresende 2002 standen in Deutschland für 2,2 Millionen Kinder im Krippenalter nur 190.000 Krippenplätze zur Verfügung. Hieraus errechnet sich ein seit 1998 kaum verändertes Verhältnis zwischen Kinderzahl und Krippenplätzen von knapp 9 %. Dabei ist das Angebot an Krippenplätzen in den neuen Ländern mit einer Relation von 37 % deutlich besser als in Westdeutschland mit lediglich 3 % (vgl Statistisches Bundesamt , Kindertagesbetreuung in Deutschland, 2004, S.25). Ein Kindergartenplatz war hingegen im gleichen Zeitraum für 90 % der Kinder im entsprechenden Alter verfügbar (Statistisches Bundesamt , Kindertagesbetreuung in Deutschland, 2004, S.29).

68

3. Die durch die Satzung des Versorgungswerks bewirkte faktische Benachteiligung von Frauen ist nicht zulässig.

61

Selbst eine unmittelbare Benachteiligung, bei der das Geschlecht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen wird, kann in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein. Nichts anderes gilt für die faktische Benachteiligung, bei der nicht an das Geschlecht angeknüpft wird, sondern sich die Diskriminierung aus den tatsächlichen Auswirkungen einer Regelung ergibt. Die Rechtfertigung einer faktischen Benachteiligung kann indes - ungeachtet weiterer Voraussetzungen - allenfalls dann in Betracht kommen, wenn die diskriminierende Regelung auf hinreichenden sachlichen Gründen beruht (vgl hierzu Art.2 Buchstabe b der Richtlinie 2004/113/EG vom 13.Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABlEG Nr. L 373 vom 21. Dezember 2004, S.37 <40>; Art.2 der Richtlinie 76/207/EWG in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG vom 23.September 2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABlEG Nr.L 269 vom 5.Oktober 2002, S. 15 <17>; EuGHE_86,1607 <1627>; BAGE_83,327 <336 f>). Bereits daran fehlt es im vorliegenden Fall. Weder das Finanzierungssystem und die wirtschaftliche Stabilität des Versorgungswerks (a) noch die Tatsache, dass das Versorgungswerk - anders als die gesetzliche Rentenversicherung - keine Bundeszuschüsse zur Finanzierung von Kindererziehungszeiten erhält (b), kommen als Rechtfertigungsgründe in Betracht. Die Benachteiligung in Gestalt der fortbestehenden Beitragspflicht wird auch nicht durch höhere Leistungen ausgeglichen (c). Schließlich ist die Benachteiligung von Frauen im Versorgungswerk nicht deshalb gerechtfertigt, weil ihnen mit der gesetzlichen Rentenversicherung ein Versorgungssystem zur Verfügung steht, für das eine solche Benachteiligung ausgeschlossen ist (d). ..."

 

Auszug aus BVerfG B, 05.04.05, - 1_BvR_774/02 -,www.BVerfG.de,  Abs.51 ff

§§§

05.013 Bologna-Reformen
 
  • BVerfG,     B, 12.04.05,     – 2_BvQ_6/05 –

  • BVerfGE_112,321 = www.BVerfG.de

  • BVerfGG_§_32

T-05-05

LB 1) Der Erlass einer Einstweiligen Anordnung, der der Antragsgegnerin untersagt, ohne Beteiligung der Länder, mit Bundesmitteln ein "Kompetenzzentrum zur Unterstützung der Bolgona-Reformen" der Hochschulrektorenkonferenz zu fördern, wurde abgelehnt, weil die gebotene Folgenabwägung zu Lasten der Antragstellerin ausfiel.

Abs.58

LB 2) Zur Folgenabwägung in einem Bund-Länder-Streit.

* * *

T-05-05Bund-Länder-Streit-Folgenabwägung

56

"Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt, weil die gebotene Folgenabwägung zu Lasten der Antragstellerin ausfällt.

I.

57

Das Bundesverfassungsgericht muss im Verfahren nach § 32 BVerfGG die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Hauptsacheantrag aber Erfolg hätte, abwägen gege die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Hauptsacheantrag aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl BVerfGE_34,341 <342>; BVerfGE_71,158 <161>; BVerfGE_80,74 <79>; BVerfGE_99,57 <66>; BVerfGE_104,23 <28 f>; BVerfGE_106,253 <261>; stRspr). Bei Würdigung der Umstände, die für oder gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, muss die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache lauten würde, grundsätzlich außer Betracht bleiben (vgl BVerfGE_7,367 <371>; BVerfGE_80,74 <79>; BVerfGE_85,94 <95>; BVerfGE_104,23 <28>).

II.

58

Die Abwägung ergibt, dass die beantragte einstweilige Anordnung unterbleiben muss. Hierfür sprechen folgende Erwägungen:

59

1. Würden die beanstandeten Fördermaßnahmen vorläufig untersagt, bliebe der Antrag in der Hauptsache jedoch erfolglos, so würde in die Belange des Bundes eingegriffen; die Ausübung ihm durch das Grundgesetz zugewiesener Kompetenzen müsste vorübergehend unterbleiben. Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so darf das Bundesverfassungsgericht von seiner Befugnis, den Vollzug von Maßnahmen eines Verfassungsorgans auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen (vgl BVerfGE_82,310 <313>; BVerfGE_96,120 <128 f>; BVerfGE_104,23 <27>; jeweils für den Vollzug von Gesetzen). Denn der Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der einem Verfassungsorgan die Wahrnehmung seiner Befugnisse - wenn auch nur vorübergehend - untersagt wird, ist stets ein erheblicher Eingriff in dessen Gestaltungsfreiheit. Die Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, müssen daher im Vergleich zu Anordnungen, die weniger schwer in die Interessen der Allgemeinheit eingreifen, auch bei Verwaltungsmaßnahmen besonderes Gewicht haben.

60

2. a) Würden die beanstandeten Fördermaßnahmen untersagt, so müsste die Tätigkeit des bei der HRK eingerichteten Kompetenzzentrums, das seine Arbeit bereits aufgenommen hat, bis zur Entscheidung in der Hauptsache eingestellt werden und der Beginn des für den Zeitraum vom 1.April 2005 bis zum 31.März 2007 vorgesehenen Förderprogramms würde sich erheblich verzögern. Denn die HRK verfügt nicht über ausreichende Mittel, die Maßnahmen ohne Beteiligung des Bundes durchzuführen. Eine möglichst zügige Umsetzung der "Bologna-Reformen" an den von der HRK ausgewählten Hochschulen wäre dadurch gefährdet.

61

b) Demgegenüber wiegen die Folgen weniger schwer, wenn die einstweilige Anordnung nicht ergeht, der Antrag in der Hauptsache aber später Erfolg hat. In diesem Fall hätte zwar die Bundesregierung eine verfassungsrechtliche Position der Antragstellerin verletzt; die dadurch möglicherweise eintretenden Folgen wären jedoch für den relativ kurzen Zeitraum bis zum Ergehen einer Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen. Die Studiengänge sollen erst bis zum Wintersemester 2007/2008 umgestellt werden; irreversible Verhältnisse bis zum Ergehen einer Entscheidung in der Hauptsache sind demzufolge nicht zu erwarten. Allenfalls erweisen sich die von der Antragsgegnerin bis zu diesem Zeitpunkt aufgewandten Mittel als nutzlos. Unabhängig hiervon hat der mit der Gewährung der Fördermittel bis zum Ergehen einer Entscheidung in der Hauptsache geltend gemachte Übergriff in die Kompetenzen der Antragstellerin nur geringes Gewicht. Betroffen ist nur eine hessische Hochschule; im Übrigen sind dem Land Hessen eigene Maßnahmen im Rahmen des "Bologna-Prozesses" nicht verwehrt."

 

Auszug aus BVerfG B, 12.04.05, - 2_BvQ_6/05 -,www.dfr/BVerfGE,  Abs.56 ff

§§§

05.014 Beschlagnahme-Datenträger
 
  • BVerfG,     B, 12.04.05,     – 2_BvR_1027/02 –

  • BVerfGE_113,29 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.12, GG_Art.13; StPO_§_94, StPO_§_108 , StPO_§_110, StPO_§_489;

 

1) Die Strafprozessordnung erlaubt die Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und hierauf gespeicherten Daten als Beweisgegenstände im Strafverfahren.

 

2) Bei Durchsuchung, Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und darauf vorhandenen Daten muss der Zugriff auf für das Verfahren bedeutungslose Informationen im Rahmen des Vertretbaren vermieden werden.

 

3) Zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen ist ein Beweisverwertungsverbot als Folge einer fehlerhaften Durchsuchung und Beschlagnahme von Datenträgern und darauf vorhandenen Daten geboten.

§§§

05.015 Global Positioning System
 
  • BVerfG,     U, 12.04.05,     – 2_BvR_581/01 –

  • BVerfGE_112,304 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1; StPO_§_100c Abs.1 Nr.1b

T-05-06

1) § 100c Abs.1 Nr.1 Buchstabe b StPO entspricht als Ermächtigungsgrundlage für Beweiserhebungen unter Einsatz des Global Positioning System und die anschließende Verwertung dieser Beweise den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

Abs.51

2) Beim Einsatz moderner, insbesondere dem Betroffenen verborgener, Ermittlungsmethoden müssen die Strafverfolgungsbehörden mit Rücksicht auf das dem "additiven" Grundrechtseingriff innewohnende Gefährdungspotential besondere Anforderungen an das Verfahren beachten.

Abs.61

3) Wegen des schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten informationstechnischen Wandels muss der Gesetzgeber die technischen Entwicklungen aufmerksam beobachten und notfalls durch ergänzende Rechtssetzung korrigierend eingreifen. Dies betrifft auch die Frage, ob die bestehenden verfahrensrechtlichen Vorkehrungen angesichts zukünftiger Entwicklungen geeignet sind, den Grundrechtsschutz effektiv zu sichern und unkoordinierte Ermittlungsmaßnahmen verschiedener Behörden verlässlich zu verhindern.

* * *

T-05-06Beweiserhebung mit GPS

45

"Den angegriffenen Entscheidungen der Strafgerichte liegt die zutreffende Auffassung zu Grunde, dass § 100c Abs.1 Nr.1 Buchstabe b StPO eine Ermächtigungsgrundlage für Beweiserhebungen unter Einsatz des GPS und die anschließende Verwertung dieser Beweise ist. Die Vorschrift genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit strafprozessualer Eingriffsnormen (1.) und ist auch im Übrigen verfassungsgemäß (2.).

46

1. Da die strengere Fassung des Gebots der Gesetzesbestimmtheit in Art.103 Abs.2 GG für Vorschriften des Strafverfahrensrechts grundsätzlich keine Geltung beansprucht (vgl BVerfGE_25,269 <286 f>; BVerfGE_63,343 <359> ), ergeben sich die Anforderungen an Normenklarheit und Tatbestandsbestimmtheit hier aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art.20 Abs.3, Art.8 Abs.1 GG). Danach muss eine Norm in ihren Voraussetzungen und in ihrer Rechtsfolge so formuliert sein, dass die von ihr Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können (vgl BVerfGE_21,73 <79>; BVerfGE_25,269 <285>; BVerfGE_87,287 <317 f>; stRspr).

47

a) Der Gesetzgeber hat den Einsatz technischer Mittel in § 100c Abs.1 Nr.1 Buchstabe b StPO nur bei einer Anlasstat "von erheblicher Bedeutung" zugelassen. Auf weitere Konkretisierung, etwa mittels eines Straftatenkatalogs, hat er verzichtet. Das Bundesverfassungsgericht hat freilich wiederholt festgestellt, dass schon das Merkmal der "erheblichen Bedeutung" Grundrechtseingriffe im Strafverfahren einer hinreichend bestimmten Begrenzung unterwirft. Eine solche Straftat muss mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl BVerfGE_103,21 <34>; BVerfGE_107,299 <322>; BVerfGE_109,279 <344>).

48

b) Eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Konkretisierung ist auch bei der Auslegung des in § 100 c Abs.1 Nr.1 Buchstabe b StPO verwendeten Merkmals "besondere für Observationszwecke bestimmte technische Mittel" möglich.

49

aa) Der in den angegriffenen Urteilen der Strafgerichte enthaltene Hinweis, bei dem GPS handele es sich letztlich nur um eine Weiterentwicklung des vom Gesetzgeber beispielhaft genannten technischen Mittels des Peilsenders (vgl BTDrucks 12/989, S.39), greift zwar zu kurz. Der erfolgreiche Einsatz eines Peilsenders setzt zumindest ein ungefähres Wissen um den aktuellen Aufenthaltsort des Beschuldigten voraus. Auf diese erhebliche Begrenzung der Einsatzmöglichkeiten trifft der Einsatz des GPS nicht.

50

Das Bestimmtheitsgebot verlangt vom Gesetzgeber, dass er technische Eingriffsinstrumente genau bezeichnet und dadurch sicherstellt, dass der Adressat den Inhalt der Norm jeweils erkennen kann (vgl BVerfGE 87,287 <317 f>). Das Bestimmtheitsgebot verlangt aber keine gesetzlichen Formulierungen, die jede Einbeziehung kriminaltechnischer Neuerungen ausschließen. Wegen des schnellen und für den Grundrechtsschutz riskanten (vgl BVerfGE_65,1 <42 f> ) informationstechnischen Wandels, dessen Gefahren für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch der Sachverständige Prof Dr G in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat beschrieben hat, muss der Gesetzgeber die technischen Entwicklungen aufmerksam beobachten und bei Fehlentwicklungen hinsichtlich der konkreten Ausfüllung offener Gesetzesbegriffe durch die Strafverfolgungsbehörden und die Strafgerichte notfalls durch ergänzende Rechtssetzung korrigierend eingreifen (vgl BVerfGE_90,145 <191>).

51

bb) Die Verwendung des Merkmals "besondere für Observationszwecke bestimmte technische Mittel" wird diesen Anforderungen gerecht. Was damit gemeint ist, ist in seiner Zielrichtung leicht verständlich und lässt sich mit den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung konkretisieren.

52

Durch die systematische Abgrenzung zu den in § 100c Abs.1 Nr.1 Buchstabe a StPO genannten Mitteln einfacher optischer Überwachungstätigkeit einerseits und den durch § 100c Abs.1 Nrn.2 und 3 StPO geregelten akustischen Überwachungs- und Aufzeichnungstechniken andererseits hat der Gesetzgeber einen Bereich hinreichend bestimmt abgegrenzt, in dem moderne Kriminaltechnik zur Anwendung kommen darf, die in anderer Weise die weitere Aufklärung des Sachverhalts oder die Ortung einer Person möglicht macht. Es geht um Ortung und Aufenthaltsbestimmung durch Beobachtung mit technischen Mitteln. Innerhalb dieses Bereichs hält sich die Verwendung des GPS. Gegenüber Bewegungsmeldern und Nachtsichtgeräten (vgl Meyer-Goßner, StPO, 47.Aufl, 2004, § 100 c Rn.2) zeichnet sich dieses System zwar durch eine verbesserte Flexibilität im Einsatz und eine erhöhte Genauigkeit der Ergebnisse aus. Andererseits unterliegt aber auch das GPS auf Grund seiner technischen Spezifikation Beschränkungen beim Empfang in geschlossenen Räumen oder innerhalb von Häuserschluchten, wie der Sachverständige Prof Dr T in der mündlichen Verhandlung näher erläutert hat. Bei dieser Sachlage musste der Gesetzgeber nicht davon ausgehen, dass das GPS zu einem Observationsinstrument besonderer Art und spezifischer Tiefe werden könnte, dessen Einsatz von Verfassungs wegen nur unter restriktiveren Voraussetzungen gestattet werden darf.

53

2. Die Regelung in § 100c Abs.1 Nr.1 Buchstabe b StPO genügt auch im Übrigen den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

54

a) Der Gesetzgeber ist auf Grund des Urteils des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 3.März 2004 - 1 BvR 2378/98 ua - (BVerfGE 109,279 <363 ff, 381>) verpflichtet, bezüglich der Regelung über die Benachrichtigung der Beteiligten in § 101 StPO, die mit Art.19 Abs.4 GG nur teilweise in Einklang steht, bis zum 30.Juni 2005 einen verfassungsgemäßen Rechtszustand herzustellen.

55

b) Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art.2 Abs.1 GG iVm Art.1 Abs.1 GG) durch die Verwendung von Instrumenten technischer Observation erreichen in Ausmaß und Intensität typischerweise nicht den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung (vgl. dazuBVerfGE 80,367 <375>; 109,279 <319> ); so ist es auch hier. Der Gesetzgeber durfte zusätzlich berücksichtigen, dass sich der Grundrechtseingriff durch den Einsatz jener Mittel im Ergebnis auch zugunsten der Betroffenen auswirken kann. Dies gilt etwa dann, wenn durch die technisch gestützte Observation ein tiefer gehender Eingriff mit Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte - etwa Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Worts nach § 100 c Abs.1 Nr.2 iVm Abs.2 Satz 3 StPO in einem von dem Beschuldigten benutzten Personenkraftwagen - vermieden werden kann. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber die Zulassung der Maßnahme bloß von einem Anfangsverdacht abhängig gemacht hat. Es war ihm auch nicht verwehrt, den Einsatz dieser Mittel an die im unmittelbaren systematischen Zusammenhang des § 100c StPO niedrigste Subsidiaritätsstufe ("wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise weniger erfolgversprechend oder erschwert wäre") zu binden (vgl dazu BVerfGE 109,279 <342 f.>).

56

c) Der Gesetzgeber war jedenfalls nicht schon im Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 100c Abs.1 Nr.1 Buchstabe b StPO von Verfassungs wegen gehalten, länger andauernde technische Observationsmaßnahmen unter Richtervorbehalt zu stellen. Er durfte zunächst die rechtstatsächliche Entwicklung abwarten. Er hat durch Art.1 Nr.10 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 vom 2.August 2000 (BGBl I S.1253, 1255) - mit Wirkung zum 1.November 2000 § 163 f Abs.4 StPO eingefügt. Die Vorschrift ergänzt § 100c Abs.1 Nr.1 Buchstabe b StPO, indem sie für längerfristige Observationen des Beschuldigten, unabhängig vom Einsatz besonderer technischer Mittel, zusätzliche Voraussetzungen formuliert und eine richterliche Entscheidung für Observationen, die mehr als einen Monat andauern, anordnet.

57

In den Gesetzgebungsverfahren, die schließlich zu der heutigen Regelung geführt haben, war unklar geblieben, ob es nach den Vorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.Dezember 1983 ( BVerfGE_65,1 <43 ff>) einer solchen Regelung aus Gründen der Verfassung bedürfe (vgl BTDrucks 11/1878, S.8; BTDrucks 11/7663, S.38 und Anlage 2, S.53; BTDrucks 13/9718, S.21 f und Anlage 2, S.39 f). Im Ergebnis hat sich der Gesetzgeber für die zusätzliche Sicherung des Grundrechtsschutzes durch Richtervorbehalt entschlossen (vgl dazu BVerfGE_42,212 <220>; BVerfGE_103,142 <151> ). Die in § 163 f Abs.4 Satz 2 StPO getroffene Regelung ist Ausdruck der verfassungsrechtlich geforderten Vergewisserung des Gesetzgebers im Bereich der modernen technischen Ermittlungseingriffe des Strafprozessrechts (siehe oben C.I.1.b) aa); sie ist Ergebnis einer gesetzgeberischen Entscheidung, die Grundrechte des Beschuldigten bei langfristiger Observation prozedural besonders zu sichern.

58

d) Durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 ist die Strafprozessordnung um Bestimmungen über die Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht, sonstige Verwendung von Informationen für verfahrensübergreifende Zwecke und Dateiregelungen ergänzt worden (§§ 474 ff StPO). Damit liegen bereichsspezifische Regelungen zum Schutz personenbezogener Daten vor (vgl BVerfGE 65,1 <46>). Auf Einzelheiten des Regelungswerks kommt es hier nicht an.

59

3. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bedurfte es keiner gesonderten gesetzlichen Regelung für einen Einsatz mehrerer Ermittlungsmaßnahmen zur selben Zeit. Vielmehr durfte der Gesetzgeber davon überzeugt sein, dass eine von Verfassungs wegen stets unzulässige "Rundumüberwachung" (vgl BVerfGE_65,1 <43>; BVerfGE_109,279 <323> ), mit der ein umfassendes Persönlichkeitsprofil eines Beteiligten erstellt werden könnte, durch allgemeine verfahrensrechtliche Sicherungen auch ohne spezifische gesetzliche Regelung grundsätzlich ausgeschlossen sein werde. (Abs.60)

60

a) Beim Einsatz moderner, insbesondere dem Betroffenen verborgener, Ermittlungsmethoden müssen die Strafverfolgungsbehörden mit Rücksicht auf das dem "additiven" Grundrechtseingriff innewohnende Gefährdungspotential aber besondere Anforderungen an das Verfahren beachten.

61

aa) Es ist sicherzustellen, dass die eine Ermittlungsmaßnahme beantragende oder anordnende Staatsanwaltschaft als primär verantwortlicher Entscheidungsträger über alle Ermittlungseingriffe informiert ist, die den Grundrechtsträger im Zeitpunkt der Antragstellung und im Zeitpunkt einer zeitlich versetzten Ausführung der Maßnahme jeweils treffen; sonst wäre eine verantwortliche Prüfung und Feststellung übermäßiger Belastung nicht möglich. Dazu bedarf es nicht nur - was selbstverständlich ist (vgl § 168 b Abs. 1, § 199 Abs.2 Satz 2 StPO) - einer vollständigen Dokumentation aller ausgeführten oder ausführbaren Ermittlungseingriffe in den Akten (vgl.BVerfGE 63, 45 <64>). Darüber hinaus ist - insbesondere durch die Nutzung des länderübergreifenden staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters (§§ 492 ff StPO) - sicherzustellen, dass nicht verschiedene Staatsanwaltschaften ohne Wissen voneinander im Rahmen von Doppelverfahren in Grundrechte eingreifen.

62

bb) Für den Fall, dass neben den Strafverfolgungsinstanzen auch Verfassungsschutzbehörden und Nachrichtendienste ermittelnde Maßnahmen anordnen und vollziehen, hat der Gesetzgeber in § 492 Abs.4 StPO die Möglichkeit geschaffen, dass grundlegende, den Staatsanwaltschaften zugängliche Verfahrensdaten auch den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, dem Amt für den Militärischen Abschirmdienst und dem Bundesnachrichtendienst zur Verfügung gestellt werden, sofern diesen Behörden ein Auskunftsrecht gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zusteht. Diese Regelung, die in erster Linie der Verfahrensvereinfachung dienen sollte (BTDrucks 12/6853, S.37), hat zugleich eine Voraussetzung für die grundrechtssichernde Abstimmung der Ermittlungstätigkeit geschaffen.

63

b) Der Gesetzgeber wird darüber hinaus zu beobachten haben, ob die bestehenden verfahrensrechtlichen Vorkehrungen auch angesichts zukünftiger Entwicklungen geeignet sind, den Grundrechtsschutz effektiv zu sichern. Es dürfte zu erwägen sein, ob durch ergänzende Regelung der praktischen Ermittlungstätigkeit - etwa in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren - unkoordinierte Ermittlungsmaßnahmen verschiedener Behörden verlässlich verhindert werden können.

64

An diesen Maßstäben gemessen sind die Auslegung und Anwendung des § 100c Abs.1 Nr.1 Buchstabe b StPO in den Urteilen des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs nicht zu beanstanden.

65

1. Die Fachgerichte haben die durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gezogenen Grenzen beim Einsatz des GPS beachtet. Die Auslegung und Anwendung der Subsidiaritätsklausel begegnet angesichts des konspirativen Verhaltens der Beschuldigten und der Schwere der ihnen vorgeworfenen Taten keinen Bedenken.

66

2. Die durch das Verbot der Totalüberwachung (oben C.I.3.) dem kumulativen Einsatz moderner strafprozessualer Ermittlungsmethoden gezogenen Grenzen sind gewahrt. Die Abwägung der Strafgerichte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei der maßgeblich berücksichtigt wurde, dass die ohnehin nur bei Benutzung des Personenkraftwagens des Mitangeklagten durchgeführte GPS-Observation durch andere Observationsmaßnahmen im Schwerpunkt nur an den Wochenenden ergänzt worden sei und sich nur in begrenztem Umfang auf das besonders sensible Abhören des gesprochenen Worts bezogen habe, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden."

 

Auszug aus BVerfG U, 12.04.05, - 2_BvR_581/01 -,www.BVerfG.de,  Abs.45 ff

§§§

05.016 Pflichtteilsrecht
 
  • BVerfG,     B, 19.04.05,     – 1_BvR_1644/00 –

  • BVerfGE_112,332 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.14 Abs.1 S.1, GG_Art.6 Abs.1; BGB_§_2303 Abs.1, BGB_§_2333 Nr.1 +2, BGB_§_2345 Abs.2, BGB_§_2339 Abs.1 Nr.1;

 

1) Die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass wird durch die Erbrechtsgarantie des Art.14 Abs.1 Satz 1 in Verbindung mit Art.6 Abs.1 GG gewährleistet.

 

2) Die Normen über das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers (§ 2303 Abs.1 BGB), über die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr.1 und 2 BGB und über den Pflichtteilsunwürdigkeitsgrund des § 2345 Abs.2, § 2339 Abs.1 Nr.1 BGB sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

 

3) Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung des § 2333 Nr.1 BGB.

§§§

05.017 2. und 3. Lesung
 
  • BVerfG,     B, 28.04.05,     – 2_BvE_1/05 –

  • BVerfGE_12,363 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.38 Abs.1 S.2, GG_Art.93 Abs.1 Nr.1, GG_Art.93 Abs.1 Nr.4a; BVerfGG_§_63, BVerfG_§_90 Abs.1, BVerfGE_§_32

T-05-07

LB 1) Der Antrag im Organstreitverfahren festzustellen, dass der Beschluss des Ältestenrates über das Zustimmungsgesetz zum Vertrag über eine Verfassung für Europa in zweiter und dritter Lesung zu beschließen, verstoße gegen Normen des GG wurde verworfen.

Abs.11

LB 2) Die auf das gleiche Ziel gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

* * *

T-05-07Antrag 2. und 3. Lesung abzusetzen

6

"Der Antrag im Organstreitverfahren ist unzulässig.

7

1. Der Antragsteller ist als Abgeordneter des Deutschen Bundestages parteifähig im Sinne von Art.93 Abs.1 Nr.1 GG, § 63 BVerfGG (vgl BVerfGE_10,4 <10>; BVerfGE_108,251 <270>; stRspr). Es handelt sich hier auch um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten von Beteiligten im Sinne von Art.93 Abs.1 Nr.1 GG. Gegenstand des Verfahrens ist der Streit der Beteiligten darüber, inwieweit der Deutsche Bundestag durch die Zustimmung zu einem von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten völkerrechtlichen Vertrag die jedem Abgeordneten durch die Verfassung zugewiesenen und gewährleisteten Aufgaben und Rechte (Art.38 Abs.1 Satz 2 GG) einschränken kann.

8

2. Der Antragsteller ist jedoch nicht antragsbefugt. Im Organstreit kann der einzelne Abgeordnete die Verletzung oder Gefährdung jedes Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist, geltend machen. Sein Antrag ist nach § 64 Abs.1 BVerfGG zulässig, wenn nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die beanstandete Maßnahme Rechte des Antragstellers, die aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten erwachsen, verletzt oder unmittelbar gefährdet (vgl BVerfGE_94,351 <362 f>; BVerfGE_99,19 <28>; BVerfGE_104,310 <325>; BVerfGE_108,251 <271 f>).

9

Der Antragsteller rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art.38 Abs.1 Satz 2 GG durch die vom Antragsgegner beschlossene Terminierung der zweiten und dritten Beratung über das Gesetz zu dem Vertrag vom 29.Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa (vgl BTDrucks 15/4900) auf den 12./13.Mai 2005. Der Beschluss des Ältestenrates ist eine im Rahmen der parlamentarischen Autonomie getroffene Entscheidung, die eine rechtserhebliche Maßnahme im Sinne des § 64 Abs.1 BVerfGG - die Zustimmung oder Ablehnung des Gesetzentwurfs durch den Deutschen Bundestag - erst vorbereitet.

10

Die hier angegriffene Terminierung kann Rechte des Antragstellers nicht verletzen. Mit der zweiten und dritten Beratung erfüllt der Antragsgegner die im parlamentarischen Binnenrecht vorgesehenen Voraussetzungen (vgl § 20 Abs.1 in Verbindung mit §§ 78 ff der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages) eines ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahrens. Zugleich ermöglicht er die von der Verfassung formulierte Erwartung, dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in der öffentlichen Beratung (vgl Art.42 Abs.1 Satz 1 GG) eine Meinung über den Gesetzentwurf bilden können. Erst die freie Debatte im Deutschen Bundestag verbindet das rechtstechnische Gesetzgebungsverfahren mit einer substantiellen, auf die Kraft des Arguments gegründeten Willensbildung, die es dem demokratisch legitimierten Abgeordneten ermöglicht, die Verantwortung für seine Entscheidung zu übernehmen.

11

"Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig ist.

12

1. Eine Verfassungsbeschwerde ist nur dann zulässig, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, durch den angegriffenen Hoheitsakt in einem verfassungsbeschwerdefähigen Recht (Art.93 Abs.1 Nr.4a GG, § 90 Abs.1 BVerfGG) unmittelbar und gegenwärtig verletzt zu sein. Der Beschwerdeführer muss hinreichend substantiiert darlegen, dass eine solche Verletzung möglich ist (vgl BVerfGE_28,17 <19>; BVerfGE_52,303 <327>; BVerfGE_65,227 <232 f>; BVerfGE_89,155 <171>).

13

2. Daran fehlt es hier. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen den Beschluss des Ältestenrates des Deutschen Bundestages, am 12./13.Mai 2005 im Bundestag über das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 29.Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa in zweiter und dritter Lesung zu beschließen. Tauglicher Gegenstand der Verfassungsbeschwerde wäre erst das Zustimmungsgesetz selbst (vgl BVerfGE_89,155 <177>), nicht bereits dessen Lesung und die Beschlussfassung hierüber im Deutschen Bundestag. Insoweit fehlt es an einem Akt der öffentlichen Gewalt, der Rechte des Beschwerdeführers berühren könnte (Art.93 Abs.1 Nr.4a GG, § 90 Abs.1 BVerfGG). Lesung und Beschlussfassung sind integrale Bestandteile des Gesetzgebungsverfahrens; sie entfalten dem Bürger gegenüber keine unmittelbare Außenwirkung.

14

Ebenso wenig kann sich der Beschwerdeführer hier dagegen wenden, dass sich der Deutsche Bundestag überhaupt mit der Angelegenheit befasst und diese auf die Tagesordnung setzt. Der Beschluss des Ältestenrates erzeugt dem Bürger gegenüber keine rechtserheblichen Wirkungen.

15

3. Den Interessen des Beschwerdeführers ist hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass er gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 29.Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa unmittelbar nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens in Bundestag und Bundesrat, anders als sonst bei Gesetzen üblich, schon vor Ausfertigung und Verkündung mit der Verfassungsbeschwerde vorgehen kann (vgl BVerfGE_1,396 <411 ff>; BVerfGE_24,33 <53 f>). Eines weiterreichenden Schutzes unter dem Gesichtspunkt einer Grundrechtsgefährdung bedarf es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.

16

Der Bundespräsident hat etwa im Verfahren betreffend das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht, in dem die Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt hatten, um eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik Deutschland an den Unions-Vertrag zu verhindern, erklärt, er werde die Ratifikationsurkunde erst unterzeichnen, wenn das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entschieden habe. Desgleichen sicherte die Bundesregierung im damaligen Verfahren zu, die Ratifikationsurkunde vorerst nicht zu hinterlegen (vgl BVerfGE_89,155 <165>).

17

Vor diesem Hintergrund erweist sich der Antrag auf andere Abhilfe (Art.93 Abs.1 Nr.4a in Verbindung mit Art.20 Abs.4 GG), ungeachtet der Frage seiner Statthaftigkeit, gegenüber der Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 29.Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa als subsidiär (vgl § 90 Abs.2 BVerfGG).

18

Mangels Zulässigkeit der Hauptsacheanträge erledigen sich die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung."

 

Auszug aus BVerfG B, 28.04.05, - 2_BvE_1/05 -,www.dfr/BVerfGE,  Abs.6 ff

§§§

05.018 Bestandsrenten
 
  • BVerfG,     B, 11.05.05,     – 1_BvR_368/97 –

  • BVerfGE_112,368 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.14 Abs.1 S.1; SGB-VI_§_307a Abs.1, SGB_VI_§_315a S.1 4+5

 

Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gesetzliche Überleitung von Renten aus dem Beitrittsgebiet (Bestandsrenten) in die gesamtdeutsche Rentenversicherung ( § 307a, § 315a SGB VI).

§§§

05.019 Abordnung
 
  • BVerfG,     B, 23.05.05,     – 2_BvR_583/05 –

  • www.BVerfG.de = www.BVerfG.de

  • GG_Art.33 Abs.5

T-05-08

LB 1) Substantiierte Anhaltspunkte für eine Gesundheitsschädigung des Beamten sind im Rahmen der Ermessensentscheidung des Dienstherrn hinsichtlich der Abordnung angemessen zu berücksichtigen.

Abs.11

LB 2) Mit seiner Auffassung, selbst eine etwaige psychische Erkrankung vermöge den gesetzlichen Wertungsvorrang zu Gunsten eines Sofortvollzugs der Abordnung nicht umzukehren, missachtet das Oberverwaltungsgericht die aus Art.33 Abs.5 GG folgende Berücksichtigungspflicht. Die vom Grundgesetz geforderte Abwägung zwischen den Belangen des Beamten einerseits und den dienstlichen Bedürfnissen andererseits ist daher unterblieben.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 15.März 2005 - 2 B 12264/04.OVG - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

2) Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

3) Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

* * *

T-05-08Fürsorgepflicht + Abordnung

8

"Die zulässige Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Art.33 Abs.5 GG angezeigt ist (vgl § 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

9

1. Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art.33 Abs.5 GG.

10

a) Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber seinen Beamten gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, die gemäß Art.33 Abs.5 GG zu beachten sind (vgl BVerfGE_8,332 <356 f>; BVerfGE_43,154 <165 f>; BVerfGE_46,97 <117>; BVerfGE_83,89 <100>; BVerfGE_106,225 <232> ). Sie verpflichtet den Dienstherrn, bei seinen Entscheidungen die wohlverstandenen Interessen des Beamten in gebührender Weise zu berücksichtigen (vgl BVerfGE_43,154 <165> sowie Beschluss der 3.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15.Dezember 1989 - 2 BvR 1574/89 -, NVwZ_90,853). Substantiierte Anhaltspunkte für eine Gesundheitsschädigung des Beamten sind daher auch im Rahmen der Ermessensentscheidung des Dienstherrn hinsichtlich der Abordnung angemessen zu berücksichtige (vgl. für den Fall der Versetzung auch bereits BVerwG 2 Urteil vom 13.Februar 1969 - II C 114.65 -, Buchholz 23 § 26 BBG Nr.11)

11

b) Diesen, aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben folgenden Maßstab hat das Oberverwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung verkannt. Mit seiner Auffassung, selbst eine etwaige psychische Erkrankung vermöge den gesetzlichen Wertungsvorrang zu Gunsten eines Sofortvollzugs der Abordnung nicht umzukehren, missachtet das Oberverwaltungsgericht die aus Art.33 Abs.5 GG folgende Berücksichtigungspflicht. Die vom Grundgesetz geforderte Abwägung zwischen den Belangen des Beamten einerseits und den dienstlichen Bedürfnissen andererseits ist daher unterblieben. Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme oder zu möglichen Alternativen finden sich demgemäß nicht.

12

c) Hieran vermag auch der vom Oberverwaltungsgericht gegebene Hinweis auf die besonderen Anforderungen an die vom Beschwerdeführer derzeit ausgeübten Aufgaben nichts zu ändern. Dies ergibt sich zunächst schon daraus, dass der Dienstherr selbst eine besondere Dringlichkeit offenbar nicht gesehen hat, als er die Abordnung am 7.Juli 2004 mit Wirkung erst zum 1.Januar 2005 angeordnet hat: Denn damit hat er es offenkundig als mit den dienstlichen Interessen vereinbar angesehen, dass der Beschwerdeführer zunächst für weitere fünfeinhalb Monate die ihm übertragene Aufgabe versieht. In rechtlicher Hinsicht übersieht das Oberverwaltungsgericht aber vor allem, dass mit diesen Gründen zwar möglicherweise eine sofortige Entfernung des Beschwerdeführers aus seinem konkret funktionalen Amt gerechtfertigt werden könnte, damit aber nicht zugleich auch die Zumutbarkeit der Zuweisung an die Justizvollzugsanstalt W entschieden ist. Auch diese ist aber vom Regelungsgehalt der Abordnungsverfügung vom 7.Juli 2004 erfasst und gerade hiergegen hat sich der Beschwerdeführer wiederholt und mit fachärztlichen Bescheinigungen gewandt. Erwägungen zur Zumutbarkeit oder Verhältnismäßigkeit der Abordnung gerade an diese Dienststelle finden sich in der angegriffenen Entscheidung jedoch nicht. Angesichts der ausführlichen und differenzierten Erwägungen des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses bestand hierzu aber bereits nach dem prozessualen Geschehensablauf hinreichend Anlass.

13

Mit der vom Oberverwaltungsgericht vertretenen Auffassung vom generellen Wertungsvorrang des Sofortvollzugs wird daher nicht nur der grundrechtliche Maßstab für die Obersatzbildung verkannt, der Beschluss verfehlt vielmehr auch eine angemessene Würdigung der im konkreten Fall widerstreitenden Interessen.

14

2. Da der angegriffene Beschluss bereits wegen dieses Grundrechtsverstoßes keinen Bestand haben kann, können die übrigen vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen auf sich beruhen.

15

3. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt sich mit dieser Entscheidung.

16

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs.2 BVerfGG."

 

Auszug aus BVerfG B, 23.05.05, - 2_BvR_583/05 -,www.BVerfG.de,  Abs.8 ff

§§§

05.020 Presseverlag
 
  • BVerfG,     B, 24.05.05,     – 1_BvR_1072/01 –

  • BVerfGE_113,63 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.5 Abs.2; (NW) VerfSchG_§_15 Abs.2

 

1) Der Hinweis im Verfassungsschutzbericht eines Landes auf den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen eines Presseverlags kommt einem Eingriff in die Pressefreiheit gleich und bedarf deshalb der Rechtfertigung durch ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art.5 Abs.2 GG. § 15 Abs.2 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen ist ein solches Gesetz.

 

2) Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung eines Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen eines Presseverlags.

§§§

05.021 Fitness-Center
 
  • BVerfG,     B, 24.05.05,     – 1_BvR_906/04 –

  • www.BVerfG.de = www.BVerfG.de

  • GG_Art.6/4; BGB_§_281, BGB_§_280 Abs.1 S.2

T-05-09

LB 1) Die Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften ist zwar Sache der ordentlichen Gerichte. Diese müssen aber dabei Bedeutung und Tragweite der von ihren Entscheidungen berührten Grundrechte interpretationsleitend berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt.

Abs.9

LB 2) Zur fristlosten Kündigung eines Fitness-Center-Vertrages und der Verurteilung wegen Schadensersatzes durch eine Schwangere.

* * *

T-05-09Zivilrecht + Art.6 Abs.4 GG

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"Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art.6 Abs.4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs.1 Satz 1 BVerfGG sind gegeben.

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1. Das angegriffene Urteil verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art.6 Abs.4 GG.

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a) Art.6 Abs.4 GG ist Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die für den gesamten Bereich des privaten und des öffentlichen Rechts verbindlich ist (vgl BVerfGE_32,273 <277> ; BVerfG, 3.Kammer des Zweiten Senats, EuGRZ 2004, S.437 <438 f.>). Danach hat jede, insbesondere jede werdende Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft (vgl BVerfGE_52,357 <365>; BVerfGE_55,154 <157 f> ). Der Schutzauftrag, der darin zum Ausdruck kommt, beruht mit darauf, dass die Mutterschaft auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt (vgl BVerfGE_88,203 <258 f> ). Dem ist auch bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts Rechnung zu tragen (vgl BVerfG, 3.Kammer des Zweiten Senats, aaO).

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Die Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften ist zwar Sache der ordentlichen Gerichte. Diese müssen aber dabei Bedeutung und Tragweite der von ihren Entscheidungen berührten Grundrechte interpretationsleitend berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl.BVerfGE 7, 198 <205 ff.> ). Das verlangt in der Regel eine Abwägung zwischen den widerstreitenden grundrechtlichen Schutzgütern, die im Rahmen der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale der zivilrechtlichen Vorschriften vorzunehmen ist und die besonderen Umstände des Falles zu berücksichtigen hat (vgl BVerfGE_99,185 <196> ). Da der Rechtsstreit jedoch ein privatrechtlicher bleibt, ist das Bundesverfassungsgericht auf die Prüfung beschränkt, ob die Zivilgerichte den Grundrechtseinfluss ausreichend beachtet haben (vgl BVerfGE_18,85 <92 f>; BVerfGE_103,89 <100> ). Daran fehlt es insbesondere, wenn die Zivilgerichte den grundrechtlichen Einfluss überhaupt nicht berücksichtigt oder unzutreffend eingeschätzt haben und ihre Entscheidung auf der Verkennung des Grundrechtseinflusses beruht (vgl BVerfGE_95,28 <37>; BVerfGE_97,391 <401>).

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b) Nach diesen Maßstäben hat das Amtsgericht das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art.6 Abs.4 GG verletzt.

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aa) Diese war zum Zeitpunkt der Kündigung des mit der Klägerin des Ausgangsverfahrens geschlossenen Fitness-Vertrags schwanger und genoss daher den Schutz des Art.6 Abs.4 GG. Das Amtsgericht hätte demnach die rechtliche Beurteilung des ihm unterbreiteten Sachverhalts auch im Lichte des Art.6 Abs.4 GG vornehmen müssen. Daran aber fehlt es. Die angegriffene Entscheidung enthält keinerlei Ausführungen, die erkennen ließen, dass das Amtsgericht wenigstens der Sache nach die Umstände des Falles auch unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Schutzgebots des Art.6 Abs.4 GG gewürdigt hat. Insbesondere ist seinen Erwägungen zur Schadensersatzpflicht der Beschwerdeführerin und in diesem Zusammenhang zu der Frage, ob eine schuldhafte Pflichtverletzung der Beschwerdeführerin im Sinne der §§ 281, 280 Abs.1 Satz 2 BGB vorliegt, nicht zu entnehmen, dass sich das Amtsgericht des verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutzes der Beschwerdeführerin bewusst gewesen ist und sich mit der Frage befasst hat, ob und inwieweit sich dieser auf die Auslegung und Anwendung der genannten zivilrechtlichen Vorschriften auswirkt. Im Rahmen der Prüfung, ob die Beschwerdeführerin ihre Sportunfähigkeit infolge der Schwangerschaft zurechenbar herbeigeführt hat, war indessen die wertsetzende Bedeutung des Art.6 Abs.4 GG in die rechtliche Betrachtung einzubeziehen. Dies gilt umso mehr, als die Sportunfähigkeit der Beschwerdeführerin auf einer Risikoschwangerschaft beruhte.

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bb) Das angegriffene Urteil beruht auf der danach gegebenen Verletzung des Art.6 Abs.4 GG. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht zu einer anderen Beurteilung der Schadensersatzansprüche der Klägerin gelangt wäre, wenn es Art.6 Abs.4 GG interpretationsleitend berücksichtigt und dabei auch den besonderen Umständen des Falles Rechnung getragen hätte.

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2. Nach § 93c Abs.2 in Verbindung mit § 95 Abs.2 BVerfGG sind daher das Urteil des Amtsgerichts aufzuheben und die Sache an dieses zurückzuverweisen."

 

Auszug aus BVerfG B, 24.05.05, - 1_BvR_906/04 -,www.BVerfG.de,  Abs.6 ff

§§§

05.022 Befangenheitsantrag
 
  • BVerfG,     B, 02.06.05,     – 2_BvR_625/01 –

  • = www.BVerfG.de

  • GG_Art.101 Abs.1 S.2, GG_Art.103 Abs.1, GG_Art.19 Abs.4; StPO_§_338 Nr.3, StPO_§_26a, StPO_§_27, StPO_§_24 Abs.3 S.2

T-05-10

LB 1) § 26a StPO ist eine der Vereinfachung des Ablehnungsverfahrens dienende Vorschrift; weil sie nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern will, ist sie eng auszulegen.

 

LB 2) In Fällen, in denen die Frage der Unzulässigkeit nicht klar und eindeutig zu beantworten ist, wird es nahe liegen, das Regelverfahren nach § 27 StPO zu wählen, um jeden Anschein einer Entscheidung in eigener Sache zu vermeiden.

 

LB 3) Auf Fälle "offensichtlicher Unbegründetheit" des Ablehnungsgesuchs darf das vereinfachte Ablehnungsverfahren wegen des sonst vorliegenden Verstoßes gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG nicht ausgedehnt werden.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Verfahren 2 BvR 625/01 und 2 BvR 638/01 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

2) Die Beschlüsse des Landgerichts Köln vom 26.Mai 1999, vom 27.Juli 1999 und vom 26.August 1999 - 110-8/98 -, das Urteil des Landgerichts Köln vom 8.September 1999 - 110-8/98 - und der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20. Februar 2001 - 5 StR 239/00 - verletzen die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes.

3) Das Urteil des Landgerichts Köln und der Beschluss des Bundesgerichtshofs werden aufgehoben, und die Sache wird an eine andere Strafkammer des Landgerichts Köln zurückverwiesen.

4) Das Land Nordrhein-Westfalen und die Bundesrepublik Deutschland haben dem Beschwerdeführer die in dem Verfahren 2 BvR 625/01 entstandenen notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten.

* * *

T-05-10Ablehnungsentscheidung nach § 26a StPO

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"Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG). Soweit der Beschwerdeführer die Behandlung seiner Ablehnungsgesuche beanstandet, ist die Verfassungsbeschwerde in einer die Zuständigkeit der Kammer ergebenden Weise offensichtlich begründet.

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Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen zu Art.101 Abs.1 Satz 2 GG, Art.103 Abs.1 GG und Art.19 Abs.4 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs.1 Satz 1 BVerfGG). Mit der Zurückweisung der Ablehnungsgesuche als unzulässig hat die Strafkammer den Beschwerdeführer im Ablehnungsverfahren seinem gesetzlichen Richter entzogen (Art.101 Abs.1 Satz 2 GG). Der Bundesgerichtshof hat diese Fehler des Landgerichts nicht geheilt, sondern durch die Verwerfung der Revision vertieft. Zugleich hat er bei der Auslegung und Anwendung des absoluten Revisionsgrunds des § 338 Nr.3 StPO im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der Ablehnungsgesuche Bedeutung und Tragweite des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG nicht hinreichend bedacht.

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1. a) Art.101 Abs.1 Satz 2 GG gewährleistet dem Einzelnen das Recht auf den gesetzlichen Richter. Ziel der Verfassungsgarantie ist es, der Gefahr einer möglichen Einflussnahme auf den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung vorzubeugen, die durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter eröffnet sein könnte (vgl BVerfGE_17,294 <299>; BVerfGE_48,246 <254>; BVerfGE_82,286 <296>; BVerfGE_95,322 <327> ). Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtssuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl BVerfGE_95,322 <327>).

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Deshalb verpflichtet Art.101 Abs.1 Satz 2 GG den Gesetzgeber dazu, eine klare und abstrakt-generelle Zuständigkeitsordnung zu schaffen, die für jeden denkbaren Streitfall im Voraus den Richter bezeichnet, der für die Entscheidung zuständig ist. Jede sachwidrige Einflussnahme auf die rechtsprechende Tätigkeit von innen und von außen soll dadurch verhindert werden. Die Gerichte sind bei der ihnen obliegenden Anwendung der vom Gesetzgeber geschaffenen Zuständigkeitsordnung verpflichtet, dem Gewährleistungsgehalt und der Schutzwirkung des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG angemessen Rechnung zu tragen.

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Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat Art.101 Abs.1 Satz 2 GG darüber hinaus auch einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtssuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl BVerfGE_10,200 <213 f>; BVerfGE_21,139 <145 f>; BVerfGE_30,149 <153>; BVerfGE_40,268 <271>; BVerfGE_82,286 <298>; BVerfGE_89,28 <36> ; siehe dazu auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S.162, 165 ff; kritisch Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren, S.179 ff).

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Der Gesetzgeber hat deshalb in materieller Hinsicht Vorsorge dafür zu treffen, dass die Richterbank im Einzelfall nicht mit Richtern besetzt ist, die dem zur Entscheidung anstehenden Streitfall nicht mit der erforderlichen professionellen Distanz eines Unbeteiligten und Neutralen gegenüberstehen. Die materiellen Anforderungen der Verfassungsgarantie verpflichten den Gesetzgeber dazu, Regelungen vorzusehen, die es ermöglichen, einen Richter, der im Einzelfall nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, von der Ausübung seines Amtes auszuschließen.

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b) Eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich als Verfassungsverstoß angesehen werden (vgl BVerfGE_82,286 <299> ). Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl BVerfGE_82,286 <299> ). Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts (vgl BVerfGE_29,45 <49>; BVerfGE_82,159 <197>; BVerfGE_87,282 <286> ) beruht oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG grundlegend verkennt, kann nur anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden.

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2. Nach diesen Prüfungsmaßstäben verletzen die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts Köln über die Befangenheitsgesuche das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter im Ablehnungsverfahren.

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a) Die strafprozessualen Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von Richtern (§§ 22, 23 und 24 StPO) dienen dem durch Art. 101 Abs.1 Satz 2 GG verbürgten Ziel, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern. § 24 StPO eröffnet die Möglichkeit, einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, wenn der Betroffene einen Grund sieht, der geeignet ist, Misstrauen im Hinblick auf seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Regelungen über das Verfahren zur Behandlung des Ablehnungsgesuchs enthalten die §§ 26a und 27 StPO, die das Ablehnungsverfahren unterschiedlich je danach ausgestalten, ob ein Ablehnungsgesuch unzulässig ist oder ob es eine Sachprüfung erfordert. Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren sieht § 26a StPO im Interesse der Verfahrensbeschleunigung für unzulässige Ablehnungsgesuche vor; über sie entscheidet das Gericht, ohne dass der abgelehnte Richter ausscheidet (vgl § 26a Abs.2 Satz 1 StPO). Kommt eine Verwerfung des Ablehnungsgesuchs als unzulässig nicht in Betracht, so ist das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung zur Entscheidung auf der Grundlage einer dienstlichen Stellungnahme des abgelehnten Richters berufen, die dem Antragsteller zur Gewährung rechtlichen Gehörs zuzuleiten ist (vgl BVerfGE_24,56 <62> ; BGHSt_21,85 <87>). Die Zuständigkeitsregelung des § 27 Abs.1 StPO trägt dabei dem Umstand Rechnung, dass es "nach der Natur der Sache an der völligen inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines Richters fehlen wird, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine angebliche Befangenheit selbst entscheiden müsste" (BGH, Urteil vom 30.Juni 1955 - 4 StR 178/55 -, zitiert nach BGH, NJW 1984, S.1907 <1909>). Die besondere Bedeutung der richterlichen Zuständigkeit im Ablehnungsverfahren wird durch § 24 Abs. 3 Satz 2 StPO illustriert, der dem Antragsteller schon im Vorfeld der Entscheidung über sein Gesuch das Recht verleiht, die Namhaftmachung der zur Mitwirkung an der Entscheidung über sein Ablehnungsgesuch berufenen Gerichtspersonen zu verlangen (vgl Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5.Juni 1991 - 2 BvR 103/91 -, NJW 1991, S.2758).

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Mit der differenzierenden Zuständigkeitsregelung in Fällen der Richterablehnung hat der Gesetzgeber einerseits dem Gewährleistungsgehalt des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG angemessen Rechnung getragen: Ein Richter, dessen Unparteilichkeit mit jedenfalls nicht von vornherein untauglicher Begründung in Zweifel gezogen worden ist, kann und soll nicht an der Entscheidung über das gegen ihn selbst gerichtete Ablehnungsgesuch mitwirken, das sein eigenes richterliches Verhalten und die - ohnehin nicht einfach zu beantwortende - Frage zum Gegenstand hat, ob das beanstandete Verhalten für einen verständigen Angeklagten Anlass sein kann, an seiner persönlichen Unvoreingenommenheit zu zweifeln. Andererseits hat der Gesetzgeber aus Gründen der Vereinfachung und Beschleunigung des Ablehnungsverfahrens von einer Zuständigkeitsregelung dergestalt abgesehen, dass der abgelehnte Richter auch in den klaren Fällen eines unzulässigen oder missbräuchlich angebrachten Ablehnungsgesuchs an der Mitwirkung an der Entscheidung über das Gesuch gehindert ist (vgl BTDrucks IV/178, S.35). Die Mitwirkung des abgelehnten Richters bei der Entscheidung über die Zulässigkeit eines Ablehnungsgesuchs oder über die Frage seiner missbräuchlichen Anbringung, wie § 26 a StPO sie erlaubt, verhindert ein aufwändiges und zeitraubendes Ablehnungsverfahren unter Hinzuziehung von Vertretern in Fällen gänzlich untauglicher oder rechtsmissbräuchlicher Ablehnungsgesuche; bei strenger Prüfung ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen gerät sie mit der Verfassungsgarantie des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG nicht in Konflikt, weil die Prüfung keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt und deshalb keine echte Entscheidung in eigener Sache ist (vgl BTDrucks IV/178, S.35; siehe auch Frister, StV 1997, S.150 <151>; Günther, NJW 1986, S.281 <289>; kritisch Wendisch, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25.Aufl, 1999, § 26a Rn.3 ff). Eine gesetzliche Regelung, die dem abgelehnten Richter eine inhaltliche Entscheidung über das gegen ihn gerichtete Ablehnungsgesuchs ermöglichte, wäre demgegenüber verfassungsrechtlich bedenklich. Der ursprünglich im Bundesratsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege enthaltene Vorschlag, den Zurückweisungsgründen des § 26a Abs.1 StPO den der "offensichtlichen Unbegründetheit" hinzuzufügen (BTDrucks 13/4541, S. 4, Begründung S. 11 und 15 f), ist nicht Gesetz geworden (vgl nur Stellungnahme der Bundesregierung, Anlage 2 zu BTDrucks 13/4541, S.32 f.; vgl BTDrucks 14/1714, S.3; kritisch Herzog, StV 2000, S.444 <446>).

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b) § 26 a StPO ist daher eine der Vereinfachung des Ablehnungsverfahrens dienende Vorschrift; weil sie nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern will, ist sie eng auszulegen (vgl Wendisch, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25.Aufl, 1999, § 26a Rn.13). In Fällen, in denen die Frage der Unzulässigkeit nicht klar und eindeutig zu beantworten ist, wird es nahe liegen, das Regelverfahren nach § 27 StPO zu wählen, um jeden Anschein einer Entscheidung in eigener Sache zu vermeiden (vgl Lemke, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, 3.Aufl, 2001, § 26a Rn.4; Wendisch, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25.Aufl, 1999, § 26a Rn.5). Auf Fälle "offensichtlicher Unbegründetheit" des Ablehnungsgesuchs darf das vereinfachte Ablehnungsverfahren wegen des sonst vorliegenden Verstoßes gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG nicht ausgedehnt werden (vgl Bockemühl, in: KMR, StPO, Stand: Dezember 2004, § 26a Rn.8).

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c) Gemessen an diesen für die Auslegung und Anwendung des § 26a StPO geltenden Maßstäben verletzen die angegriffenen und dem Urteil voraus gehenden Beschlüsse der Strafkammer Art.101 Abs.1 Satz 2 GG. Die Behandlung der Ablehnungsanträge geschah in allen drei Fällen unter Verletzung des verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art.103 Abs.1 GG); ihre Zurückweisung als unzulässig unter Einbeziehung der abgelehnten Richter beruhte in sämtlichen Fällen auf grob fehlerhaften Erwägungen und deutet insgesamt darauf hin, dass das Landgericht den Gewährleistungsgehalt des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG verkannt hat.

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aa) Der rechtliche Ausgangspunkt der Strafkammer, dass ein Ablehnungsgesuch, dessen Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet sei, einem Ablehnungsgesuch ohne Angabe eines Ablehnungsgrundes gleich stehe, entspricht der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum (vgl Beschluss des 1.Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 10.Mai 2001 - 1 StR 410/00 -, NStZ-RR 2002, S.66; Beschluss des 4.Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 23.Februar 1999 - 4 StR 15/99 -, NStZ 1999, S.311; Beschluss des 3.Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 4.Januar 1989 - 3 StR 398/88 -, BGHR StPO § 26a Unzulässigkeit 2; siehe auch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. September 1992 - 2 WDB 11/92 -, veröffentlicht in Juris; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zur StPO, Stand: Juni 2004, § 26a Rn.6; Pfeiffer, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5.Aufl, 2003, § 26a Rn.3; Lemke, aaO, Rn.7). Sie ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein Ablehnungsantrag, der zwar - rein formal betrachtet - eine Begründung für die angebliche Befangenheit enthält, der aber - ohne nähere Prüfung und losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls - zur Begründung der Besorgnis einer Befangenheit gänzlich ungeeignet ist, kann rechtlich dem völligen Fehlen einer Begründung gleichgeachtet werden. Im Rahmen der Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs ist das Gericht allerdings in besonderem Maße verpflichtet, das Ablehnungsgesuch seinem Inhalt nach vollständig zu erfassen und gegebenenfalls wohlwollend auszulegen, da es andernfalls leicht dem Vorwurf ausgesetzt sein kann, tatsächlich im Gewande der Zulässigkeitsprüfung in eine Begründetheitsprüfung einzutreten. Überschreitet das Gericht die ihm gezogenen Grenzen, so kann dies - worauf der 2.Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Stellungnahme hingewiesen hat - die Besorgnis der Befangenheit begründen.

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bb) Bei der Anwendung dieses verfassungsrechtlich unbedenklichen Prüfungsmaßstabs hat die Strafkammer die ihr von Verfassungs wegen gezogenen Grenzen allerdings überschritten.

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(1) Hinsichtlich des ersten Ablehnungsgesuchs hat die Strafkammer angenommen, dass es nur allgemeine Erwägungen enthalte, und dabei verkannt, dass der Beschwerdeführer seine Besorgnis auf die eindeutige und grob fehlsame, in verfassungsrechtlichem Sinne daher objektiv willkürliche Behandlung des Ablehnungsgesuchs des Mitangeklagten durch die Strafkammer stützte.

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Bei der Prüfung der Frage, ob das Ablehnungsgesuch des Mitangeklagten einen Grund für die Besorgnis der Befangenheit angebe, hatte die Strafkammer den in dem Gesuch tatsächlich angeführten Grund (spontane Unmutsäußerung des Vorsitzenden vor dem Hintergrund mehrfacher und als Kritik an der Verteidigungsstrategie aufgefasster Bemerkungen im Rahmen der Verhandlungsleitung) nicht unverändert auf seine Tauglichkeit geprüft, sondern der eigenen Erinnerung an das Geschehen in der Hauptverhandlung entsprechend modifiziert. Anschließend hat das erkennende Gericht geprüft, ob der von ihm modifizierte Sachverhalt geeignet sei, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, und hat dies verneint. Damit hat es nicht nur den Anspruch des Antragstellers auf Gewährung rechtlichen Gehörs in grober Weise verletzt, sondern das Ablehnungsgesuch der Sache nach einer Begründetheitsprüfung unterzogen, die ihm von Verfassungs wegen gerade verwehrt ist. Diese Art der Behandlung eines Befangenheitsgesuchs konnte ohne weiteres geeignet sein, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.

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Bei dieser Sachlage hat die Strafkammer das auf diesen Sachverhalt gestützte Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers nur unter Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und willkürlich als unzulässig verwerfen können.

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(2) Auch die Behandlung der beiden weiteren Ablehnungsgesuche verletzte nicht nur den Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern zugleich auch Art.101 Abs.1 Satz 2 GG.

63

aaa) Ihr rechtlicher Ausgangspunkt, dass eine vermeintlich oder tatsächlich rechtsfehlerhafte Vorentscheidung für sich genommen die Besorgnis der Befangenheit nicht rechtfertige, mit der Folge, dass ein darauf gestütztes Ablehnungsgesuch als unzulässig im Sinne des § 26a Abs.1 Nr.2 StPO angesehen werden kann, entspricht allerdings der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (vgl BGHSt_21,334 <343>; BGH, NStZ-RR 2001, S. 258; KG Berlin, Beschluss vom 31. Januar 2001 - 1 AR 59/01 - 4 Ws 17/01 -, veröffentlicht in Juris; Pfeiffer, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5.Aufl., 2003, § 24 Rn.6 mwN; Günther, NJW 1986, S.281 <285>; siehe aber auch BGH, NJW 1984, S.1907 <1909>). Danach müssen Umstände hinzutreten, die nach den konkreten Umständen des Einzelfalls die Besorgnis der Befangenheit zu begründen vermögen (vgl BGH, NStZ-RR 2001, S.258); diese über die Vorentscheidung hinausreichenden Umstände muss der Antragsteller daher in seinem Gesuch vortragen und glaubhaft machen (vgl BGH, NStZ 1999, S.311; BGHR StPO § 26 a Unzulässigkeit 2; BayObLG, wistra 2002, S.196 <197>; OLG Köln, StV 1991, S.293; Pfeiffer, aaO., mwN; Günther, NJW_86,281 <283>). Anhaltspunkte für die Besorgnis der Befangenheit können in dem Verhalten des Richters oder in den Gründen der vorangegangenen Entscheidung gefunden werden (vgl Beschluss des 3.Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 9.August 2000 - 3 StR 504/99 -, StV 2002, S.116; OLG Düsseldorf, VRS 87, S.344 ff.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22.August 1996 - 1 Ss 96/96 -, Juris-Ausdruck, S.2 f). Dieser Maßstab soll auch für die Mitwirkung an der Entscheidung über die Zulässigkeit eines Ablehnungsgesuchs gelten, selbst wenn diese rechtliche Bewertung unzutreffend gewesen sein sollte (vgl Beschluss des 1.Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 22.November 2000 - 1 StR 442/00 -, NStZ-RR 2001, S.258).

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bbb) Entgegen der Annahme der Strafkammer hat der Beschwerdeführer seine Ablehnungsgesuche nicht auf die Ablehnung seines Antrags auf Protokollierung der zusammengefassten Aussage und auf die überraschende Einführung der beiden Schreiben oder eine Ablehnung der beantragten Beweiserhebung gestützt. Er hatte vielmehr im ersten Fall auf eine über den Beschluss hinausgehende Äußerung des Gerichts zur Würdigung verschiedener Zeugenaussagen und im zweiten Fall auf die Versagung der Akteneinsicht in den vom Vorsitzenden geführten Beweismittelordner abgestellt und daraus seine Besorgnis der Befangenheit hergeleitet. Die Ablehnungsgesuche waren mithin beide mit einer nicht von vornherein untauglichen Begründung versehen. Ihre Behandlung als unzulässig kann daher insbesondere vor dem Hintergrund der Behandlung der beiden vorangegangenen Ablehnungsgesuche, auf die der Beschwerdeführer mit seinem zweiten Ablehnungsgesuch ausdrücklich hingewiesen hat, nicht als lediglich rechtsirrtümliche Behandlung der Gesuche angesehen werden; das Vorgehen der Strafkammer ist vielmehr sachlich nicht gerechtfertigt und daher willkürlich.

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3. Der Bundesgerichtshof hat bei seiner Entscheidung über die auf den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr.3 StPO gestützte und zulässig erhobene Verfahrensrüge der Ausstrahlungswirkung des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG nicht hinreichend Rechnung getragen. Denn er hat nicht erkennbar geprüft, ob die hier unter Verletzung verfassungsrechtlicher Mindestgarantien behandelten Befangenheitsgesuche der Sache nach das vom Beschwerdeführer gehegte Misstrauen in die Unparteilichkeit der Mitglieder der Strafkammer rechtfertigen. Damit hat er nicht nur den im Ablehnungsverfahren verletzten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht geheilt, sondern zugleich auch Art.101 Abs.1 Satz 2 GG verletzt.

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a) Der Bundesgerichtshof hat die von ihm getroffene Entscheidung nicht mit einer Begründung versehen. Da es in Fällen, in denen das Revisionsgericht dem Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts nur im Ergebnis, nicht aber in der Begründung folgt, der allgemeinen Übung der Strafsenate entspricht, der Bezugnahme auf § 349 Abs.2 StPO die eigene Rechtsauffassung anzufügen (vgl nur Beschluss des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 20. Februar 2004 - 2 StR 116/03 -, NStZ 2004, S.511), dies hier aber nicht geschehen ist, kann davon ausgegangen werden, dass der 5.Strafsenat sich die Rechtsauffassung des Generalbundesanwalts zu Eigen gemacht hat.

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b) Nach Auffassung des Bundesgerichthofs ist ein Ablehnungsgesuch nur dann im Sinne des absoluten Revisionsgrunds des § 338 Nr.3 StPO "mit Unrecht verworfen", wenn es tatsächlich begründet gewesen wäre. Darauf, ob das Befangenheitsgesuch tatsächlich verfahrensfehlerhaft als unzulässig zurückgewiesen worden ist, kommt es mithin nicht an.

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aa) Dieser rechtliche Ausgangspunkt entspricht der heute herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Kommentarliteratur. Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr.3 StPO soll danach - wie die Ablehnungsvorschriften selbst - die Unparteilichkeit des Richters gewährleisten. Die schutzwürdigen Belange des Beschwerdeführers fänden ihre Grenze deshalb dort, wo eine Besorgnis in dieser Richtung tatsächlich fehle. Ein Ablehnungsgesuch sei deshalb nur dann im Sinne von § 338 Nr.3 StPO "mit Unrecht verworfen", wenn es sachlich gerechtfertigt gewesen sei und ihm hätte stattgegeben werden müssen (vgl BGHSt_18,200 <202>; Beschluss des 4.Strafsenats des Bundesgerichthofs vom 16.Dezember 1988 - 4 StR 563/88 -, BGHR StPO, § 26a Unzulässigkeit 3; Beschluss des 3.Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 9. August 2000 - 3 StR 504/99 -, StV 2002, S.116; Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess, 6.Aufl, 2001, Rn.161; Kuckein, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5.Aufl., 2003, § 338 Rn.59; Meyer-Goßner, StPO, 47.Aufl, 2004, § 338 Rn.28; Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25.Aufl, 2003, § 338 Rn.65).

69

(1) Das Reichsgericht hatte noch angenommen, dass ein Ablehnungsgesuch schon dann im Sinne des § 338 Nr.3 StPO "mit Unrecht verworfen" worden sei, wenn über das Gesuch ein nicht vorschriftsmäßig besetztes Gericht entschieden habe (vgl. die Nachweise bei BGHSt_18,200 <201>; siehe auch BGHSt_21,334 <338>); denn auf andere Weise sei das den Prozessbeteiligten zugefügte prozessuale Unrecht nicht zu beseitigen. Nachdem der Bundesgerichthof dieser Rechtsprechung in einer frühen Entscheidung noch gefolgt ist (vgl MDR 1955, S.271), hat er diese Auffassung in einem Fall relativiert, in dem die Mitwirkung eines beauftragten Richters an einer Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch als unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts beanstandet worden ist; da das Ablehnungsersuchen "offensichtlich unbegründet" sei, liege der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr.3 StPO nicht vor (vgl BGH, Urteil vom 11.September 1956 - 5 StR 5/56 -, JR 1957, S.68; siehe auch BGHSt_18,200 <203>; BGHSt_21,334 <338>). Unter Betonung des Ziels des § 338 Nr.3 StPO, der wie die Ablehnungsvorschriften dafür Sorge tragen wolle, die Richterbank von Richtern freizuhalten, deren Unparteilichkeit und Neutralität in berechtigte Zweifel gezogen worden sei, hat der Bundesgerichtshof auch die Ansicht vertreten, dass das Revisionsgericht ein irrtümlich als unzulässig verworfenes Ablehnungsgesuch "auf seine Begründetheit nachzuprüfen hat oder jedenfalls nachprüfen darf" (vgl die Nachweise zweier insoweit unveröffentlichter Entscheidungen bei BGHSt_18,200 <203>; BGHSt_23,265 <267>; zweifelnd BGHSt_44,26 <29>). Nach anderer Ansicht soll das Revisionsgericht jedenfalls in Fällen, in denen die abgelehnten Richter selbst rechtsirrtümlich über das gegen sie gerichtete Ablehnungsgesuch entschieden haben, zu einer solchen Prüfung nicht verpflichtet sein, sondern das Urteil auf die fehlerhafte Behandlung des Ablehnungsgesuchs hin aufheben können, wenn nicht auszuschließen ist, dass das Urteil auf den dargelegten Mängeln beruhen kann (vgl BGHSt_23,200 <202>).

70

(2) Nach anderer Ansicht soll der absolute Revisionsgrund allerdings vorliegen, wenn die Behandlung des Ablehnungsgesuchs als unzulässig im Sinne des § 26a StPO auf offenkundig willkürlicher Gesetzesauslegung beruht (vgl Pfeiffer, StPO, 4.Aufl, 2002, § 338 Rn.13).

71

bb) Ob diese Auslegung des § 338 Nr.3 StPO auch dann mit der Verfassung im Einklang stünde, wenn die Gerichte tatsächlich zunehmend in Fällen offensichtlicher Unbegründetheit eines Ablehnungsantrags bewusst in das Verfahren nach § 26 a StPO ausweichen sollten (vgl Beschluss des 2.Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 27.Februar 2004 - 2 StR 496/03 -, StraFo 2004, S.238), weil der begangene Rechtsverstoß im Revisionsrechtszug regelmäßig folgenlos bleibt, kann hier offen bleiben. Eine systematische Umgehung des gesetzlich als Regelfall vorgesehenen Ablehnungsverfahrens unter Hinzuziehung einer Vertreterkammer könnte allerdings geeignet sein, die verfassungsrechtlich verbürgten Rechte des Antragstellers auf Gewährung rechtlichen Gehörs, die Verbürgung des gesetzlichen Richters im Ablehnungsverfahren und nicht zuletzt die Garantie effektiven Rechtsschutzes zu beeinträchtigen. Das nach dem Willen des Gesetzgebers regelmäßig vorgesehene Ablehnungsverfahren gewährleistet durch die zeitnah einzuholenden dienstlichen Stellungnahmen der betroffenen Richter eine optimale Aufklärung des dem Ablehnungsgesuch zu Grunde liegenden Lebenssachverhalts und ermöglicht damit zugleich eine effektive Kontrolle der vom Antragsteller vorgebrachten Ablehnungsgründe; die spätere, nach vollständiger Durchführung einer unter Umständen langen und aufwändigen Hauptverhandlung stattfindende Kontrolle im Revisionsrechtszug bietet hier keinen vollständigen Ausgleich (zu den Erfolgaussichten einer auf § 338 Nr.3 StPO gestützten Verfahrensrüge vgl Nack, NStZ 1997, S.153 <158>; Nehm/Senge, NStZ 1998, S.377 <383>; Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen, 1999, S.147 f).

72

c) Dem Bundesgerichtshof als dem zuständigen Fachgericht hätte es oblegen, die im Ablehnungsverfahren geschehenen, gravierenden Verfassungsverstöße durch Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen zu beheben.

73

Mit Blick auf Art.101 Abs.1 Satz 2 GG ist es verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn das Revisionsgericht auch in den Fällen, in denen ein Ablehnungsgesuch - wie hier - willkürlich und unter Verletzung des grundrechtsgleichen Anspruchs des Angeklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Ablehnungsverfahren als unzulässig verworfen worden ist, lediglich prüft, ob das Ablehnungsgesuch in der Sache erfolgreich gewesen wäre. Das Revisionsgericht hat in Fällen wie dem hier zu entscheidenden nicht über die hypothetische Begründetheit des Ablehnungsgesuchs, sondern vielmehr darüber zu entscheiden, ob die Grenzen der Vorschrift des § 26a StPO, die den gesetzlichen Richter gewährleistet, eingehalten wurden. Andernfalls würde § 26a StPO leer laufen und entgegen dem erklärten Willen des Gesetzgebers auch auf die Entscheidung über offensichtlich unbegründete Ablehnungsgesuche ausgedehnt. Jedenfalls bei einer willkürlichen Überschreitung des von § 26a StPO gesteckten Rahmens hat das Revisionsgericht die angegriffenen Entscheidungen aufzuheben und an das Tatgericht zurückzuverweisen, damit dieses in der Zusammensetzung des § 27 StPO über das Ablehnungsgesuch entscheidet.

74

d) Bei dieser Sachlage kommt es daher nicht mehr darauf an, ob - wie vom Beschwerdeführer vorgetragen - die Behandlung der Verfahrensrüge durch den Bundesgerichtshof auch sein grundrechtsgleiches Recht auf Gewährung effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutzes (vgl BVerfGE_67,43 <58>; stRspr) verletzt.

75

4. Aus diesen Gründen ist auch die Entscheidung des Landgerichts aufzuheben."

 

Auszug aus BVerfG B, 02.06.05, - 2_BvR_625/01 -,www.BVerfG.de,  Abs.45 ff

§§§

05.023 Unterhaltszahlungen
 
  • BVerfG,     U, 07.06.05,     – 1_BvR_1508/96 –

  • BVerfGE_113,88 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.2 Abs.1; BGB_§_1601, BGB_§_1602 Abs.1, BGB_§_1603 Abs.1;

 

Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Auslegung unterhaltsrechtlicher und sozialhilferechtlicher Normen bei der Bestimmung der Leistungsfähigkeit von Kindern, die aus übergegangenem Recht vom Sozialhilfeträger zur Unterhaltszahlung für ihre Eltern herangezogen werden.

§§§

05.024 Visa-Untersuchungsausschuss
 
  • BVerfG,     B, 15.06.05,     – 2_BvQ_18/05 –

  • BVerfGE_113,113 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.44 Abs.1, BVerfGG_§_32, BVerfGG_§_63

T-05-11

LB 1) Zur Zulässigkeit eines Antrages auf einstweilige Anordnung.

Abs.30

LB 2) Zu den Minderheitenrechte in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss.

Abs.30

LB 3) Zur Begründetheit eines Antrages auf einstweilige Anordnung.

* * *

T-05-11Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

23

"Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der als auf die im Beschlusstenor ausgesprochene Verpflichtung gerichtet zu verstehen ist, ist zulässig und begründet.

24

1. Der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG steht nicht entgegen, dass ein Antrag in der Hauptsache noch nicht gestellt wurde. Es ist nicht erforderlich, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits ein Verfahren in der Hauptsache anhängig ist (vgl BVerfGE_3,267 <277>; BVerfGE_7,367 <371>; BVerfGE_105,235 <238>; stRspr). Dies setzt allerdings voraus, dass nachfolgend ein Hauptsacheantrag gestellt werden könnte, der nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (BVerfGE 66, 39 <56>; Beschluss der 1.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7.September 1987 - 2 BvR 16/87 -, NJW 1987, S.3245 f.). Dies ist hier nicht der Fall.

25

2. Antragsteller und Antragsgegner sind im Verfahren der einstweiligen Anordnung parteifähig, da sie im Organstreitverfahren im Sinne des § 63 BVerfGG parteifähig wären. Nach § 63 BVerfGG können auch Teile der dort benannten Verfassungsorgane Antragsteller im Organstreit sein, wenn sie im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen mit eigenen Rechten ausgestattet sind.

26

a) Die Antragsteller zu I. sind parteifähig. Die so genannte qualifizierte Minderheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages ist in Art.44 GG mit eigenen Rechten ausgestattet.

27

b) Die Antragstellerin zu II. ist als "Fraktion im Untersuchungsausschuss" als Organteil des Deutschen Bundestages im Sinne des § 63 BVerfGG zu behandeln (vgl BVerfGE 67,100 <124> ). Der Untersuchungsausschuss ist ein gemäß Art.44 GG mit besonderen Rechten ausgestattetes Hilfsorgan des Deutschen Bundestages.

28

c) Die Antragstellerin zu III. ist als ständig vorhandene Gliederung des Deutschen Bundestages ebenfalls parteifähig (vgl BVerfGE20,56 <104>; BVerfGE_45,1 <28>; stRspr). Dies gilt auch für Organklagen, in denen die Fraktion in Prozessstandschaft für das Gesamtparlament tritt, um im eigenen Namen Rechte geltend zu machen, die dem Deutschen Bundestag gegenüber einem möglichen Antragsgegner zustehen könnten (vgl BVerfGE_2,143 <165>; BVerfGE_90,286 <336>; BVerfGE_100,266 <268>; BVerfGE_103,81 <86>; BVerfGE_104,151 <193>).

29

d) Der Antragsgegner ist ein gemäß Art.44 GG mit eigenen Rechten ausgestattetes Hilfsorgan des Deutschen Bundestages. Der Bundestag kann von Verfassungs wegen als Plenum diese besonderen Befugnisse nicht selbst wahrnehmen (vgl BVerfGE_67,100 <124>; BVerfGE_105,197 <220>). Die Antragsteller können aus diesem Grund Rechte im parlamentarischen Untersuchungsverfahren nur gegenüber dem Ausschuss geltend machen, der die beanstandete Maßnahme - hier den Beschluss, die Termine aufzuheben und die Zeugen abzuladen - selbst verantwortet (vgl BVerfGE_105,197 <220>).

30

3. Die Antragsteller sind im Verfahren der einstweiligen Anordnung antragsbefugt, da sie in der Hauptsache im Sinne des § 64 Abs.1 BVerfGG antragsbefugt wären. Sie haben die Verletzung in eigenen Rechten hinreichend dargelegt.

31

Die Rechte der einsetzungsberechtigten und insofern qualifizierten Minderheit nach Art.44 GG beschränken sich nicht auf das Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Damit das Kontrollrecht ausgeübt werden kann, treten weitere Mitbestimmungsrechte in Bezug auf die Arbeit des Untersuchungsausschusses hinzu (vgl BVerfGE_49,70 <85 f.>). Der Senat hat entschieden, dass sowohl der konkret als Einsetzungsminderheit in Erscheinung getretenen Fraktion als auch der potentiell einsetzungsberechtigten Minderheit bestimmte Rechte zur Sicherung der Durchführung des Untersuchungsauftrags zustehen (vgl BVerfGE_105,197 <220>).

32

Auch die Abgeordneten einer Fraktion im Ausschuss können sich auf die von Art.44 GG erfassten Minderheitenrechte berufen, um die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren darzulegen. Die in den Untersuchungsausschuss entsandten Abgeordneten einer Fraktion, die mindestens ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages umfasst, repräsentieren den einsetzungsberechtigten Teil des Deutschen Bundestages im Ausschuss jedenfalls so lange, wie kein Dissens zwischen der Fraktion und ihren Vertretern im Ausschuss erkennbar ist (vgl BVerfGE_105,197 <220 f>).

33

Eine Fraktion ist im Organstreitverfahren und damit auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung antragsbefugt, soweit sie - wie hier als Antragstellerin zu III. - prozessstandschaftlich die Rechte des Gesamtparlaments in eigenem Namen geltend zu machen beabsichtigt (vgl BVerfGE_45,1 <28>; BVerfGE_105, 197 <220> ). Zur Antragsbefugnis einer Fraktion, die für den Bundestag prozessstandschaftlich Rechte im eigenen Namen wahrzunehmen beabsichtigt, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das Untersuchungsrecht aus Art.44 Abs.1 GG auch nach der Einsetzung des Untersuchungsausschusses Sache des Parlaments als Ganzes bleibt, das sich des Ausschusses zur sachgerechten Erfüllung dieser Aufgabe bedient (vgl BVerfGE_49,70 <85>; BVerfGE_67,100 <125>; BVerfGE_83,175 <180>; BVerfGE_105,197 <220> ). Es kann offen bleiben, wie weit die Rechte der Antragstellerin zu III., die zwar keine einsetzungsberechtigte Minderheit verkörpert, sich das Anliegen einer solchen aber zu eigen macht, im Einzelnen reichen. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die nicht einvernehmliche Beendigung der beschlossenen Beweisaufnahme eines Untersuchungsausschusses auch Rechte der nicht einsetzungsberechtigten Minderheit verletzt.

34

4. Der Antrag ist auch zulässig, obwohl er auf eine Maßnahme gerichtet ist, die die Entscheidung in der - bisher nicht anhängigen - Hauptsache im Wesentlichen vorwegnimmt. Die Vorwegnahme der Hauptsache führt dann nicht zur Unzulässigkeit des Antrages, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen würde und dem Antragsteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden kann (vgl BVerfGE_34,160 <162 f.>; BVerfGE_67,149 <151> ; stRspr). Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die Umsetzung eines Terminierungsbeschlusses für mehrere Termine im Juni sowie für einen weiteren Termin am 8.Juli 2005. Der Beschluss droht sich durch Zeitablauf zu erledigen. Auf der Grundlage des bestehenden Beschlusses sind verstrichene Termine auch nicht nachholbar, so dass ohne die Möglichkeit anderweitigen Rechtsschutzes eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen müsste.

35

5. Die allgemeine Subsidiarität des Verfassungsprozesses steht dem Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller nicht entgegen. Das Bundesverfassungsgericht ist für die Entscheidung über die Streitigkeit allein zuständig, ohne dass die Antragsteller zunächst den Bundesgerichtshof hätten anrufen müssen.

36

Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs nach § 36 Abs.1 PUAG gilt nur für Streitigkeiten nach diesem Gesetz. Darum handelt es sich bei der vorliegenden Streitigkeit nicht. Die vorzeitige Beendigung der Ausschussarbeit durch Beschluss wird von diesem Gesetz nicht erfasst. Auch § 33 Abs.3 PUAG, der die Berichterstattung in dem Fall regelt, dass ein Untersuchungsausschuss seinen Auftrag absehbar nicht mehr vor Ablauf der Wahlperiode erledigen kann, behandelt nicht unmittelbar die Frage der vorzeitigen Beendigung und Aussetzung eines bereits beschlossenen Arbeitsprogramms zur weiteren Beweisaufnahme durch Zeugeneinvernahme. Es geht um den Umfang und den Inhalt der Rechte vor allem der einsetzungsberechtigten Minderheit aus Art.44 Abs.1 GG. Berührt eine solche verfassungsrechtliche Frage zugleich die Auslegung einer Norm des Untersuchungsausschussgesetzes, so ändert das nichts am verfassungsrechtlichen Charakter der Auslegungsfrage, die im Organstreitverfahren gestellt wird (Art.93 Abs.1 Nr.1 GG). Die Beteiligten streiten auch nicht um die Rechtzeitigkeit und den Umfang des Sachstandsberichts nach § 33 Abs.3 PUAG; vielmehr nimmt der Antragsgegner die Regelung über die Berichterstattung, die er selbst als verfassungsgeboten ansieht, lediglich zum Anlass, die Arbeit des Untersuchungsausschusses vorläufig einzustellen.

37

Die Auslegung des Verfassungsrechts ist nicht mit der dem Bundesgerichtshof zugewiesenen verfahrensrechtlichen Überprüfung der Ausschussarbeit im Einzelnen, zum Beispiel bezüglich der Erhebung bestimmter Beweise, der Verlesung von Schriftstücken oder der Herausgabepflicht von Gegenständen, identisch. Es geht dabei nicht um eine dem Ablauf eines Strafprozesses vergleichbare Ordnung des Untersuchungsverfahrens im engeren Sinne, sondern um die Vereinbarkeit einer Maßnahme mit Verfassungsrecht.

38

Eine verfassungsrechtliche Kompetenz hat das Untersuchungsausschussgesetz dem Bundesgerichtshof nicht zugewiesen. Das ergibt sich aus dem verfahrensrechtlichen Vorbehalt des § 36 Abs.1 PUAG, welcher hier in Gestalt des Organstreitverfahrens durchgreift, ebenso wie aus der Vorlagepflicht an das Bundesverfassungsgericht bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Einsetzungsbeschlusses nach § 36 Abs.2 PUAG.

39

Die Antragsteller haben geltend gemacht, ihrem Anspruch auf Fortsetzung der Zeugeneinvernahme stehe eine verfassungskonforme Einschränkung durch das Untersuchungsausschussgesetz nicht entgegen. Sie machen damit kein im Untersuchungsausschussgesetz ausdrücklich oder implizit geregeltes oder mit dem Untersuchungsausschussgesetz zumindest vereinbares Recht geltend, sondern einen Anspruch, der sich unabhängig von der einfachgesetzlichen Rechtslage unmittelbar aus Art.44 Abs.1 GG ergeben soll.

40

1. Bei der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung müssen die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, der Antrag in der Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder doch offensichtlich unbegründet.

41

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist jedoch nur begründet, wenn eine vorläufige Regelung zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (vgl BVerfGE_71,158 <161> ). Für eine einstweilige Anordnung ist kein Raum, wenn das Bundesverfassungsgericht die Hauptsache so rechtzeitig zu entscheiden vermag, dass hierdurch die absehbaren Nachteile vermieden werden können.

42

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren ist ein Eingriff des Bundesverfassungsgerichts in die Autonomie eines anderen Verfassungsorgans. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 BVerfGG ist deshalb grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl BVerfGE_104,23 <27>; BVerfGE_106,51 <58>). Der Erlass kann allein der vorläufigen Sicherung des strittigen organschaftlichen Rechts der Antragsteller dienen, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung der Hauptsache durch vollendete Tatsachen überspielt wird (vgl BVerfGE_89,38 <44>; BVerfGE_96,223 <229>; BVerfGE_98,139 <144>).

43

Ist der Antrag in der Hauptsache weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet, so wägt das Bundesverfassungsgericht die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen Nachteile ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl BVerfGE_86,390 <395>; BVerfGE_88,173 <179 f>; BVerfGE_99,57 <66>; BVerfGE_104,23 <28 f>; stRspr). (Abs.43) 2. a) Bedenken gegen die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens in der Hauptsache, die über die im Rahmen der Zulässigkeit des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erörterten Fragestellungen hinausgehen, bestehen nicht.

44

b) Ein Antrag in der Hauptsache wäre auch nicht offensichtlich unbegründet.

45

Das Untersuchungsausschussgesetz regelt den Fall, dass die Mehrheit im Untersuchungsausschuss die Arbeit des Ausschusses trotz bestehender Terminierung weiterer Zeugeneinvernahme beendet oder auf unabsehbare Zeit aussetzt, nicht. Welche Rechte der Minderheit gegen Mehrheitsbeschlüsse bezüglich der Beendigung oder Aussetzung der Beweisaufnahme in einem Untersuchungsverfahren zustehen, wenn im politischen Raum die Auflösung des Bundestages angestrebt wird, bleibt damit eine Frage der Auslegung des Art.44 Abs.1 GG. Die Rechte, die im Untersuchungsausschussverfahren für die qualifizierte Minderheit aus Art.44 GG folgen, sind bereits Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gewesen. Es besteht aber noch Klärungsbedarf, wie sich diese Rechte in der vorliegenden Konstellation auswirken.

46

3. a) Wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattgegeben würde, die Hauptsache aber keinen Erfolg hätte, würde dies dazu führen, dass das Arbeitsprogramm des Visa-Untersuchungsausschusses entgegen einem rechtmäßigen Beschluss über die Beendigung der Zeugeneinvernahme gleichwohl fortgeführt würde. Im Ergebnis würden weitere Zeugen vernommen, obwohl diese nicht mehr gehört werden müssten. Dadurch könnte die Erstellung eines Sachstandsberichts erschwert oder verzögert werden und die Notwendigkeit von Abstrichen hinsichtlich der Ausführlichkeit des Berichts entstehen.

47

Dem gegenüber wäre bei einer Ablehnung des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und späterer Stattgabe in der Hauptsache das bereits beschlossene Arbeitsprogramm, wie es sich im Terminierungsbeschluss vom 31.März 2005 niederschlägt, in rechtswidriger Weise vorzeitig beendet oder auf unabsehbare Zeit ausgesetzt worden, so dass Zeugen an den besagten Terminen nicht gehört worden wären und möglicherweise auch später nicht mehr gehört werden könnten, obwohl sie hätten gehört werden müssen.

48

b) Das Interesse der Antragsteller an der Fortführung des beschlossenen Arbeitsprogramms des Visa-Untersuchungsausschusses entgegen einem Aussetzungsbeschluss der Ausschussmehrheit ist grundsätzlich schutzwürdig, weil die besonderen Schutzrechte für die qualifizierte Minderheit im Untersuchungsausschussrecht sonst leerlaufen könnten, ohne dass im Rahmen einer einstweiligen Anordnung bereits darüber entschieden werden müsste, wie weit die aus Art.44 GG folgenden Minderheitenrechte im vorliegenden Fall im Einzelnen gehen. Es besteht ein grundsätzliches Interesse der Einsetzungsminderheit, dass die Arbeit des Ausschusses so lange fortgeführt wird, bis der Untersuchungsauftrag abgeschlossen ist oder sich die Anzeichen dafür konkretisieren, dass der Untersuchungsauftrag nicht bis zu einem regulären oder vorzeitigen Ende der Wahlperiode erledigt werden kann.

49

c) Dem gegenüber steht das Interesse des Antragsgegners daran, dem Deutschen Bundestag rechtzeitig vor Ablauf der Legislaturperiode einen Sachstandsbericht vorzulegen. Die grundsätzliche Schutzwürdigkeit eines entsprechenden Interesses ergibt sich aus der in § 33 Abs.3 PUAG konkretisierten Pflicht, einen derartigen Bericht zur Information des Deutschen Bundestages über den Stand der Untersuchungsergebnisse vorzulegen.

50

4. a) Die Schutzwürdigkeit der Interessen des Antragsgegners ist derzeit nur als gering zu veranschlagen. Nachteile, die schützenswerte Interessen des Antragsgegners fühlbar beeinträchtigen, können zum gegenwärtigen Zeitpunkt nämlich nur entstehen, wenn die Wahlperiode des 15.Deutschen Bundestages vorzeitig enden sollte. Die Entscheidung über eine vorzeitige Beendigung hängt indes, da das deutsche Verfassungsrecht ein Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages nicht kennt, von Faktoren ab, deren Eintreten gegenwärtig nicht prognostiziert werden kann. Die Voraussetzungen für mögliche Neuwahlen verdichten sich in einer rechtlich bedeutsamen Weise in einem ersten Schritt erst dann, wenn die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages einem Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht zustimmen sollte (Art.68 GG). Es liegt sodann allein in der Entscheidung des Bundespräsidenten, der in eigener Verantwortung auch rechtliche Fragen zu prüfen hat, ob er den Deutschen Bundestag auflöst oder nicht.

51

Auch wenn man schon jetzt annähme, dass der Deutsche Bundestag aufgelöst wird und eine Neuwahl in der zweiten Septemberhälfte oder später stattfindet, wäre angesichts dessen, dass die parlamentarische Sommerpause am 5.September 2005 endet, immer noch Zeit, den Sachstand oder gar einen Abschlussbericht dem Plenum vorzulegen. Soweit der Antragsgegner auf Umfang und Zeitbedarf für die Berichterstattung bei früheren Untersuchungsausschüssen verweist, betreffen diese Beispiele keinen Sachstandsbericht wegen der vorzeitigen Auflösung des Deutschen Bundestages. Im Hinblick auf Zeitbedarf und Umfang eines Sachstandsberichts in diesen Fällen ist auch zu berücksichtigen, dass es vergleichbare Situationen gibt, in denen innerhalb kurzer Frist dem Deutschen Bundestag ein Sachstandsbericht über den bisherigen Gang des Verfahrens sowie über das bisherige Ergebnis der Untersuchungen vorzulegen ist (zum Beispiel erfolgreiche Wahlprüfungsverfahren). (Abs.52)

52

Zwingende oder jedenfalls gewichtige Gründe, sofort und ohne Übergang noch im Juni des Jahres die in der Sache unstreitige Beweisaufnahme abzubrechen, sind nicht ersichtlich. Schließlich ist es dem Ausschuss unbenommen, bereits einen Sachstandsbericht vorzubereiten, in den die noch ausstehenden wenigen Zeugenvernehmungen bis 8.Juli 2005 eingearbeitet werden.

53

b) Die Nachteile hingegen, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung, die die Interessen der Antragsteller vorläufig sichert, nicht ergeht, sich die Hauptsache später aber als begründet erweist, wiegen so schwer, dass der Erlass einer vorläufigen Regelung geboten ist.

54

Der unerwartete Verlust von Beweismitteln, die aus der Sicht der Antragsteller für die Aufklärung des Untersuchungsthemas von Bedeutung sind, würde dem Zweck des parlamentarischen Untersuchungsrechts zuwiderlaufen und die Rechte der Antragsteller in schwerwiegender Weise verletzen. Dabei ist es weder Sache des Gerichts noch der Ausschussmehrheit, über die Notwendigkeit noch ausstehender Zeugenbefragungen zu urteilen. Denn dies ist, wie der Senat klargestellt hat (vgl BVerfGE_105,197 <225>), bis zu den Grenzen des Missbrauchs Sache der einsetzungsberechtigten Minderheit.

 

Auszug aus BVerfG B, 15.06.05, - 2_BvQ_18/05 -,www.BVerfG.de,  Abs.23 ff

§§§

05.025 Aktenvortrag
 
  • BVerfG,     B, 30.06.05,     – 1_BvR_2615/04 –

  • = www.BVerfG.de

  • GG_Art.19 Abs.4; VwGO_§_124a Abs.4 S.4

 

LB 1) Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen.

 

LB 2) Sehen prozessrechtliche Vorschriften Rechtsbehelfe vor, so gewährleistet Art.19 Abs.4 Satz 1 GG auch in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle.

 

LB 3) Zur Ablehnung eines Beweisantrages die Prüfer des Aktenvortrage vor Gericht zu vernehmen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25.Oktober 2004 - 8 UZ 2057/04 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, soweit der Antrag auf Berufungszulassung mit der Begründung abgelehnt worden ist, der Beschwerdeführer habe mit seinem Vorbringen zur nicht durchgeführten Beweisaufnahme in erster Instanz einen Berufungszulassungsgrund nicht hinreichend im Sinne des § 124a Absatz 4 Satz 4 der Verwaltungsgerichtsordnung dargelegt; insoweit wird der Beschluss aufgehoben und die Sache an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die ihm im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.

4) Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

§§§

05.026 Solidarfonds-Abfallrückführg
 
  • BVerfG,     U, 06.07.05,     – 2_BvR_2335/95 –

  • BVerfGE_113,128 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.14 Abs.1, GG_Art.74 Abs.1 Nr.24, GG_Art.72, GG_Art.105, GG_Art.110;

 

Zur Verfassungsmäßigkeit des Solidarfonds Abfallrückführung

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

1) Artikel 1 § 8 ("Solidarfonds Abfallrückführung") des Ausführungsgesetzes zu dem Basler Übereinkommen vom 22. März 1989 über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung (Ausführungsgesetz zum Basler Übereinkommen) vom 30. September 1994 (BGBl I S.2771) ist mit Ausnahme der Sätze 1 bis 4 des Absatzes 1 sowie der Absätze 4 und 5 mit Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 72, Artikel 74, Artikel 105 und Artikel 110 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

2) Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführerinnen ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

05.027 Zigeunerjude
 
  • BVerfG,     B, 12.07.05,     – 1_BvR_2097/02 –

  • www.BVerfG.de = www.BVerfG.de

  • GG_Art.5 Abs.1 S.1, GG_Art.3 Abs.3; StGB_§_185

T-05-12

LB 1) Zur Meinungsfreiheit iSd Art.5 Abs.1 S.1 GG und polemische Äußerungen.

Abs.11

LB 2) Zu den Schranken der Meinungsfreiheit.

* * *

T-05-12Meinungsfreiheit + polemische Äußerungen

8

"Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs.2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs.2 Buchstabe a BVerfGG), noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.

9

1. Der Beschwerdeführer wird durch das Urteil des Landgerichts nicht in seinem Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art.5 Abs.1 Satz 1 GG) oder in seinem Gleichheitsrecht (Art.3 Abs.3 GG) verletzt.

10

a) Die inkriminierte Äußerung fällt in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit. Sie ist durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und des Meinens geprägt und deshalb als Werturteil anzusehen. Die polemische oder verletzende Formulierung einer Aussage entzieht diese nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (vgl BVerfGE_54,129 <138 f.>; BVerfGE_93,266 <289>; stRspr).

11

"Das nicht vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet eine Schranke unter anderem in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die ehrschützende Bestimmung des § 185 StGB gehört, die Grundlage der Verurteilung des Beschwerdeführers geworden ist. Die Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften ist grundsätzlich Sache der Strafgerichte. Das Bundesverfassungsgericht ist auf die Klärung beschränkt, ob das Strafgericht die wertsetzende Bedeutung des Freiheitsrechts verkannt hat (vgl BVerfGE_7,198 <208 f>; BVerfGE_93,266 <292>; stRspr).

12

aa) Ausgangspunkt für die Prüfung, ob die Äußerung Rechtsgüter verletzt, ist die Ermittlung ihres objektiven Sinnes. Maßgeblich ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den die Äußerung nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat (vgl BVerfGE_93,266 <295>). Dabei ist vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Empfänger erkennbar sind.

13

bb) Ist eine Rechtsgüterverletzung durch die Äußerung festzustellen, bedarf es regelmäßig einer Abwägung der durch die solchermaßen ermittelte Äußerung beiderseits betroffenen Interessen, nämlich einerseits der Meinungsfreiheit des sich Äußernden und vorliegend andererseits des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des durch eine Äußerung Betroffenen. Eine solche Abwägung entfällt allerdings, wenn es sich um Schmähkritik handelt (vgl BVerfGE_93,266 <294>). Wenn bei einer wertenden Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Herabsetzung der Person im Vordergrund steht, hat eine solche Äußerung als Schmähung hinter das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen zurückzutreten (vgl BVerfGE_82,272 <283 f.>; BVerfGE_85,1 <16>; BVerfGE_93,266 <294>).

14

b) Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung gerecht.

15

aa) Das Landgericht hat für die Deutung der Äußerung insbesondere auf die Kombination der beiden Wortbestandteile des angegriffenen Wortes "Zigeunerjude" abgestellt. Verfassungsrechtlich ist nicht zu beanstanden, dass es in der Wahl des kombinierten Begriffs "Zigeunerjude" eine an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch erinnernde, auf Ausgrenzung und menschenverachtende Herabwürdiung der Roma und Sinti sowie der Juden zielende Äußerung erblickt hat. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers war es dem Landgericht verfassungsrechtlich nicht verwehrt, bei der Erfassung des Sinns der Äußerung ihren Kontext zu berücksichtigen, darunter auch den Umstand, dass die Äußerung durch ein Mitglied der rechtsextremen Partei der "Republikaner" für eine Presseerklärung dieser Partei verfasst worden ist.

16

Das Landgericht hat seine Einschätzung des Sinns der Äußerung auch auf den Kontext in der Pressemeldung gestützt. Dem Leser dränge sich der Eindruck auf, dass in der Erklärung auf Bewertungsmaßstäbe aus der Zeit des Nationalsozialismus zurückgegriffen werde, wenn der Begriff "Zigeunerjude" auf eine Person bezogen werde, die angeblich "in gewohnter Weise mit tiefem Hass und Inbrunst sein Gift gegen die Republikaner und alles was deutsch und rechts ist" ausspritze.

17

bb) Andere nachvollziehbare Deutungen der Äußerung sind nicht erkennbar. Auch der Beschwerdeführer selbst zeigt sie nicht auf. Das Gericht braucht nicht auf entfernte, weder durch den Wortlaut noch die Umstände der Äußerung gestützte Alternativen einzugehen oder gar abstrakte Deutungsmöglichkeiten zu entwickeln, die in den konkreten Umständen keinerlei Anhaltspunkte finden (vgl BVerfGE 93,266 <296>). Die von dem Beschwerdeführer im Verfahren angegebene Bedeutung, wonach er auf eine starke Reisetätigkeit des Dr. F habe hinweisen wollen, durfte das Gericht angesichts des Fehlens jeglichen Bezugs der Äußerung und ihres Kontextes zu Reisen des Geschädigten als absolut fernliegend ansehen.

18

cc) Es ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die angegriffene Äußerung "Zigeunerjude" als Schmähung eingeordnet hat. Es hat dabei berücksichtigt, dass eine herabsetzende Äußerung erst dann als Schmähkritik angesehen werden kann, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.

19

dd) Für eine Verletzung des Gleichheitssatzes (Art.3 Abs.3 Satz 1 GG) ist nichts dargetan. Der Beschwerdeführer ist nicht wegen seiner politischen Anschauungen, sondern wegen einer Schmähung verurteilt worden.

20

2. Die Verfassungsbeschwerde hat keine eigenständige Verletzung grundrechtlicher Gewährleistungen durch den Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts aufgezeigt. Diese das Urteil des Landgerichts bestätigende Entscheidung ist verfassungsrechtlich gleichfalls nicht zu beanstanden."

 

Auszug aus BVerfG B, 12.07.05, - 1_BvR_2097/02 -,www.BVerfG.de,  Abs.8 ff

§§§

05.028 Arztwerbung
 
  • BVerfG,     B, 13.07.05,     – 1_BvR_191/05 –

  • www.BVerfG.de = www.BVerfG.de

  • GG_Art.12 Abs.1; BO_§_27

T-05-13

LB 1) Zur Zulässigkeit von Arztwerbung.

Abs.22

LB 2) Bundesverfassungsgerichtliche Auslegungsvorgaben für die Werbung eines Arztes.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Das Urteil des Bayerischen Landesberufsgerichts für die Heilberufe vom 22.November 2004 - LBG-Ä 003/04 - und das Urteil des Berufsgerichts für die Heilberufe bei dem Oberlandesgericht München vom 16. Juni 2004 - BG-Ä 5/04 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes; die Entscheidungen werden aufgehoben.

2) Das Verfahren wird an das Berufsgericht für die Heilberufe bei dem Oberlandesgericht München zurückverwiesen. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

3) Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 25.000 (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

* * *

T-05-13Arztwerbung

18

"3. So liegt es hier. Die angegriffenen Entscheidungen werden dem Maßstab des Art.12 Abs.1 GG nicht gerecht.

19

a) Allerdings ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass das Berufsgericht die in Frage stehenden Veröffentlichungen nicht als Klinik-, sondern als Arztwerbung qualifiziert und daher an dem für Ärzte geltenden Maßstab des § 27 Abs.3 BO gemessen hat. Die Textverweise vorrangig auf den Beschwerdeführer selbst und seine besonderen persönlichen Leistungen als Arzt lassen diese Auslegung zu.

20

Dass demgegenüber das Landesberufsgericht offen gelassen hat, ob Klinik- oder Arztwerbung vorliegt, ist mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Werbeprivileg für Kliniken verfassungsrechtlich bedenklich (vgl beispielsweise BVerfG, Beschluss der 2.Kammer des Ersten Senats, MDR 2000, S.730 <731>). Dies wirkt sich vorliegend jedoch nicht als eigene grundrechtliche Beschwer aus, weil die Werbung ohnehin nach dem strengeren Maßstab des § 27 Abs.3 BO beurteilt worden ist.

21

b) Gleichwohl werden die Entscheidungen dem Grundrecht des Beschwerdeführers auf Berufsausübungsfreiheit nicht hinreichend gerecht. Die Gerichte haben in allen Veröffentlichungen Fälle berufswidriger, weil anpreisender Werbung gesehen. Sie haben dabei aus den jeweils über mehrere Spalten gehenden Werbetexten einzelne, ihrer Auffassung nach anreißerische Sätze herausgegriffen und daraus ohne weitergehende Erörterung rückgeschlossen, dass insgesamt die Werbung als unzulässig anpreisend zu beurteilen sei. Damit sind die Gerichte dem Sachverhalt nicht in einer Weise gerecht geworden, die angesichts seiner grundrechtsbeschränkenden Würdigung angezeigt gewesen wäre.

22

"aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Wortsinn einzelner Passagen einer Werbung stets grundrechtsfreundlich im Kontext des gesamten Inhalts auszulegen (vgl BVerfG, Beschluss der 2.Kammer des Ersten Senats, NJW 2001, S.3324 <3325>). Der Schluss der Gerichte von den Einzelpassagen auf den Gesamtcharakter der Werbung wäre daher verfassungsrechtlich nur dann tragbar, wenn die herausgegriffenen Passagen charakterisierend für die Werbung insgesamt wären. Dies ist indes nicht der Fall. Im Vordergrund aller drei Texte steht die Information potentieller Patienten über die Behandlungs- und Operationsmethoden des Beschwerdeführers. Beschrieben wird eine relativ neue Behandlungsmethode, die bislang in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist und auch nur in wenigen Kliniken praktiziert wird. Besonderes Gewicht liegt dabei auf der Aufklärung der Patienten darüber, welche Vorzüge diese Methode gegenüber den herkömmlichen Operationsmethoden hat. Sie unterscheidet sich von den herkömmlichen Operationsmethoden erheblich, weil sie einen deutlich geringeren Eingriff in den menschlichen Körper mit sich bringt als letztere. Die beanstandeten Texte vermitteln daher in erster Linie Informationen über Inhalt, Bedeutung und Möglichkeiten der praktizierten Behandlung. Sie entsprechen damit nicht nur einem erheblichen und legitimen sachlichen Informationsbedürfnis von Patienten. Vielmehr besteht an einer sachlich zutreffenden und dem Laien verständlichen Informationswerbung über noch weitgehend unbekannte Operationsmethoden auch ein anerkennenswertes Allgemeininteresse (vgl dazu BVerfG, Beschluss der 2.Kammer des Ersten Senats, NJW 2000, S.2734 <2735>). Mit welchen vernünftigen Gemeinwohlbelangen sich das Verbot dieser Schilderungen rechtfertigen ließe, ist nicht ersichtlich. Die Texte leisten weder einer unerwünschten Kommerzialisierung des Arztberufes Vorschub noch beeinträchtigen sie das Vertrauen der Bevölkerung in den ärztlichen Berufsstand.

23

bb) Die durch die Gerichte aus den Texten herausgegriffenen Passagen verwischen diesen - insgesamt zulässigen - Informationsgehalt nicht. Sie treten vielmehr hinter der Gesamtaussage zurück. Schon quantitativ machen sie keinen wesentlichen Teil der Werbung aus. Aber auch qualitativ lässt sich nichts anderes feststellen.

24

Anstoß genommen haben die Gerichte beispielsweise an der Formulierung, dass frisch Operierte mit Klinikmitarbeitern "ein Tänzchen wagten". Diese Formulierung mag für sich ohne sachlichen Gehalt sein. Sie steht jedoch nicht derart im Vordergrund, dass durch sie vom Informationsgehalt der Werbung insgesamt abgelenkt wird. Das gilt umso mehr, als sich bei der gebotenen grundrechtsfreundlichen Betrachtung auch dieser Aussage aufgrund des Zusammenhangs mit dem übrigen Text ein gewisser Informationsgehalt nicht absprechen lässt. Die gewählte Formulierung trägt zur weiteren Verdeutlichung dessen bei, was die besondere Errungenschaft der beschriebenen Operationsmethode ausmacht. Sie verdeutlicht den Erfolg der Methode und den schonenden Umgang mit dem Patienten.

25

Den Gerichten ist allerdings zuzugeben, dass Formulierungen wie die zuvor genannte den Beschwerdeführer in einem sehr positiven Licht erscheinen lassen. Anders als von der Bundesärztekammer ausgeführt, wird durch sie auch die Persönlichkeit des Beschwerdeführers gekennzeichnet. Dieser wird als Arzt dargestellt, der an der Stimmungslage der behandelten Patienten Anteil nimmt und sich für den Behandlungserfolg nicht nur medizinisch, sondern auch persönlich interessiert. Insoweit ist die beschriebene Werbung auch Image- und Sympathiewerbung.

26

Die Werbetexte sind jedoch auch mit Blick darauf von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht bereits herausgestellt, dass der Werbeeffekt als solcher nicht zu einem Verbot führen kann (vgl BVerfG, Beschluss der 2.Kammer des Ersten Senats, NJW 2001, S.2788 <2790>). Aus der Werbewirksamkeit eines Textes folgt noch nicht, dass dieser als "anreißerisch" zu qualifizieren ist. Der Beschwerdeführer muss daher grundsätzlich sein Bild in der Öffentlichkeit positiv zeichnen dürfen (vgl BVerfG, Beschluss der 2.Kammer des Ersten Senats, NJW 2003, S.2816 <2817 f.>).

27

Zum anderen sind Formulierungen wie die hier in Frage stehenden, die den Beschwerdeführer in seiner Persönlichkeit kennzeichnen, auch deshalb für den Patienten von Interesse, weil sie dessen emotionale Ebene ansprechen. Gewonnene Sympathie kann zu dem - häufig emotional geprägten - Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beitragen (vgl zu diesem Aspekt auch schon BVerfG, Beschluss der 2.Kammer des Ersten Senats, NJW 2003, S.3470 <3471>). Es ist daher insgesamt nicht ersichtlich, mit welchen Gemeinwohlbelangen sich ein Verbot dieser Passagen rechtfertigen ließe.

28

4. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem dargestellten Verstoß gegen Art.12 Abs.1 GG; es liegt nahe, dass die Gerichte in den Ausgangsverfahren anders entschieden hätten, wenn sie § 27 Abs.3 BO verfassungskonform ausgelegt hätten. Die Entscheidungen sind daher aufzuheben, damit dies nachgeholt werden kann."

 

Auszug aus BVerfG B, 13.07.05, - 1_BvR_191/05 -,www.BVerfG.de,  Abs.18 ff

§§§

05.029 Risikostrukturausgleich
 
  • BVerfG,     B, 18.07.05,     – 2_BvF_2/01 –

  • BVerfGE_113,167 = www.BVerfG.de

  • GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.120 Abs.1 S.4; SGB-V_§_266, SGB-V_§_267;

 

1) Die Bestimmungen der bundesstaatlichen Finanzverfassung stehen dem Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht entgegen.

 

2) Art 120 Abs.1 Satz 4 GG ist eine reine Zuständigkeitsvorschrift. Aus ihr folgt keine Verpflichtung des Bundes, bei finanziellen Schwierigkeiten in der Sozialversicherung auf ein Finanzausgleichsverfahren zwischen deren Trägern zugunsten der Gewährung steuerfinanzierter Zuschusszahlungen an einzelne Träger zu verzichten.

 

3) a) Die gesetzliche Krankenversicherung dient der Absicherung der als sozial schutzbedürftig angesehenen Versicherten vor den finanziellen Risiken einer Erkrankung. Hierzu kann der Gesetzgeber den Kreis der Pflichtversicherten so abgrenzen, wie es für die Begründung und den Erhalt einer leistungsfähigen Solidargemeinschaft erforderlich ist.

b) Der Risikostrukturausgleich verwirklicht den sozialen Ausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung im Einklang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG kassenübergreifend und bundesweit. Auch die Einbeziehung der ostdeutschen Versicherten in den gesamtdeutschen Solidarverband der gesetzlichen Krankenversicherung dient der Verwirklichung des für die Krankenversicherung charakteristischen sozialen Ausgleich.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 266 und § 267 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch sind seit ihrer Neufassung durch Artikel 1 Nummern 143 und 144 des Gesetzes zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 21.Dezember 1992 (Bundesgesetzblatt I Seite 2266) mit dem Grundgesetz vereinbar.

2) § 313a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ist seit seiner Einführung durch Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Stärkung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Ländern vom 24.März 1998 (Bundesgesetzblatt I Seite 526) mit dem Grundgesetz vereinbar.

3) § 137f, § 137g, § 268 und § 269 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch sind seit ihrer Einführung beziehungsweise Neufassung durch Artikel 1 Nummern 1 und 4 des Gesetzes zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 10.Dezember 2001 (Bundesgesetzblatt I Seite 3465) mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

05.030 Europäischer Haftbefehl
 
  1. BVerfG,     B, 18.07.05,     – 2_BvR_2236/04 –

  2. BVerfGE_113,273 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.16, GG_Art.16 Abs.2, GG_Art.23 Abs.1;

 

1) Art.16 GG gewährleistet als Grundrecht mit seinem Ausbürgerungs- und Auslieferungsverbot die besondere Verbindung der Bürger zu der von ihnen getragenen freiheitlichen Rechtsordnung. Der Beziehung des Bürgers zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen entspricht es, dass der Bürger von dieser Vereinigung grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann.

 

2) Die in der "Dritten Säule" der Europäischen Union praktizierte Zusammenarbeit einer begrenzten gegenseitigen Anerkennung ist ein auch unter Subsidiaritätsgesichtspunkten (Art.23 Abs.1 GG) schonender Weg, um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren.

 

3) Der Gesetzgeber war beim Erlass des Umsetzungsgesetzes zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, das Ziel des Rahmenbeschlusses so umzusetzen, dass die Einschränkung des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit verhältnismäßig ist. Insbesondere hat der Gesetzgeber über die Beachtung der Wesensgehaltsgarantie hinaus dafür Sorge zu tragen, dass der Eingriff in den Schutzbereich des Art.16 Abs.2 GG schonend erfolgt. Dabei muss er beachten, dass mit dem Auslieferungsverbot gerade auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes für den von einer Auslieferung betroffenen Deutschen gewahrt werden sollen.

 

4) Das Vertrauen des Verfolgten in die eigene Rechtsordnung ist von Art.16 Abs.2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip dann in besonderer Weise geschützt, wenn die dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Handlung einen maßgeblichen Inlandsbezug hat.

 

LB 5) Zur abweichenden Meinung des Richters Broß siehe BVerfGE_113,319 = www.BVerfG.de, Abs.132 ff.

 

LB 6) Zur abweichenden Meinung der Richter in Lübbe-Wolff siehe BVerfGE_113,327 = www.BVerfG.de, Abs.154 ff.

 

LB 7) Zur abweichenden Meinung des Richters Gerhardt siehe BVerfGE_113,339 = www.BVerfG.de, Abs.184 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz - EuHbG) vom 21.Juli 2004 (Bundesgesetzblatt I Seite 1748) verstößt gegen Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3, Artikel 16 Absatz 2 und Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes und ist nichtig.

Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 23.November 2004 - Ausl 28/03 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Die Bewilligungsentscheidung der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg vom 24.November 2004 - 9351 E - S 6 - 26.4 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 16 Absatz 2 und Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Bewilligungsentscheidung wird aufgehoben.

Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen aus dem Verfahren der einstweiligen Anordnung und der Verfassungsbeschwerde zu erstatten.

§§§

05.031 Kopierschutz
 
  1. BVerfG,     B, 25.07.05,     – 1_BvR_2182/04 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.14; UrhG_§_53 Abs.1, UrhG_§_108b Abs.1, UrhG_§_111a Abs.1

T-05-14

LB 1) Selbsthilfemaßnahmen zur Umgehung eines etwaigen Kopierschutzes sind nunmehr auch dann rechtswidrig, wenn sie dazu dienen, von der Erlaubnis des § 53 Abs.1 UrhG (Privatkopie) Gebrauch zu machen.

Abs.14

LB 2) § 108b Abs.1 letzter Satzeinschub, § 111a Abs.1 Nr.1 Buchst.a UrhG nehmen Umgehungen des Kopierschutzes zum eigenen privaten Gebrauch von straf- und bußgeldrechtlichen Sanktionen aus.

Abs.16

LB 3) Das Risiko einer zivilrechtlichen Inanspruchnahme - rechtfertigt, anders als die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit vorliegend nicht, die Zulässigkeit einer unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde zu bejahen.

Abs.19

LB 4) Das BVerfG hat offen gelassen, ob mit einem eventuellen strafbewehrten gesetzlichen Verbot der digitalen Privatkopie eine Verletzung des Eigentumsgrundrechts verbunden sein könnte, oder ob damit nicht - wofür vieles spreche - lediglich eine wirksame Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinn des Art.14 Abs.1 Satz 2 GG vorgenommen würde.

* * *

T-05-14Zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

10

"Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen hierfür (vgl BVerfGE_90,22 <24 ff>) nicht vorliegen. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinn des § 93a Abs.2 Buchstabe a BVerfGG kommt ihr nicht zu. Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte anzunehmen (§ 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG), weil sie unzulässig ist und deshalb keine Aussicht auf Erfolg hat.

11

1. Sie genügt nicht dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, weil der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Regelungen nicht unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist (vgl BVerfGE_1,97 <101 ff>; BVerfGE_18,1 <11>; BVerfGE_91,294 <305>; BVerfGE_97,157 <164>).

12

a) Ein solches Betroffensein ergibt sich zum einen nicht aus den in § 95a UrhG enthaltenen Verboten. Diese bringen für den Beschwerdeführer keine bereits jetzt spürbaren Rechtsfolgen mit sich (vgl BVerfGE_97,157 <164>).

13

Durch § 53 Abs.1 Satz 1 UrhG bleiben einzelne Vervielfältigungen zum privaten Gebrauch weiterhin grundsätzlich zulässig, wenn dazu nicht eine offensichtlich rechtswidrig hergestellte Vorlage verwendet wird. Der Beschwerdeführer stützt sich allein auf Privatkopien, die ohne weiteres von dieser Erlaubnis erfasst sind. Es ist nicht erkennbar, dass die Einführung der §§ 95a, b UrhG für den Beschwerdeführer insoweit substantielle Änderungen gebracht hat.

14

Zutreffend ist allerdings, dass Selbsthilfemaßnahmen zur Umgehung eines etwaigen Kopierschutzes nunmehr auch dann rechtswidrig sind, wenn sie dazu dienen, von der Erlaubnis des § 53 Abs.1 UrhG Gebrauch zu machen (Dreyer in HK-UrhR, 2004, § 53 Rn.12; Schmid/Wirth, Urheberrechtsgesetz, 2004, § 53 Rn.4). Damit ist aber keine Strafandrohung verbunden. Denn § 108b Abs.1 letzter Satzeinschub, § 111a Abs.1 Nr.1 Buchst.a UrhG nehmen Umgehungen des Kopierschutzes zum eigenen privaten Gebrauch von straf- und bußgeldrechtlichen Sanktionen aus (vgl BTDrucks 15/38, S.29; Schmid/Wirth, aaO, Rn.6; Ernst, CR 2004, S.39 <42 f>).

15

Es verbleibt nur die Möglichkeit, dass die Rechtsinhaber den Zivilrechtsweg gegen das Erstellen von Privatkopien unter Umgehung des Kopierschutzes beschreiten (vgl BTDrucks 15/38, S.29; Schmid/Wirth, aaO; Kotthoff in HK-UrhR, 2004, § 108 b Rn.7) und Ansprüche gemäß §§ 97 ff UrhG oder §§ 823, 1004 BGB geltend machen (vgl dazu Spieker, GRUR 2004, S.475 <480 ff.>; Arlt, MMR 2005, S.148 <149 ff>). Inwiefern der Beschwerdeführer das zu besorgen hätte, führt er jedoch nicht aus. Darlegungen hierzu wären aber angesichts des Umstandes, dass - soweit ersichtlich - in Deutschland derartige Verfahren bei Privatkopien bislang nicht angestrengt wurden, erforderlich gewesen.

16

Im Übrigen rechtfertigt das Risiko einer zivilrechtlichen Inanspruchnahme - anders als die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit (vgl BVerfGE_46,246 <256>; BVerfGE_81,70 <82> ) - vorliegend nicht, die Zulässigkeit einer unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde zu bejahen. Vielmehr ist es dem Beschwerdeführer zuzumuten, im Rahmen eines etwaigen fachgerichtlichen Verfahrens Rechtsschutz zu erlangen. Dort hat auch die Klärung zu erfolgen, ob und in welchem Umfang der Beschwerdeführer durch die beanstandeten Regelungen konkret in seinen Rechten betroffen ist. Unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist eine derartige fachgerichtliche Prüfung gerade bei Vorschriften wie §§ 95a, b UrhG und §§ 97 ff. UrhG angezeigt, die den Gerichten Entscheidungsspielräume belassen, die für die Frage der Verfassungsmäßigkeit Gewicht erlangen können (vgl BVerfGE_97,157 <164 f.>).

17

b) Die angegriffenen Regelungen führen zum anderen auch nicht zu einer faktischen Betroffenheit des Beschwerdeführers etwa der Gestalt, dass keine geeigneten Kopierwerkzeuge mehr zur Verfügung ständen. Es ist bereits nicht erkennbar, dass die bei ihm offensichtlich aus der Zeit vor In-Kraft-Treten der Gesetzesänderung noch vorhandenen Werkzeuge nicht auf absehbare Zeit das Außerkraftsetzen der üblichen Kopierschutzmechanismen ermöglichen würden (vgl dazu Stickelbrock, GRUR 2004, S.736 <739 f.>). Zudem ist das Sich-Verschaffen eines geeigneten Werkzeugs beispielsweise aus dem Internet per Download auch nach seinem Vortrag tatsächlich möglich und - wenn es zu privaten Zwecken erfolgt - ebenso wie das Umgehen des Kopierschutzes selbst weder mit Strafe noch mit Bußgeld bedroht.

18

2. Darüber hinaus ist die Verfassungsbeschwerde nicht den Anforderungen des § 92 BVerfGG entsprechend substantiiert erhoben worden. Der Beschwerdeführer setzt sich schon nicht mit der streitigen einfachrechtlichen Frage auseinander, wann eine wirksame technische Maßnahme im Sinn des § 95a UrhG vorliegt - also ob es daran etwa fehlt, wenn sich die Maßnahme ohne weiteres (zum Beispiel durch standardmäßig mit Betriebssystemen ausgelieferte Kopierwerkzeuge) umgehen lässt (so Schmid/Wirth, aaO, § 95a Rn.8 f.; vgl auch Ernst, aaO, S.39; enger wohl Dreyer, aaO, § 95a Rn.21; Stickelbrock, a.a.O., S. 738). Außerdem lässt der pauschale Vortrag des Beschwerdeführers zu den von ihm regelmäßig erworbenen Datenträgern keinerlei Beurteilung zu, ob diese tatsächlich eine wirksame technische Maßnahme im Sinn des § 95a UrhG aufweisen.

19

3. Nach Vorstehendem bedarf die streitige Frage, ob es ein Recht auf eine digitale Privatkopie gibt (vgl zB Stickelbrock, aaO, S.740; Ulbricht, aaO, S.677 ff; Hucko, aaO, S.130), keiner Erörterung. Es kann mithin dahinstehen, ob mit einem strafbewehrten gesetzlichen Verbot der digitalen Privatkopie eine Verletzung des Eigentumsgrundrechts verbunden sein könnte, oder ob damit nicht - wofür vieles spricht - lediglich eine wirksame Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinn des Art.14 Abs.1 Satz 2 GG vorgenommen wäre."

 

Auszug aus BVerfG B, 25.07.05, - 1_BvR_2182/04 -, www.BVerfG.de,  Abs.10 ff

§§§

05.032 Lebensversicherungsvertrag
 
  1. BVerfG,     U, 26.07.05,     – 1_BvR_782/94 –

  2. BVerfGE_114,1 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.14 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1; BGB_§_415; VAG_§_8 Abs.1 S.1 Nr.3, VAG_§_14 Abs.1 S.4

 

1) Bedarf es für die Übertragung des Bestands von Lebensversicherungsverträgen auf ein anderes Unternehmen keiner Genehmigung durch den Versicherungsnehmer (Ausschluss des § 415 BGB durch § 14 Abs.1 Satz 4 VAG), ist der Gesetzgeber durch Art.2 Abs.1 und Art.14 Abs.1 GG verpflichtet, den dadurch bewirkten Verlust der Möglichkeit, die vertragsmäßigen Rechte eigenständig und individuell durchzusetzen, auszugleichen.

 

2) Unterwirft der Gesetzgeber - wie in § 14 Abs.1 Satz 3 in Verbindung mit § 8 Abs.1 Satz 1 Nr.3 VAG geschehen - die Übertragung des Bestands von Lebensversicherungsverträgen auf ein anderes Unternehmen dem Vorbehalt einer aufsichtsbehördlichen Genehmigung, so sind die Belange der Versicherten von der Aufsichtsbehörde umfassend festzustellen und ungeschmälert in die Entscheidung über die Genehmigung und die dabei vorzunehmende Abwägung einzubringen.

 

3) Die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten aus Art.2 Abs.1 und Art.14 Abs.1 GG fordern Sicherungen dafür, dass die durch Prämienzahlungen der Versicherungsnehmer beim Versicherer geschaffenen Vermögenswerte im Fall von Bestandsübertragungen als Quellen für die Erwirtschaftung von Überschüssen erhalten bleiben und den Versicherten in gleichem Umfang zugute kommen wie ohne Austausch des Schuldners.

 

4) Zu den Anforderungen aus Art.14 Abs.1 GG an einen angemessenen Vermögensausgleich für den Verlust der Vereinsmitgliedschaft bei der Übertragung des Bestands von Lebensversicherungsverträgen eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit.

§§§

05.033 Überschussbeteiligung
 
  1. BVerfG,     B, 26.07.05,     – 1_BvR_80/95 –

  2. BVerfGE_114,73 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.14 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1

 

Der Gesetzgeber ist durch Art.2 Abs.1 und Art.14 Abs.1 GG verpflichtet, hinreichende rechtliche Vorkehrungen dafür vorzusehen, dass bei der Ermittlung eines bei Vertragsende zuzuteilenden Schlussüberschusses die Vermögenswerte angemessen berücksichtigt werden, die durch die Prämienzahlungen im Bereich der kapitalbildenden Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung geschaffen worden sind.

§§§

05.034 Telekommunikationsüberwachung
 
  1. BVerfG,     U, 27.07.05,     – 1_BvR_668/04 –

  2. BVerfGE_113,348 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.10, GG_Art.19 Abs.1 S.2, GG_Art.74 Abs.1 Nr.1; (Ns)SOG_§_33a Abs.1 Nr.2 +3

 

1) Führt die Änderung eines Gesetzes zu neuen Grundrechtseinschränkungen, ist das betroffene Grundrecht im Änderungsgesetz auch dann gemäß Art.19 Abs.1 Satz 2 GG zu benennen, wenn das geänderte Gesetz bereits eine Zitiervorschrift im Sinne dieser Bestimmung enthält.

 

2) Der Bundesgesetzgeber hat abschließend von seiner Gesetzgebungsbefugnis aus Art.74 Abs.1 Nr.1 GG Gebrauch gemacht, die Verfolgung von Straftaten durch Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung zu regeln. Die Länder sind deshalb nicht befugt, die Polizei zur Telekommunikationsüberwachung zum Zwecke der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten zu ermächtigen.

 

3) Zu den Anforderungen an die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit von gesetzlichen Ermächtigungen zur Verhütung und zur Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten durch Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

§ 33a Absatz 1 Nummer 2 und 3 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds.SOG) in der Fassung von Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes vom 11.Dezember 2003 (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 414) und in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.Januar 2005 (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 9) ist mit Artikel 10 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

05.035 Auflösung Bundestag
 
  1. BVerfG,     B, 08.08.05,     – 2_BvE_4/05 –

  2. BVerfGE_114,105 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.68 Abs.1 S.1; BVerfGG_§_65 Abs.1;

T-05-15

Auf die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Auflösungsentscheidung kommt es im Zusammenhang mit der Wahlvorbereitung insofern nicht an, als politische Parteien in jedem Fall einer vorzeitigen Auflösung des Deutschen Bundestages innerhalb der gesetzlichen Fristen die an ihre Teilnahme an der Bundestagswahl gestellten Anforderungen erfüllen müssen.

Abs.1

Zur Unzulässigkeit des Beitritts einer politischen Partei zum Organstreitverfahren über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Auflösung des Deutschen Bundestages.

* * *

T-05-15Beitritt

1

"Der Beitritt der politischen Parteien zu dem Organstreitverfahren der Antragstellerin ist unzulässig, da es an der für einen zulässigen Beitritt nach § 65 Abs.1 BVerfGG notwendigen Übereinstimmung der rechtlichen Interessen der Antragstellerin einerseits und der beitrittswilligen politischen Parteien andererseits fehlt.

2

Die Antragstellerin macht ein rechtliches Interesse an der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Auflösung des 15. Deutschen Bundestages geltend, weil ihr durch die Auflösung ihr verfassungsrechtlicher Status als Bundestagsabgeordnete entzogen wird. Dieser Status würde ihr in verfassungswidriger Weise entzogen, sofern eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der Auflösungsentscheidung des Antragsgegners ergäbe, dass den grundgesetzlichen Anforderungen des Art.68 Abs.1 Satz 1 GG nicht Genüge getan worden ist.

3

Das Interesse der beitrittswilligen politischen Parteien an einer längeren Vorbereitungszeit für die nächste Bundestagswahl ist anders gelagert als das verfassungsrechtliche Interesse der Antragstellerin daran, dass ihr der Abgeordnetenstatus nicht in verfassungswidriger Weise vorzeitig entzogen wird. Auf die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Auflösungsentscheidung kommt es im Zusammenhang mit der Wahlvorbereitung insofern nicht an, als politische Parteien in jedem Fall einer vorzeitigen Auflösung des Deutschen Bundestages innerhalb der gesetzlichen Fristen die an ihre Teilnahme an der Bundestagswahl gestellten Anforderungen erfüllen müssen.

 

Auszug aus BVerfG B, 08.08.05, - 2_BvE_4/05 -, www.BVerfG.de,  Abs.1 ff

§§§

05.036 Auflösung Bundestag II
 
  1. BVerfG,     B, 23.08.05,     – 2_BvE_5/05 –

  2. BVerfGE_114,107 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.68 Abs.1, GG_Art.21

 

Artikel 68 Absatz 1 des Grundgesetzes dient nicht dem Schutz politischer Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind.

§§§

05.037 Vertrauensfrage
 
  1. BVerfG,     U, 25.08.05,     – 2_BvE_4/05 –

  2. BVerfGE_114,121 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.63, GG_Art.67, GG_Art.68

 

1) Die auf Auflösung des Bundestages gerichtete Vertrauensfrage ist nur dann verfassungsgemäß, wenn sie nicht nur den formellen Anforderungen, sondern auch dem Zweck des Art.68 GG entspricht. Das Grundgesetz erstrebt mit Art.63, Art.67 und Art.68 eine handlungsfähige Regierung.

 

2) Die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Handlungsfähigkeit bedeutet, dass der Bundeskanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtung der Politik bestimmt und hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich weiß.

 

3) Von Verfassungs wegen ist der Bundeskanzler in einer Situation der zweifelhaften Mehrheit im Bundestag weder zum Rücktritt verpflichtet noch zu Maßnahmen, mit denen der politische Dissens in der die Regierung tragenden Mehrheit im Parlament offenbar würde.

 

4) Das Bundesverfassungsgericht prüft die zweckgerechte Anwendung des Art.68 GG nur in dem von der Verfassung vorgesehenen eingeschränkten Umfang.

a) Ob eine Regierung politisch noch handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab, welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Die Einschätzung der Handlungsfähigkeit hat Prognosecharakter und ist an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden.

b) Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen. Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig offenbart werden.

c) Drei Verfassungsorgane - der Bundeskanzler, der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident - haben es jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien politischen Einschätzung zu verhindern. Dies trägt dazu bei, die Verlässlichkeit der Annahme zu sichern, die Bundesregierung habe ihre parlamentarische Handlungsfähigkeit verloren.

 

LS 5) Zur abweichenden Meinung des Richters Jensch siehe BVerfGE_114,170 = www.BVerfG.de, Abs.188 ff.

 

LB 6) Zur abweichenden Meinung der Richterein Lübbe-Wolff siehe BVerfGE_114,182 = www.BVerfG.de, Abs.213 ff.

§§§

05.038 Mißbrauchsgebühr
 
  1. BVerfG,     B, 12.09.05,     – 2_BvR_1435/05 –

  2. www.BVerfG.de

  3. BVerfGG_§_34 Abs.2, BVerfGG_§_93a Abs.2

T-05-16

LB 1) Ein Missbrauch liegt vor, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist und ihre Einlegung von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss.

Abs.3

LB 2) Ist die Missbräuchlichkeit der Verfassungsbeschwerde vorrangig den Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin zuzurechnen, kann diesem eine Mißbrauchsgebühr auferlegt werden.

* * *

T-05-16Missbrauchsgebühr

2

"2. Die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr in der hier angemessenen Höhe von 500 beruht auf § 34 Abs.2 BVerfGG. Danach kann das Bundesverfassungsgericht eine Gebühr bis zu 2.600 auferlegen, wenn die Einlegung der Verfassungsbeschwerde einen Missbrauch darstellt. Ein Missbrauch liegt vor, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist und ihre Einlegung von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss. Das Bundesverfassungsgericht muss nicht hinnehmen, dass es an der Erfüllung seiner Aufgaben durch für jedermann erkennbar aussichtslose Verfassungsbeschwerden behindert wird und dadurch anderen Bürgern den ihnen zukommenden Grundrechtsschutz nur verzögert gewähren kann. Dies gilt namentlich dann, wenn ein Beschwerdeführer trotz zahlreicher Nichtannahmeentscheidungen in ähnlich gelagerten Fällen weiterhin Verfassungsbeschwerden in derselben Sache anhängig macht (stRspr; vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16.Dezember 1991 - 2 BvR 1608/91 -, NJW 1992, S.1952 f.; vom 14.September 1994 - 2 BvR 1626/94 -, NJW 1995, S. 1419; vom 6.November 1995 - 2 BvR 1806/95 -, NJW 1996, S. 1273 f.; vom 29.Mai 1996 - 2 BvR 725/96 -, NJW 1996, S. 2785; vom 19. März 1998 - 2 BvR 291/98 -, NJW 1998, S.2205; vom 13.April 1999 - 2 BvR 539/98 -, NJW-RR 1999, S.1149 f.).

3

Die Beschwerdeführerin hat mit ihrem Begehren im Jahr 2005 nunmehr bereits die vierte Verfassungsbeschwerde erhoben, obwohl alle vorangegangenen Beschwerden ohne Erfolg geblieben sind (vgl Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23.Mai 2005 - 2 BvR 87/05 -, vom 13.Juni 2005 - 2 BvR 716/05 - und vom 6.Juli 2005 - 2 BvR 909/05 -). Das Vorbringen war dabei weitgehend identisch; eine Auseinandersetzung mit der ausführlichen Begründung der Verwaltungsgerichte, dass der Beschwerdeführerin der begehrte Anspruch nicht zustehen kann, findet dabei nicht statt. Die Tatsache, dass nunmehr bereits ein richterlicher Hinweis mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird, lässt darauf schließen, dass die Missbräuchlichkeit der Verfassungsbeschwerde vorrangig den Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin zuzurechnen ist. Deshalb wird ihnen die Gebühr des § 34 Abs.2 BVerfGG auferlegt (vgl Beschluss der 3.Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9.Juni 2004 - 1 BvR 915/04 -). Dass insoweit kein der Verfassungsbeschwerde zugänglicher Akt öffentlicher Gewalt vorliegt, kann für einen Rechtsanwalt nicht zweifelhaft gewesen sein."

 

Auszug aus BVerfG B, 12.09.05, - 2_BvR_1435/05 -, www.BVerfG.de,  Abs.2 f

§§§

05.039 Beitragssicherungsgesetz
 
  1. BVerfG,     B, 13.09.05,     – 2_BvF_2/03 –

  2. BVerfGE_114,196 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.76 ff, GG_Art.80 Abs.1 S.2, GG_Art.80 Abs.2, GG_Art.84 Abs.1

 

1) Verfahrensbestimmungen lösen die Zustimmungsbedürftigkeit nach Art.84 Abs.1 GG nicht aus, wenn sie keinen neuen Einbruch in die Verwaltungszuständigkeit der Länder darstellen.

 

2) Ändert das Parlament bestehende Rechtsverordnungen oder fügt in diese neue Regelungen ein, so ist das dadurch entstandene Normgebilde aus Gründen der Normenklarheit insgesamt als Rechtsverordnung zu qualifizieren.

 

3) Bei der Änderung von Verordnungsrecht ist der Gesetzgeber an das Verfahren nach Art.76 ff GG und an die Grenzen der Ermächtigungsgrundlage (Art.80 Abs.1 Satz 2 GG) gebunden. Die Zustimmungsbedürftigkeit richtet sich nicht nach Art.80 Abs.2 GG.

 

LB 4) Zur abweichenden Meinung der Richterin Osterloh und des Richters Gerhardt siehe BVerfGE_114,250 = www.BVerfG.de, Abs.250 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Das Gesetz zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz - BSSichG) vom 23.Dezember 2002 (Bundesgesetzblatt I Seite 4637) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

05.040 Vorläufiges Wahlergebnis
 
  1. BVerfG,     B, 13.09.05,     – 2_BvQ_31/05 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.32 Abs.1, GG_Art.41 Abs.1; BWO_§_67 ff, BWO_§_71 Abs.5 +6;

T-05-17

LB 1) § 49 Bundeswahlgesetz bestimmt, dass Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, nur mit den im Bundeswahlgesetz und der Bundeswahlordnung dafür vorgesehenen Rechtsbehelfen sowie im Wahlprüfungsverfahren nach Art.41 Abs.1 GG angefochten werden können.

Abs.5

LB 2) Ist damit nach dem Willen des Verfassungsgebers und nach der Konzeption des Rechtsschutzes im Wahlverfahren der Rechtsschutz im vorliegenden Verfahren erst nach der Durchführung der Wahl zu erlangen, so steht dies der Statthaftigkeit einer Verfassungsbeschwerde im Vorfeld der Wahl entgegen.

* * *

T-05-17Eilrechtsschutz im Wahlverfahren

3

"Nach § 32 Abs.1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn der Antrag in der Hauptsache unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (vgl BVerfGE_71,158 <161>; BVerfGE_111,147 <152 f.>; stRspr).

3

1. Der Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass ein Verfahren zur Hauptsache noch nicht anhängig ist (vgl BVerfGE_71,350 <352>; stRspr). Eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre jedoch unstatthaft und damit unzulässig.

4

a) Die Verfassungsbeschwerde würde sich nach dem Vortrag in der Antragsschrift gegen die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses in den Wahlbezirken gemäß §§ 67 ff. Bundeswahlordnung - BWO - sowie gegen die Ermittlung und Bekanntgabe der vorläufigen Wahlergebnisse nach § 71 Abs.5 und 6 BWO richten. Angriffsgegenstand sind damit Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen.

5

b) § 49 Bundeswahlgesetz bestimmt, dass Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, nur mit den im Bundeswahlgesetz und der Bundeswahlordnung dafür vorgesehenen Rechtsbehelfen sowie im Wahlprüfungsverfahren nach Art.41 Abs.1 GG angefochten werden können. Ist damit nach dem Willen des Verfassungsgebers und nach der Konzeption des Rechtsschutzes im Wahlverfahren der Rechtsschutz im vorliegenden Verfahren erst nach der Durchführung der Wahl zu erlangen, so steht dies der Statthaftigkeit einer Verfassungsbeschwerde im Vorfeld der Wahl entgegen.

6

Besondere Umstände, wie etwa die herausgehobene staatspolitische Bedeutung der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, die den Senat bewogen hat, Rechtsschutz ausnahmsweise vor Durchführung der Wahl zu gewähren (vgl BVerfGE_82,322 <325,36>; BVerfGE_82,353 <369>), sind vorliegend schon im Ansatz nicht ersichtlich.

7

2. Auch eine - in das einstweilige Anordnungsverfahren vorverlegte - Wahlprüfungsbeschwerde wäre vorliegend unzulässig. Weder das Grundgesetz noch ein anderes Gesetz sehen eine vorverlegte Wahlprüfung durch das Bundesverfassungsgericht auf Antrag eines Wahlberechtigten vor (vgl BVerfGE_63,73 <76>)."

 

Auszug aus BVerfG B, 13.09.05, - 2_BvQ_31/05 -, www.BVerfG.de,  Abs.3 ff

§§§

05.041 § 12a BhVO-NRW
 
  1. BVerfG,     B, 27.09.05,     – 2_BvL_11/02 –

  2. BVerfGE_114,303 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.93 Abs.1 Nr.2, GG_Art.100 Abs.1 S.1; BVerfGG_§_80; (NW) BhVO_§_12a;

T-05-18

LB 1) Die in Art.100 Abs.1 GG, § 80 BVerfGG geregelte Vorlagepflicht besteht nur dann, wenn es sich bei der zur Nachprüfung gestellten entscheidungserheblichen Norm um ein formelles Gesetz handelt.

Abs.35

LB 2) Art.100 Abs.1 GG ist nicht anwendbar, wenn eine Rechtsverordnung durch ein formelles Gesetz geändert wird.

Abs.38

LB 3) Die Verwaltungsgerichte können selbst über die Vereinbarkeit von Regelungen einer Rechtsverordnung mit mit höherrangigem (Bundes-)Recht entscheiden.

Abs.45

LB 4) Ausnahmsweise kann die gesetzliche Grundlage einer Verordnungsbestimmung zum Gegenstand einer Vorlage nach Art.100 Abs.1 GG gemacht werden, obwohl für das Ausgangsverfahren nicht sie, sondern allein das auf ihr beruhende Verordnungsrecht unmittelbar entscheidungserheblich ist. Die Zulässigkeit einer solchen Vorlage wegen mittelbarer Entscheidungserheblichkeit ist für den Fall anerkannt worden, dass die vorgelegte Norm zwar nicht selbst unmittelbar Rechtsgrundlage für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens ist, dass ihre verfassungsrechtliche Bewertung aber zugleich über die Verfassungsmäßigkeit der unmittelbar maßgeblichen Rechtsgrundlage entscheide.

* * *

T-05-18Vorlagepflicht für formelle Gesetze

35

"a) Die in Art.100 Abs.1 GG, § 80 BVerfGG geregelte Vorlagepflicht besteht nur dann, wenn es sich bei der zur Nachprüfung gestellten entscheidungserheblichen Norm um ein formelles Gesetz handelt (vgl.BVerfGE 1,184 <201>; 1,202 <206>; 1,261 <262>; 17,208 <209 f.>; 48,40 <44 f.>; 71, 305 <337 f.>). Auch Vorschriften des Landesrechts können dem Bundesverfassungsgericht nur dann zur Entscheidung vorgelegt werden, wenn es sich um förmliche Gesetze handelt (vgl BVerfGE_1,283 <292>; BVerfGE_17,208 <210>). Die insoweit beim Bundesverfassungsgericht konzentrierte ausschließliche Zuständigkeit hat ihren tragenden Grund in der Achtung vor der gesetzgeberischen Gewalt, über deren Willen sich nicht jedes Gericht soll hinwegsetzen dürfen (vgl BVerfGE_48,40 <44 f>; BVerfGE_97,117 <122>). Dies gilt nicht in gleicher Weise für Normen im Rang unter dem förmlichen Gesetz.

36

Anders als bei förmlichen Gesetzen besteht zudem bei der Nachprüfung von Rechtsverordnungen durch einzelne Gerichte unter der Geltung des Grundgesetzes auch nicht die Gefahr der Rechtsunsicherheit oder Rechtszersplitterung. Die Normenkontrolle nach Art.93 Abs.1 Nr.2 GG bietet der jeweiligen Landesregierung insoweit hinreichende Möglichkeiten, um bei allen Rechtsverordnungen von Bedeutung rechtzeitig eine allgemein verbindliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen (vgl.BVerfGE 1,184 <199>). Die verfassungsrechtliche Nachprüfung von Rechtsverordnungen obliegt daher in Fällen ihrer Entscheidungserheblichkeit nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedem Richter (BVerfGE_1,184 <195>; BVerfGE_17,208 <210>; BVerfGE_48,40 <45>).

37

Angesichts der umfangreichen Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts entspricht dies auch dem Gebot, die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Normenkontrolle zu beschränken (vgl BVerfGE_1,184 <200 f.>). Hält ein Gericht eine Norm, auf deren Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, für unvereinbar mit höherrangigem Recht, darf es das Bundesverfassungsgericht nach Art.100 Abs.1 GG nur anrufen, wenn seine eigene Prüfungszuständigkeit nicht ausreicht, um diese Norm für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits außer Acht zu lassen (vgl BVerfGE_10,124 <127>).

38

b) Daran fehlt es hier. Das vorlegende Gericht kann über die Vereinbarkeit des § 12a NW BVO mit höherrangigem (Bundes-)Recht selbst entscheiden. Die Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist deshalb unzulässig.

39

aa) § 12a NW BVO ist als im parlamentarischen Verfahren (vgl Art.II Abs.8 des Haushaltssicherungsgesetzes vom 17.Dezember 1998 - GV.NW S.757) geschaffenes Verordnungsrecht zu qualifizieren. Werden - wie hier - Verordnungen durch förmliche Gesetze geändert oder ergänzt, so könnte dies zu einem missverständlichen, irreführenden Normgebilde führen, dessen Bezeichnung (Verordnung) und Kennzeichnung als Normsetzung auf Grund einer Ermächtigung (Art.80 Abs.1 S.3 GG) zu ihrem tatsächlichen Rang (förmliches Gesetz) und den davon abhängigen Rechtsfolgen im Widerspruch stünde. Gälte der Inhalt einer durch förmliches Gesetz veränderten Verordnung, soweit die entsprechenden Änderungen reichen, im Gesetzesrang, so wäre aus einem solchen bereinigten Normtext nicht mehr zu erkennen, welche Teile davon Verordnungsrecht geblieben und welche durch Änderungsgesetze vom Gesetzgeber erlassen worden sind. Der Rechtscharakter der einzelnen Normteile wäre nur noch mit Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien oder auf die verkündeten Fassungen von Änderungsnormen erkennbar. Auf die Auskünfte in der Überschrift und den einleitenden Worten, die auf eine genau bezeichnete Ermächtigungsgrundlage Bezug nehmen (Art.80 Abs.1 S.3 GG), wäre kein Verlass mehr; der wirkliche Status der einzelnen Bestimmungen könnte nur mit erheblichem Aufwand ermittelt werden.

40

Ein solcher Rechtszustand wäre mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Dass zur Normenklarheit auch Normenwahrheit gehört (BVerfGE_108,1 <20>), wirkt sich hier denkbar einfach aus: Überschrift und Einleitung eines Regelungswerkes müssen auch nach zahlreichen Änderungen noch halten, was sie versprechen. Eine Norm darf die von ihr Betroffenen nicht im Unklaren darüber lassen, welchen Rang sie hat und wie gegen sie effektiver Rechtsschutz zu suchen ist - sei es auf einem direkt auf die Kontrolle der Norm gerichteten Rechtsweg oder durch eine indirekte Anfechtung im Zusammenhang mit einem Rechtsmittel gegen einen Vollzugsakt (vgl Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13.September 2005 - 2 BvF 2/03 -, zu C.II.2.b)).

41

Die aufgezeigten Schwierigkeiten vermeidet nur eine Lösung, die einerseits der geänderten Verordnung einen einheitlichen Rang zuweist und andererseits sicherstellt, dass der Gesetzgeber von dieser Praxis nur in den generellen Grenzen einer Verordnungsermächtigung Gebrauch macht. Ändert das Parlament wegen des sachlichen Zusammenhangs eines Reformvorhabens bestehende Verordnungen oder fügt es in diese neue Regelungen ein, so ist das dadurch entstandene Normgebilde aus Gründen der Normenklarheit insgesamt als Verordnung zu qualifizieren (vgl Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13.September 2005 - 2 BvF 2/03 -, zu C.II.2.b) cc)).

42

bb) Gleichviel, ob die Verordnung als Ganzes oder einzelne ihrer Teile angegriffen werden und ob ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht im Verfahren der Normenkontrolle oder als Vorfrage der Prüfung einer Normanwendung zu beurteilen ist, dürfen weder die Wahl des zutreffenden Rechtsweges noch die Prüfungskompetenz des angerufenen Gerichts oder der anzuwendende Prüfungsmaßstab davon abhängen, ob Änderungen im parlamentarischen Verfahren vorgenommen wurden. Die Verordnung und alle ihre Teile stehen zur Prüfung durch jedes damit befasste Gericht. Diese erstreckt sich nicht nur auf die Einhaltung der Ermächtigungsgrundlage; sie kann zur Beanstandung der Verordnung durch das befasste Gericht selbst führen. Art.100 Abs.1 GG ist nicht anwendbar; eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ist unzulässig (vgl Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13.September 2005 - 2 BvF 2/03 -, zu C.II.2.c) cc)).

43

cc) Demgegenüber kann das vorlegende Gericht mit seinem Einwand, der Landesgesetzgeber habe die Änderungen der Beihilfeverordnung, namentlich wegen ihrer haushaltsrechtlichen Relevanz, ausdrücklich als Gesetz gewollt, nicht durchdringen. Nach dem Grundgedanken des Art.100 GG ist es zwar Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, zu verhüten, dass jedes einzelne Gericht sich über den Willen des Bundes- oder Landesgesetzgebers hinwegsetzt, indem es von diesen beschlossene Gesetze nicht anwendet, weil sie nach Auffassung des Gerichts mit höherrangigem Recht unvereinbar sind (vgl BVerfGE_1,184 <197>). Die Art.100 GG zu Grunde liegende Intention, die Autorität des (nach-)konstitutionellen Gesetzgebers zu wahren (vgl BVerfGE_97,117 <122> ), kommt aber dann nicht zum Tragen, wenn sich der Gesetzgeber auf die Ebene der Verordnung begibt. Dies wird besonders sinnfällig, wenn - wie hier - der Gesetzgeber selbst, zumal in Kenntnis der Bedeutung der Regelung für den Haushalt, die Rückkehr zum einheitlichen Verordnungsrang mittels einer Entsteinerungsklausel angeordnet hat und damit zu erkennen gibt, dass er die getroffene Regelung in den Verantwortungsbereich der Exekutive entlässt. Auch vom Standpunkt des (Landes-) Gesetzgebers sind deshalb keine Gründe ersichtlich, den von ihm eingefügten Verordnungsteil nicht wie eine Rechtsverordnung zu behandeln (vgl. hierzu auch BVerwGE 117,313 <320>).

44

dd) Der (Landes-)Gesetzgeber wird durch die hier getroffene Beurteilung nicht über Gebühr belastet. Will er den Schutz des Art.100 Abs.1 GG in Anspruch nehmen und verhindern, dass sich einzelne Gerichte über seinen Willen hinwegsetzen, so steht es ihm frei, ein formelles (Parlaments-)Gesetz zu erlassen, das sich nicht auf die Ebene der Verordnung begibt. Anderenfalls kann er den Schutz des Art.100 Abs.1 GG nicht beanspruchen und muss möglicherweise eine (vorübergehende) Rechtszersplitterung in Kauf nehmen (vgl Külpmann, Änderungen von Rechtsverordnungen durch den Gesetzgeber, NJW 2002, S.3436 <3440>). Er ist aber auch dann nicht schutzlos gestellt. Jedenfalls kann die Landesregierung gemäß Art.93 Abs.1 Nr.2 GG, § 76 Abs.1 Nr.2 BVerfGG für den Fall, dass die Verwaltungsgerichte entsprechende Verordnungsbestimmungen unangewendet lassen, einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht stellen. Aus dem Umstand, dass das Land Nordrhein-Westfalen von der in § 47 Abs.1 Nr.2 VwGO enthaltenen Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht hat, ist zu schließen, dass der Landesgesetzgeber eine Inzidentkontrolle von Landesrechtsverordnungen durch seine Verwaltungsgerichte grundsätzlich als ausreichend ansieht und Entscheidungen mit Wirkung inter omnes auf Landesebene nicht für geboten erachtet. Das vorlegende Verwaltungsgericht kann daher selbst über die Vereinbarkeit von § 12a NW BVO mit höherrangigem (Bundes-)Recht entscheiden.

45

Die Vorlage ist ferner auch nicht unter dem Gesichtspunkt mittelbarer Entscheidungserheblichkeit als zulässig anzusehen.

46

a) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass unter Umständen die gesetzliche Grundlage einer Verordnungsbestimmung zum Gegenstand einer Vorlage nach Art.100 Abs.1 GG gemacht werden kann, obwohl für das Ausgangsverfahren nicht sie, sondern allein das auf ihr beruhende Verordnungsrecht unmittelbar entscheidungserheblich ist. Die Zulässigkeit einer solchen Vorlage wegen mittelbarer Entscheidungserheblichkeit ist für den Fall anerkannt worden, dass die vorgelegte Norm zwar nicht selbst unmittelbar Rechtsgrundlage für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens ist, dass ihre verfassungsrechtliche Bewertung aber zugleich über die Verfassungsmäßigkeit der unmittelbar maßgeblichen Rechtsgrundlage entscheidet (vgl BVerfGE_20,296 <303>; BVerfGE_32,346 <358> und BVerfGE_48,29 <35 ff.> für den Fall, dass das unmittelbar entscheidungserhebliche Verordnungsrecht auf einer zur Nachprüfung gestellten gesetzlichen Ermächtigung beruht; BVerfGE_30,227 <240 f.>; BVerfGE_32,260 <266 f> für den Fall, dass das unmittelbar entscheidungserhebliche Verordnungsrecht nur den wesentlichen Inhalt der zur Nachprüfung gestellten Gesetzesnorm wiederholt; siehe auch BVerfGE_75,166 <175>).

47

b) Eine Zulässigkeit der Vorlage nach diesen Grundsätzen kommt hier nicht in Betracht. Gegenstand der Vorlage ist nach dem ausdrücklichen Inhalt des Vorlagebeschlusses die unmittelbar entscheidungserhebliche Verordnungsbestimmung des § 12a NW BVO, nicht § 88 Satz 5 LBG NW als die dazugehörige gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Die Voraussetzungen einer mittelbaren Entscheidungserheblichkeit des § 88 Satz 5 LBG NW sind vorliegend nicht erfüllt. Weder entspricht § 12a NW BVO wörtlich dem die Ermächtigungsgrundlage dieser Regelung bildenden § 88 Satz 5 LBG noch gibt § 12a NW BVO lediglich dessen wesentlichen Inhalt wieder. Eine mittelbare Erheblichkeit dieser Vorschrift des Landesbeamtengesetzes hat das Verwaltungsgericht auch nicht vorgetragen. Vor allem hat es sich nicht grundsätzlich gegen jedwede in § 88 Satz 5 LBG angeordnete "vertretbare Selbstbeteiligung", sondern nur gegen deren konkrete Ausgestaltung gewandt.

48

3. Unzulässig ist die Vorlage - ungeachtet des auch insoweit unzulässigen Vorlagegegenstandes - schließlich auch im Hinblick auf die im Beschluss vom 10.Februar 2004 vorgenommene Ergänzung. Es fehlt hier nicht nur an einer Begründung überhaupt, sondern auch an der Vorlageberechtigung. Bei Kollegialgerichten ist grundsätzlich nur das Gericht in seiner vollen Besetzung zur Vorlage berechtigt (vgl BVerfGE_1,80 <81 f.>; BVerfGE_29,178 <179>; BVerfGE_34,52 <57>). Hier hat die Kammer jedoch lediglich in der Besetzung mit drei Berufsrichtern - also ohne die zu einer vollständigen Kammerbesetzung gehörenden ehrenamtlichen Richter (vgl § 5 Abs.3 Satz 1 VwGO) - entschieden.

 

Auszug aus BVerfG B, 27.09.05, - 2_BvL_11/02 -, www.BVerfG.de,  Abs.35 ff

§§§

05.042 Altersversorgung-Beamte
 
  1. BVerfG,     U, 27.09.05,     – 2_BvR_1387/02 –

  2. BVerfGE_114,258 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.20, GG_Art.33 Abs.5

T-05-19

1) Es existiert kein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums, der den Gesetzgeber verpflichtete, bei Anpassungen der Bezüge eine strikte Parallelität der Besoldungs- und Versorgungsentwicklung zu gewährleisten.

Abs.105

2) Auch gibt es keinen hergebrachten Grundsatz, wonach der Höchstversorgungssatz mindestens 75 vH der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge betragen müsste.

Abs.121

3) Im Beamtenrecht ist das Bemühen, Ausgaben zu sparen, in aller Regel für sich genommen keine ausreichende Legitimation für eine Kürzung der Altersversorgung.

Abs.131

4) Änderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung können zur Bestimmung der Amtsangemessenheit der Versorgungsbezüge und zur Rechtfertigung von deren Absenkung nur herangezogen werden, soweit dies mit den strukturellen Unterschieden der Versorgungssysteme vereinbar ist.

Abs.80

LB 5) Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz.

Abs.88

LB 6) Zum Subsidiaritätsgrundsatz der Verfassungsbeschwerde.

Abs.94

LB 7) Zur Verfassungsmäßigkeit des § 69e BeamtVG.

Abs.112

LB 8) Zu den Plichten des Dienstherrn, die aus dem Alimentationsprinzip folgen.

Abs.140

LB 9) Zur Änderung der Versorgung und dem Gleichheitssatz.

Abs.150

LB 10) Zur Änderung der Versorgung und dem Rückwirkungsverbot.

* * *

T-05-19Verfassungsbeschwerde gegen Gesetz

69

"Die Verfassungsbeschwerde ist lediglich insoweit zulässig, als die Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit von Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 rügen.

70

Art.1 Nr.48 und Art.11 Nr.1 a) VersÄndG 2001 sind geeignet, die Beschwerdeführer in ihren Rechten aus Art.33 Abs.5 GG, Art.20 Abs.3 GG und Art.3 Abs.1 GG zu beeinträchtigen; durch diese Bestimmungen wird ihr Versorgungsniveau gesenkt, und sie werden von der staatlichen Förderung einer privaten Altersvorsorge ausgeschlossen. Hinsichtlich Art.8 Nr.2 b) und c) VersÄndG 2001 sind die Beschwerdeführer jedoch nicht beschwerdebefugt. (Abs.70)

71

1. Die Beschwerdebefugnis setzt voraus, dass sich aus dem Vortrag des Beschwerdeführers mit hinreichender Deutlichkeit die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergibt (vgl BVerfGE_65,227 <232 f>; BVerfGE_78,320 <329>; BVerfGE_89,155 <171> ). Er muss einen Sachverhalt darlegen, nach dem es jedenfalls möglich ist, dass er durch die angegriffenen Vorschriften in einem beschwerdefähigen Recht beeinträchtigt ist (vgl BVerfGE_64,367 <375>). Die als verfassungswidrig gerügte Rechtsnorm muss nach Struktur und Inhalt geeignet sein, eine grundrechtlich geschützte Position des Beschwerdeführers zu seinem Nachteil zu verändern (vgl BVerfGE_40,141 <156>).

72

2. Hieran fehlt es bezüglich Art.8 Nr.2 b) und c) VersÄndG 2001.

73

a) Mit ihrer Rüge, die Versorgungsrücklage bewirke eine im Vergleich zum Rentenrecht stärkere Reduzierung des Lebenseinkommens, haben die Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Rechte aus Art.33 Abs.5 GG nicht dargelegt. Denn die Rücklage als solche ist - mit Ausnahme der Anordnung ihrer vorübergehenden Aussetzung in Art.8 Nr.2 c) VersÄndG 2001 - nicht Gegenstand des Versorgungsänderungsgesetzes 2001.

74

b) Auch soweit sich die Beschwerdeführer gegen die durch Art.8 Nr.2 b) VersÄndG 2001 bewirkte Verlängerung des Zeitraums bis 2017 wenden, in dem die Erhöhungen der Bezüge gedämpft werden sollen, lässt ihre Verfassungsbeschwerde nicht die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten erkennen. Die von dieser Änderung betroffene Vorschrift des § 14a Abs.2 Satz 1 BBesG begründet keine Rechtsfolgen und ist deshalb nicht geeignet, die Rechtsposition der Beschwerdeführer zu beeinträchtigen.

75

§ 14a Abs.2 Satz 1 BBesG bestimmt zwar, dass die Anpassungen der Bezüge nach § 14 BBesG in der Zeit vom 1.Januar 1999 bis zum 31.Dezember 2017 gemäß § 14a Abs.1 Satz 2 BBesG vermindert werden. Da aber die Besoldung und die Versorgung einschließlich ihrer jeweiligen Anpassung gemäß § 2 Abs.1, § 14 Abs.1 BBesG und § 3 Abs.1, § 70 Abs.1 BeamtVG der Regelung durch ein Bundesgesetz bedürfen, das - wegen des lex-posterior-Grundsatzes - gegenüber § 14a Abs.2 Satz 1 in Verbindung mit Abs.1 Satz 2 BBesG stets vorrangig ist, hat diese Vorschrift lediglich Programmcharakter (vgl BVerwGE 117,305 <311 f.>). Ihr Bestand allein hat keine Auswirkungen auf die Beamtenbesoldung und -versorgung. Sie kann vor allem nicht zu deren Verminderung führen, da bereits der Zeitpunkt der Absenkungsstufen nicht bestimmt ist.

76

Diese Feststellung lässt sich nicht mit dem Argument entkräften, die Möglichkeit der Änderung einer gesetzlichen Vorschrift bestehe immer und sei deshalb nicht geeignet, die Bindungswirkung einer Norm in Frage zu stellen. Soweit § 14a BBesG die Minderung der Besoldungs- und Versorgungserhöhungen anordnet, zeichnet er sich durch die Besonderheit aus, dass die Geltung der Vorschrift nicht lediglich unter dem Vorbehalt einer möglichen, wenn auch ungewissen zukünftigen Modifikation steht. Vielmehr bedarf die in § 14a BBesG angesprochene Versorgungsrücklage wegen § 2 Abs.1, § 14 Abs.1 BBesG und § 3 Abs.1, § 70 Abs.1 BeamtVG zwingend der Umsetzung und Inkraftsetzung durch ein nachfolgendes Gesetz, für das § 14a Abs.1 Satz 2 und Abs.2 Satz 1 BBesG lediglich programmatische Vorgaben und eine vorweggenommene Begründung für eine gegebenenfalls hinter den Tarifabschlüssen im öffentlichen Dienst zurückbleibende Anpassung der Bezüge enthält.

77

c) Die durch Art.8 Nr.2 c) VersÄndG 2001 eingefügte Vorschrift des § 14a Abs.2a Satz 1 BBesG bestimmt, dass die auf den 31.Dezember 2002 folgenden acht allgemeinen Anpassungen der Besoldung abweichend von § 14a Abs.2 Satz 1 BBesG nicht vermindert werden. Hat aber bereits die Festlegung der Minderung lediglich programmatischen Charakter, so gilt dies ebenso für deren Aussetzung, die im Übrigen die Beschwerdeführer eher begünstigen als belasten würde. (Abs.77)

78

d) Schließlich ist auch hinsichtlich der in § 14a Abs.2a Satz 2 BBesG enthaltenen Anordnung, dass die auf vorangegangenen Anpassungen beruhenden weiteren Zuführungen an die Versorgungsrücklagen von der Aussetzung der Minderungen durch § 14a Abs.2a Satz 1 BBesG unberührt bleiben, die Möglichkeit einer Verletzung der Rechte der Beschwerdeführer nicht ersichtlich. Zwar ist § 14a Abs.2a Satz 2 BBesG - anders als Abs.1 Satz 2, Abs.2 Satz 1 und Abs.2a Satz 1 der Vorschrift - rechtlich bindend. Adressaten der Anordnung sind jedoch nicht die Beamten, sondern der Bund und die Länder. Der Regelung kommt eine klarstellende Funktion dergestalt zu, dass diese durch die Aussetzung der Minderung nicht zur Auflösung der nach § 14a Abs.1 Satz 1 BBesG gebildeten Sondervermögen berechtigt sind und dass die bisher erzielten Einsparungen auch während der Aussetzung den Versorgungsrücklagen zugeführt werden.

79

Die Rechtsstellung der Beschwerdeführer ist hiervon nicht betroffen. Rechtsgrund dafür, dass ihre Bezüge weiterhin hinter denjenigen zurückbleiben, die sich bei einer uneingeschränkten Übernahme der Tarifabschlüsse ergeben hätten, ist nicht § 14a Abs.2a Satz 2 BBesG. Die Differenz beruht vielmehr ausschließlich auf den verminderten Anpassungen in Art.1 BBVAnpG 99 und Art.1 BBVAnpG 2000. Ein Wegfall von § 14a Abs.2a BBesG ließe die Situation der Beschwerdeführer unberührt. Er führte allein dazu, dass die Einsparungen in die allgemeinen Haushalte des Bundes und der Länder statt in das Sondervermögen flössen.

80

Die Beschwerdeführer sind durch die Vorschriften des Art.1 Nr.48 und Art.11 Nr.1 a) VersÄndG 2001 als Adressaten selbst und auch gegenwärtig betroffen.

81

1. Gegenwärtig ist die Betroffenheit, wenn die angegriffene Vorschrift auf die Rechtsstellung des Beschwerdeführers aktuell und nicht nur potentiell einwirkt, wenn das Gesetz die Normadressaten mit Blick auf seine künftig eintretende Wirkung zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder wenn klar abzusehen ist, dass und wie der Beschwerdeführer in der Zukunft von der Regelung betroffen sein wird (vgl BVerfGE_97,157 <164>; BVerfGE_102,197 <207>). Allein die vage Aussicht, dass er irgendwann einmal in der Zukunft von der beanstandeten Gesetzesvorschrift betroffen sein könnte, genügt hingegen nicht (vgl BVerfGE_1,97 <102>; BVerfGE_43,291 <385 f>; BVerfGE_60,360 <371>; BVerfGE_74,297 <319>).

82

2. Die in § 69e Abs.3 und 4 BeamtVG (Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001) angeordnete Verminderung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge erfolgt nicht bereits mit dem Inkrafttreten der Vorschrift am 1.Januar 2002, sondern erst mit den auf den 31.Dezember 2002 folgenden Anpassungen nach § 70 BeamtVG und damit nach Ablauf der Jahresfrist des § 93 Abs.3 BVerfGG. Sie wirkt folglich nicht aktuell auf die Rechtsstellung der Beschwerdeführer ein. Dies steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde jedoch nicht entgegen. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob die Beschwerdeführer gezwungen sind, irreversible Dispositionen zu tätigen. Denn die Betroffenheit ist auch dann gegenwärtig, wenn die angegriffene Norm materielle Rechtswirkungen zwar erst in der Zukunft erzeugen wird, der Adressatenkreis der Vorschrift aber feststeht und klar abzusehen ist, in welcher Weise die Beschwerdeführer betroffen werden (vgl BVerfGE_74,297 <319 f.>; BVerfGE_97,157 <164>; BVerfGE_101,54 <74>; BVerfGE_102,197 <207>). So liegt der Fall hier.

83

a) § 69e BeamtVG erfasst alle am 1.Januar 2002 vorhandenen Pensionäre sowie die ab diesem Zeitpunkt in den Ruhestand tretenden Beamten. Das Gesetz richtet sich demnach an einen wenn auch zahlenmäßig großen, so doch eindeutig abgrenzbaren Personenkreis.

84

b) Der Zeitpunkt der Betroffenheit der Beschwerdeführer ist abzusehen. Die Minderung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge nach § 69e Abs.3 BeamtVG und des Ruhegehaltssatzes nach § 69e Abs.4 BeamtVG setzt zwar Anpassungen der Bezüge nach § 70 BeamtVG voraus. Diesbezüglich enthält § 70 Abs.1 BeamtVG in Verbindung mit § 14 Abs.1 BBesG keine zeitlichen Vorgaben. Allerdings sind in der Vergangenheit die Bezüge fast ausnahmslos jährlich erhöht worden. Von einer weiterhin jährlichen Anpassung geht auch die Begründung des Entwurfs zum Versorgungsänderungsgesetz 2001 aus, wenn darin ausgeführt wird, die Aussetzung der Versorgungsrücklage nach § 14a BBesG - die gleichfalls an die nachfolgenden acht allgemeinen Anpassungen anknüpft - erfolge voraussichtlich bis 2010 (BTDrucks 14/7064, S.31). Nach dem Inkrafttreten des § 69e BeamtVG wurde die Anhebung der Bezüge im Jahresrhythmus durch das Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2003/2004 fortgesetzt; es sah für das Jahr 2004 sogar eine zweifache Erhöhung vor. Wenn auch innerhalb der Frist des § 93 Abs.3 BVerfGG nicht der exakte Zeitpunkt des Eintritts der Rechtswirkungen der angegriffenen Norm feststand, so war doch hinreichend gewiss, dass es in absehbarer Zeit zu einer Absenkung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge kommen würde.

85

c) Des Weiteren ist der Umfang der Betroffenheit der Beschwerdeführer bestimmbar. In der Sache macht es keinen Unterschied, ob - wie in § 69e Abs.3 BeamtVG angeordnet - zunächst die ruhegehaltfähigen Dienstbezüge und erst bei der achten Anpassung gemäß § 69e Abs.4 BeamtVG der Ruhegehaltssatz oder von vornherein letzterer mit dem jeweiligen Anpassungsfaktor multipliziert wird. Folglich stand bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Versorgungsänderungsgesetzes 2001 fest, dass der Ruhegehaltssatz der Beschwerdeführerin zu 1. mit der ersten Anpassung auf 62,01 vH und bis zur achten Anpassung schrittweise auf 59,65 vH absinken wird. Der Ruhegehaltssatz des Beschwerdeführers zu 2. wird nach der ersten Anpassung 65,23 vH und nach der achten Anpassung 62,75 vH, der des Beschwerdeführers zu 3. 74,59 vH und 71,75 vH betragen.

86

3. Die Änderung des § 10a Abs.1 Satz 1 Nr.1 EStG (Art.11 Nr.1 a) VersÄndG 2001) trat zum 1.Januar 2002 in Kraft. Seit diesem Zeitpunkt kommen Besoldungs-, nicht aber Ruhegehaltsempfänger in den Genuss der staatlichen Förderung einer privaten Altersvorsorge. Die angegriffene Regelung wirkt daher aktuell auf die Rechtsstellung der Beschwerdeführer ein.

87

"Die Beschwerdeführer sind nicht gehalten, die Verfassungsmäßigkeit des Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 zunächst im fachgerichtlichen Verfahren überprüfen zu lassen. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde jedoch gegen Art.11 Nr.1 a) VersÄndG 2001 wendet, ist sie aus Subsidiaritätsgründen unzulässig.

88

1. Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl BVerfGE_74,102 <113>; BVerfGE_77,381 <401>; BVerfGE_81,22 <27>). Der Subsidiaritätsgrundsatz soll vor allem gewährleisten, dass dem Bundesverfassungsgericht infolge der fachgerichtlichen Vorprüfung der Beschwerdepunkte ein bereits eingehend geprüftes Tatsachenmaterial vorliegt und ihm auch die Fallanschauung und die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch die sachnäheren Fachgerichte vermittelt werden (vgl BVerfGE_79,1 <20>; BVerfGE_86,382 <386 f>).

89

Das ist vor allem dort von Bedeutung, wo die Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen die Prüfung tatsächlicher und einfachrechtlicher Fragen voraussetzt, für die das Verfahren vor den Fachgerichten besser geeignet ist. Das Bundesverfassungsgericht soll nicht genötigt werden, auf ungesicherter Grundlage weit reichende Entscheidungen zu erlassen (vgl BVerfGE_74,102 <113 f>; BVerfGE_77,381 <401>; BVerfGE_86,15 <27>; BVerfGE_102,197 <207> ). Auch soll es nicht Aussagen über den Inhalt einer einfachgesetzlichen Regelung treffen müssen, solange sich hierzu noch keine gefestigte Rechtsprechung der Fachgerichte entwickelt hat (vgl BVerfGE_86,15 <27>).

90

Eine vorherige Anrufung der Fachgerichte ist jedoch nur dann geboten, wenn hiervon eine Vertiefung oder Verbreiterung des tatsächlichen und rechtlichen Materials zu erwarten ist, das für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes von Bedeutung sein kann. Eine Verweisung auf die Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes kommt deshalb nicht in Betracht, wenn von der vorherigen Durchführung eines Gerichtsverfahrens weder die Klärung von Tatsachen noch die Klärung von einfachrechtlichen Fragen zu erwarten ist, auf die das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung der verfassungsrechtlichen Fragen angewiesen wäre, sondern deren Beantwortung allein von der Auslegung und Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe abhängt (vgl BVerfGE_88,384 <400>; BVerfGE_91,294 <306>; BVerfGE_98,218 <244>).

91

2. a) Danach können die Beschwerdeführer hinsichtlich Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 nicht auf die vorherige Anrufung der Verwaltungsgerichte verwiesen werden. Für den Umfang und die Art ihrer Betroffenheit kommt es auf keine weitere einfachgesetzliche Vorschrift als die des § 69e Abs.3 und 4 BeamtVG an. In Anbetracht des eindeutigen Wortlauts der Norm entfällt die Möglichkeit einer ihnen günstigeren Auslegung. Zugleich hat die angegriffene Regelung auf andere Rechtsgebiete keine Auswirkungen, die die Verfassungsmäßigkeit beeinflussen könnten. Damit beantwortet sich die Frage, ob die Absenkung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge und des Ruhegehaltssatzes mit Art.33 Abs.5 GG vereinbar ist, allein nach verfassungsrechtlichen Kriterien.

92

b) Hinsichtlich Art.11 Nr.1 a) VersÄndG 2001 ist die Verfassungsbeschwerde jedoch unzulässig. Insoweit setzt die Beurteilung der mit ihr erhobenen Rügen auch die Prüfung tatsächlicher Fragen voraus. Sie erfordert daher die vorrangige Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes. Dort wird vor allem zu klären sein, inwiefern die Möglichkeit des Abschlusses eines ergänzenden privaten Versorgungsvertrags für Bestandspensionäre überhaupt relevant ist. Insoweit ist zu beachten, dass diese vor der Wahl stehen, entweder eine künftige Absenkung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge und des Ruhegehaltssatzes zu akzeptieren - wobei eine Vermutung dafür spricht, dass hiermit keine betragsmäßige Verringerung der Pensionen einhergehen wird - oder einen Teil ihres Einkommens zum Aufbau einer ergänzenden Altersvorsorge zu verwenden und dadurch schon jetzt den zur freien Verfügung stehenden Teil ihrer Bezüge zu verringern. Für diesen Fall müssten sie für mehrere Jahre ein Einkommen hinnehmen, das dem von ihnen als zu gering gerügten entspräche oder dieses sogar unterschritte.

93

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 verstößt weder gegen hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums noch gegen Art.3 Abs.1 GG. Auch hat der Gesetzgeber die ihm durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes gezogenen Grenzen nicht überschritten.

94

§ 69e BeamtVG verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihren Rechten aus Art.33 Abs.5 GG.

95

1. Dass sich die Bezüge der aktiven und der sich im Ruhestand befindenden Beamten auf Grund § 69e BeamtVG unterschiedlich entwickeln, begegnet hinsichtlich Art.33 Abs.5 GG keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Es existiert kein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums, der den Gesetzgeber verpflichtete, bei Anpassungen der Bezüge eine strikte Parallelität der Besoldungs- und Versorgungsentwicklung zu gewährleisten (vgl BVerfGE_2,64 <67>; Beschluss der 1.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2.Juni 2001 - 2 BvR 571/00 -, NVwZ 2001, S.1393 <1394>).

96

a) Mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne des Art.33 Abs.5 GG ist der Kernbestand von Strukturprinzipien gemeint, die allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind (vgl BVerfGE_8,332 <342 f>; BVerfGE_106,225 <232>; stRspr).

97

b) Das Beamtenrecht der Weimarer Zeit kannte keine allgemein anerkannte Regel des Inhalts, dass sich die Anpassung der Ruhegehälter stets parallel zu derjenigen der Aktivenbezüge zu vollziehen hätte. So bestimmte beispielsweise der auch zu Zeiten der Weimarer Republik geltende § 10 des Preußischen Pensionsgesetzes vom 27.März 1872 (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten - Gesetzsamml.S.268), dass sich das Ruhegehalt nach den zuletzt gewährten Dienstbezügen bemaß. Änderungen in den Pensions- und Besoldungssätzen konnten grundsätzlich nicht zugunsten der Altpensionäre berücksichtigt werden (vgl. Brand, Das Beamtenrecht, 3.Aufl., 1928, S.311; Fischbach, Bundesbeamtengesetz, 1.Halbband, 3.Aufl., 1964, S.780 f).

98

Allerdings verfolgte der Gesetzgeber auch gegenüber den Ruhegehaltsempfängern den Grundsatz, den Versorgungsanspruch so zu regeln, dass er unter Berücksichtigung der sich wandelnden Verhältnisse jeweils einen angemessenen Lebensunterhalt sicherte (vgl BVerfGE_8,1 <20> ). Dies führte in der Zeit der Hyperinflation dazu, dass die Anpassungen der Besoldung und der Versorgung weitgehend parallel erfolgten. Dieser Gleichlauf war jedoch nicht umfassend. So erhielten die aktiven Beamten in Preußen gemäß § 19 Abs.1 des Gesetzes betreffend das Diensteinkommen der unmittelbaren Staatsbeamten - Beamten-Diensteinkommensgesetz - vom 7.Mai 1920 (Gesetzsamml.S.191; im Folgenden: BDEG) einen Ausgleichszuschlag. Den nach dem Inkrafttreten des Beamten-Diensteinkommensgesetzes in den Ruhestand versetzten Beamten wurde gemäß § 19 Abs.2 Satz 1 BDEG ein Zuschlag in Höhe der Hälfte des Betrags gezahlt, den sie zu dem zuletzt bezogenen Diensteinkommen als Ausgleich erhalten hätten. Nach dem zeitgleich mit dem Beamten-Diensteinkommensgesetz in Kraft getretenen Gesetz betreffend die anderweitige Regelung der Versorgungsbezüge der zum 1.April 1920 oder zu einem früheren Zeitpunkt in den Ruhestand versetzten unmittelbaren Staatsbeamten, deren Hinterbliebenen und der Hinterbliebenen der vor dem 1.April 1920 verstorbenen Beamten vom 7.Mai 1920 (Gesetzsamml. S.260; im Folgenden: Beamten-Altruhegehaltsgesetz) waren die Ruhegehälter der zum 1.April 1919 bis einschließlich 1.April 1920 in den Ruhestand versetzten Beamten auf den Betrag neu festzusetzen, der sich ergeben hätte, wenn der Betroffene nach den am 1.April 1920 geltenden Vorschriften besoldet gewesen und in den Ruhestand versetzt worden wäre. Die vor dem 1.April 1919 pensionierten Beamten erhielten hingegen gemäß § 4 Abs.1 Beamten-Altruhegehaltsgesetz nur einen Zuschlag in Höhe von 50 vH des Differenzbetrags zwischen ihrem bisherigen und dem Ruhegehalt, das sich ohne Berücksichtigung des Ausgleichszuschlags ergeben hätte, wenn sie nach den am 1.April 1920 geltenden Vorschriften besoldet gewesen und in den Ruhestand versetzt worden wären.

99

Eine weitere Neuregelung erfuhr das Besoldungsrecht durch das Gesetz über das Diensteinkommen der unmittelbaren Staatsbeamten - Beamten-Diensteinkommensgesetz - vom 17.Dezember 1920 (Gesetzsamml.1921 S.135), das rückwirkend zum 1.April 1920 in Kraft trat. Wie schon die Vorgängerregelungen ordnete es an, dass der Berechnung des Ruhegehalts das auf Grund des Beamten-Diensteinkommensgesetzes zuletzt bezogene Diensteinkommen zugrunde zu legen war. Den - nunmehr in § 18 BDEG geregelten - Ausgleichszuschlag für aktive Beamte zur Anpassung an die Veränderungen in der allgemeinen Wirtschaftslage setzte das Gesetz auf 50 vH fest. Zugleich bestimmte es, dass die Ruhegehaltsempfänger einen Versorgungszuschlag erhielten. Dieser wurde von den Ruhegehaltsbezügen in derselben Art und in demselben Verhältnis berechnet wie der Ausgleichszuschlag gleichartiger im Dienste befindlicher Beamten von deren Grundgehalt. Gemäß § 23 Abs.4 BDEG war der Versorgungszuschlag bei einer späteren Änderung des Ausgleichszuschlags für aktive Beamte für die Ruhegehaltsempfänger entsprechend neu zu berechnen. Das ebenfalls zum 1.April 1920 in Kraft getretene Beamten-Altruhegehaltsgesetz vom 17.Dezember 1920 (Gesetzsamml.1921, S.214) ordnete die Neufestsetzung des Ruhegehalts der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes in den Ruhestand versetzten Beamten auf den Betrag an, der sich ergeben hätte, wenn der Beamte bei seinem Ausscheiden nach den am 1.April 1920 geltenden Vorschriften besoldet gewesen und pensioniert worden wäre. Auch der Versorgungszuschlag des § 23 BDEG berechnete sich nach diesem Stichtag.

100

In Folge der starken Inflation wechselten sich hernach die Erhöhungen der Zuschläge und die Anpassungen der Besoldungsordnung in immer kürzeren Abständen ab. Die Bestandspensionäre wurden entweder - bezüglich der Zuschläge - durch die dynamische Verweisung in § 23 BDEG oder - hinsichtlich der Neufassungen der Besoldungsordnung - durch die jeweilige Anordnung der Neufestsetzung der Versorgungsbezüge in den Anstieg der Besoldung einbezogen. Die so neu berechneten Versorgungsbezüge der Landesbeamten durften jedoch die Pensionen der Reichsbeamten nicht übersteigen.

101

Eine vollständige Parallelität der Erhöhung gab es erstmals mit der Verordnung über Änderungen der Dienst- und Versorgungsbezüge der unmittelbaren Staatsbeamten vom 17.April 1924 (Gesetzsamml.S.469). Jedoch wurden Pensionäre auch dann nicht automatisch besser gestellt, sondern es bedurfte einer besonderen Anordnung, auf die sie wiederum keinen Anspruch hatten (vgl Brand, aaO, S.311). Bereits drei Jahre später differenzierte das Gesetz über die Dienstbezüge der unmittelbaren Staatsbeamten - Preußisches Besoldungsgesetz - vom 17.Dezember 1927 (Gesetzsamml.S.223) bei der Erhöhung der Bezüge zwischen den aktiven Beamten und den Ruhegehaltsempfängern, die keine Neufestsetzung, sondern lediglich einen degressiv gestaffelten Vomhundertsatz des ruhegehaltfähigen Diensteinkommens als Zuschlag erhielten.

102

In der Folgezeit kam es zu keinen weiteren Erhöhungen der Besoldung. Stattdessen wurden die Bezüge der aktiven und der sich im Ruhestand befindenden Beamten in mehreren Verordnungen des Reichspräsidenten gekürzt. Die Verringerung erfolgte jedoch nicht immer einheitlich. Wurden die Besoldung und die Versorgung in den Verordnungen des Reichspräsidenten vom 1.Dezember 1930 (RGBl I S.517) und 5.Juni 1931 (RGBl I S.279) noch in gleicher Höhe vermindert, so sah die Verordnung vom 6.Oktober 1931 (RGBl I S.537) lediglich eine Kürzung der über 75 vH hinausgehenden Ruhegehaltssätze auf 75 vH vor. Zum Ausgleich fiel die Reduzierung der Pensionen in der Verordnung vom 8.Dezember 1931 (RGBl I S.699) geringer aus als die der Aktivenbezüge. Der in der Preußischen Verordnung zur Sicherung des Haushalts vom 8.Juni 1932 (Gesetzsamml.S.199) angeordnete Einbehalt in Höhe von 2,5 vH umfasste wiederum einheitlich Besoldungs- und Versorgungsbezüge.

103

Auch aus den damaligen "Grundsätzliche(n) Forderungen des Deutschen Beamtenbundes" (abgedruckt bei Völter, in: Gerloff, Die Beamtenbesoldung im modernen Staat, Erster Teil, 1932, S. 99 ff <100>), worin die Übertragung jeder Änderung des Einkommens der aktiven Beamten auf das Ruhegehalt gefordert wurde, ergibt sich, dass das Beamtenrecht der Weimarer Republik den Grundsatz einer notwendig parallelen Anpassung der Bezüge nicht kannte.

104

Der Grundsatz, dass sich die Versorgung allein nach dem bei Eintritt in den Ruhestand erdienten Gehaltsanspruch bemisst, wurde erst durch § 86 Abs.2 BBG vom 14.Juli 1953 (BGBl I S.551) und § 50 Abs.2 BRRG vom 1.Juli 1957 (BGBl I S.667) zugunsten des - einfachgesetzlichen - Grundsatzes aufgegeben, dass sich künftig auch die Versorgungsbezüge jeweils nach den allgemeinen Veränderungen der Dienstbezüge errechnen sollten (vgl BVerfGE_44,227 <235>).

105

2. Des Weiteren gibt es keinen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums, wonach der Höchstversorgungssatz mindestens 75 vH der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge betragen müsse.

106

a) Allerdings sahen die Beamtengesetze der Weimarer Zeit einen Versorgungshöchstsatz von 75 vH vor; teilweise galt sogar ein höherer Vomhundertsatz. So setzte beispielsweise § 41 Reichsbeamtengesetz in der Fassung des Art.2 Abschnitt III der neunten Ergänzung des Besoldungsgesetzes vom 18.Juni 1923 (RGBl I S.385) den Höchstsatz auf 80 vH fest. Dem Schutz des Art.33 Abs.5 GG unterfällt jedoch nicht jede einfachgesetzliche Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses, sondern nur der überlieferte Kernbestand von Strukturprinzipien (vgl BVerfGE_43,242 <278>; BVerfGE_106,225 <232> ; stRspr). Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wird nur durch solche hergebrachten Regelungen beschränkt, die das Bild des Beamtentums in seiner überkommenen Gestalt und Funktion so prägen, dass ihre Beseitigung auch das Wesen des Beamtentums antasten würde (vgl Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art.33 Rn.53; Kunig, in: v Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd.2, 4./5. Aufl., 2001, Art.33 Rn.62).

107

b) Der hergebrachte Grundsatz der Beamtenversorgung, nach dem unter Wahrung des Leistungsprinzips und Anerkennung aller Beförderungen das Ruhegehalt aus dem letzten Amt zu berechnen ist, prägt das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis des Beamten und gehört zu den Grundlagen, auf denen die Einrichtung des Berufsbeamtentums ruht (BVerfGE 11,203 ). Zu den vom Gesetzgeber zu beachtenden Grundsätzen zählt daher, dass das Ruhegehalt anhand der Dienstbezüge des letzten vom Beamten bekleideten Amts zu berechnen ist (vgl BVerfGE_61,43 <57 f.>). Das gleichfalls Art.33 Abs.5 GG unterfallende Leistungsprinzip verlangt darüber hinaus, dass sich die Länge der aktiven Dienstzeit in der Höhe der Versorgungsbezüge niederschlägt (vgl BVerfGE_76,256 <322>). Art.33 Abs.5 GG erfordert mithin, dass die Ruhegehaltsbezüge sowohl das zuletzt bezogene Diensteinkommen als auch die Zahl der Dienstjahre widerspiegeln.

108

c) Daraus folgt jedoch nicht, dass auch sämtliche Berechnungsgrundlagen an dem vorstehend skizzierten Schutz des Art.33 Abs.5 GG teilhaben (vgl BVerfGE_4,219 <243>; BVerfGE_16,94 <112>; BVerfGE_21,329 <344>). So gibt es beispielsweise keinen hergebrachten Grundsatz, dass alle Teile der Amtsbezüge ruhegehaltfähig sein müssen (vgl BVerfGE_44,227 <244 f.>).

109

Bei der Ausgestaltung des Versorgungshöchstsatzes handelt es sich um eine Detailregelung, die keinen zwingenden Bezug zur Amtsangemessenheit der Alimentation aufweist. Für diese sind vielmehr die Nettobezüge maßgeblich (vgl BVerfGE_44,249 <266>; BVerfGE_81,363 <376>; BVerfGE_99,300 <315>), mithin das, was sich der Beamte von seinem Ruhegehalt leisten kann (vgl BVerfGE_44,249 <266 f.>; BVerfGE_56,353 <361 f.>). Der Versorgungssatz ist hierfür nur ein Berechnungsfaktor, dessen Absenkung nicht zwangsläufig Einfluss auf den dem Beamten ausgezahlten Betrag hat. So kann eine Verminderung des Ruhegehaltssatzes beispielsweise durch eine geringere Besteuerung oder dadurch ausgeglichen werden, dass Zulagen verstärkt ruhegehaltfähig gestellt werden.

110

Die Praxis der Jahre 1920 bis 1923 sowie 1926, in denen den Ruhegehaltsempfängern Zuschläge gezahlt wurden, bezeugt, dass auch unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung der an den Beamten ausgezahlte Betrag, nicht aber dessen Berechnungsgrundlage für die Frage der amtsangemessenen Versorgung bestimmend war. Den Bezügen lagen zwar noch die Zahl der ruhegehaltfähigen Dienstjahre und der danach errechnete Vomhundertsatz zugrunde. Es kamen aber Zuschläge hinzu, weil andernfalls eine amtsangemessene Alimentation der Beamten nicht zu gewährleisten war. Umgekehrt mussten die Ruhegehaltsempfänger in den Jahren 1930 bis 1932 Abschläge hinnehmen, obwohl diese Kürzungen - vor allem nach der Reduzierung durch die Verordnungen vom 6.Oktober und 8.Dezember 1931 und mit dem in der Verordnung vom 8.Juni 1932 angeordneten Einbehalt - dazu führten, dass sie nicht mehr 75 vH ihrer letzten Dienstbezüge erhielten. Auch das steht der Annahme eines hergebrachten Grundsatzes, wie ihn die Beschwerdeführer behaupten, entgegen.

111

3. Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 greift nicht in den Kernbestand des Alimentationsprinzips ein. Die verfassungsrechtlich gebotene Mindestalimentation wird durch § 69e BeamtVG nicht unterschritten.

112

a) Das Alimentationsprinzip gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (vgl BVerfGE_8,1 <14,16 ff.>; BVerfGE_99,300 <314>; stRspr). Es verpflichtet den Dienstherrn, den Beamten und seine Familie lebenslang angemessen zu alimentieren und ihm nach seinem Dienstrang, nach der mit seinem Amt verbundenen Verantwortung und nach Maßgabe der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards einen angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren (vgl BVerfGE_8,1 <14>; BVerfGE_107,218 <237>; stRspr). Der Beamte muss über ein Nettoeinkommen verfügen, das seine rechtliche und wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit gewährleistet und ihm über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinaus ein Minimum an Lebenskomfort ermöglicht (vgl BVerfGE_44,249 <265 f.>; BVerfGE_99,300 <315>; BVerfGE_107,218 <237> ; BVerfGK 2,64 <68>). Hierbei hat der Besoldungsgesetzgeber auch die Attraktivität des Beamtenverhältnisses für überdurchschnittlich qualifizierte Kräfte, das Ansehen des Amtes in den Augen der Gesellschaft, die vom Amtsinhaber geforderte Ausbildung und seine Beanspruchung zu berücksichtigen (vgl BVerfGE_44,249 <265 f>).

113

Die Besoldung des Beamten stellt kein Entgelt für bestimmte Dienstleistungen dar, sondern ist eine Gegenleistung des Dienstherrn dafür, dass sich der Beamte ihm mit seiner ganzen Persönlichkeit zur Verfügung stellt und gemäß den jeweiligen Anforderungen seine Dienstpflicht nach Kräften erfüllt. Sie bildet die Voraussetzung dafür, dass sich der Beamte ganz dem öffentlichen Dienst als Lebensberuf widmen und zur Erfüllung der dem Berufsbeamtentum vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe beitragen kann, eine stabile und gesetzestreue Verwaltung zu sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften zu bilden (vgl BVerfGE_7,155 <162>; BVerfGE_21,329 <345>; BVerfGE_56,146 <162>; BVerfGE_99,300 <315>; BVerfGE_107,218 <237> ). Die Sicherung eines angemessenen Lebensunterhalts - zu der auch die Versorgung des Beamten nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zählt (vgl BVerfGE_11,203 <210>; BVerfGE_39,196 <200 f>; BVerfGE_44,249 <265>) - ist deshalb ein besonders wesentlicher Grundsatz, zu dessen Beachtung der Gesetzgeber verpflichtet ist (vgl BVerfGE_8,1 <16>; BVerfGE_11,203 <210>; BVerfGE_61,43 <57 f.>).

114

Bei der Konkretisierung der aus Art.33 Abs.5 GG resultierenden Pflicht zur amtsangemessenen Alimentierung hat der Gesetzgeber einen weiten Entscheidungsspielraum (vgl BVerfGE_8,1 <22 f>; BVerfGE_76,256 <295>; BVerfGE_81,363 <375 f>; stRspr). Die Alimentation ist ein Maßstabsbegriff, der nicht statisch, sondern entsprechend den jeweiligen Zeitverhältnissen zu konkretisieren ist. Die einfachgesetzliche Verpflichtung in § 14 BBesG und § 70 Abs.1 BeamtVG, die Bezüge der Beamten durch eine Erhöhung oder auch eine Verminderung der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse anzupassen, stellt sich damit als Konkretisierung des Alimentationsgrundsatzes aus Art.33 Abs.5 GG dar (vgl BVerfGE_56,353 <361> ). Hiermit korrespondiert, dass der Beamte grundsätzlich keinen Anspruch darauf hat, dass ihm die für die Bemessung der Bezüge maßgeblichen Regelungen, unter denen er in das Beamten- und Ruhestandsverhältnis eingetreten ist, unverändert erhalten bleiben. Art.33 Abs.5 GG garantiert vor allem nicht die unverminderte Höhe der Bezüge. Der Gesetzgeber darf sie vielmehr kürzen, wenn dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist (vgl BVerfGE_8,1 <12 ff>; BVerfGE_18,159 <166 f>; BVerfGE_70,69 <79 f>; 76,256 <310>; Beschluss der 3.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15.Juli 1999 - 2 BvR 544/97 -, NVwZ 1999, S.1328 <1329>). Das kann vor allem dann der Fall sein, wenn er mit der Neufestsetzung der Bezüge oder der Umgestaltung ihrer Berechnungsgrundlage unerwünschte Vergünstigungen abbaut (vgl BVerfGE_76,256 <311> ) oder der Änderung solcher Umstände Rechnung trägt, die auch für die Bemessung der Amtsangemessenheit der Alimentation maßgeblich sind.

115

Allerdings hat der Gesetzgeber auch hierbei das Alimentationsprinzip zu beachten, das nicht nur Grundlage, sondern auch Grenze der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist; insoweit wird sein Entscheidungsspielraum eingeengt (vgl BVerfGE_61,43 <57>; 76,256 <298,310> ; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15.Juli 1999 - 2 BvR 544/97 -, NVwZ 1999, S.1328 <1329>). Dem Beamten steht, wenn auch nicht hinsichtlich der Höhe und der sonstigen Modalitäten, so doch hinsichtlich des Kernbestands seines Anspruchs auf standesgemäßen Unterhalt ein durch seine Dienstleistung erworbenes Recht zu, das durch Art.33 Abs.5 GG ebenso gesichert ist wie das Eigentum durch Art.14 GG (vgl BVerfGE_16,94 <112 f, 115>; BVerfGE_39,196 <200>).

116

b) Die durch Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 eingefügte Norm des § 69e Abs.3 und 4 BeamtVG bewirkt eine dauerhafte Verringerung des Pensionsniveaus und damit eine Kürzung, die der sachlichen Rechtfertigung bedarf.

117

Die Vorschrift senkt den Versorgungsstandard, indem sie die ruhegehaltfähigen Dienstbezüge und den Versorgungssatz vermindert. In den vergangenen Jahren wurden die Bezüge durch die Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetze stets nur der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse angeglichen (vgl BTDrucks 12/732, S.1 und 23; 12/3629, S.1 und 25; 12/5472, S.1; 12/7706, S.1 und 23; 13/2210, S.1 und 22; 13/5983, S.1 und 7; 13/10722, S.1 und 7; 14/1088, S.1 und 9; 14/5198, S.9; 15/1186, S.1 und 64). Dies lässt erwarten, dass die Anpassungen auch in den kommenden Jahren nur diese Entwicklung nachvollziehen, jedoch nicht darüber hinausgehen werden. Eine Abflachung des Anstiegs der Versorgungsbezüge - wie sie § 69e BeamtVG bewirkt - führt daher voraussichtlich dazu, dass diese hinter der Entwicklung der wirtschaftlichen und finanziellen Umstände zurückbleiben werden, auch wenn sie betragsmäßig weiter ansteigen. Ein Zurückbleiben hinter der allgemeinen Entwicklung bedeutet eine relative Verringerung des Lebensstandards des Versorgungsempfängers, das Absenken des Versorgungsniveaus mithin eine Kürzung seiner Bezüge.

118

Dem entspricht auch der Zweck des § 69e BeamtVG, der die Staatsausgaben senken soll. Eine solche Ersparnis des Staates erfordert spiegelbildlich eine Kürzung der Bezüge des Beamten. Der Betrag der Ersparnis ergibt sich aus der Differenz der Bezüge, die der Beamte unter Zugrundelegung seines festgesetzten Ruhegehaltssatzes erhält, und denen, die sich nach Maßgabe des Vomhundertsatzes errechnen, den § 69e Abs.3 und 4 BeamtVG festlegt. Auch dies verdeutlicht, dass Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 eine Absenkung der Versorgungsbezüge bewirkt.

119

Dass hier eine Kürzung erfolgt, könnte darüber hinaus nur durch die Annahme in Frage gestellt werden, künftige Änderungen würden weiterhin zu einer betragsmäßigen Anhebung der Bezüge führen, die Einkommen der Pensionäre mithin trotz § 69e BeamtVG künftig weiter steigen. Diese Vermutung findet ihre Grundlage aber allein in den bisherigen Anpassungsgesetzen, nicht jedoch in der vorgenannten Vorschrift. Diese knüpft die Absenkung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge und des Ruhegehaltssatzes nicht an die Anhebung der Bezüge, sondern an die Anpassung nach § 70 BeamtVG. Gemäß § 70 Abs.1 BeamtVG können die Dienstbezüge jedoch sowohl erhöht als auch vermindert werden. Im Falle einer Kürzung aber verringert § 69e Abs.3 und 4 BeamtVG das Einkommen stärker als das entsprechende Anpassungsgesetz allein.

120

c) Die absehbare Verringerung des Versorgungsniveaus ist im Hinblick auf die Entwicklung des Alterseinkommens der Rentner, nicht jedoch wegen des Anstiegs der Versorgungsausgaben gerechtfertigt. Die Reform der Beamtenversorgung geht zwar über die Änderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung durch die Rentenreform 2001 hinaus. Sie hält sich aber noch in den Grenzen des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums.

121

aa) Die steigenden Ausgaben der Beamtenversorgung, mit denen der Gesetzgeber die Absenkung des Versorgungsniveaus begründet hat (vgl BTDrucks 14/7064, S.30), stellen keinen sachlichen Grund für die Verminderung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge und des Versorgungssatzes dar.

122

(1) Im Beamtenrecht können finanzielle Erwägungen und das Bemühen, Ausgaben zu sparen, in aller Regel für sich genommen nicht als ausreichende Legitimation für eine Kürzung der Altersversorgung angesehen werden. Die vom Dienstherrn geschuldete Alimentierung ist keine dem Umfang nach beliebig variable Größe, die sich einfach nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten der öffentlichen Hand, nach politischen Dringlichkeitsbewertungen oder nach dem Umfang der Bemühungen um die Verwirklichung des allgemeinen Sozialstaatsprinzips bemessen lässt (vgl BVerfGE_44,249 <264>; BVerfGE_99, 300 <320>). Alimentation des Beamten und seiner Familie ist etwas anderes und Eindeutigeres als staatliche Hilfe zur Erhaltung eines Mindestmaßes sozialer Sicherung und eines sozialen Standards für alle und findet seinen Rechtsgrund nicht im Sozialstaatsprinzip, sondern in Art.33 Abs.5 GG (vgl BVerfGE_44,249 <264 f>; BVerfGE_81,363 <378>). Zu den finanziellen Erwägungen müssen deshalb in aller Regel weitere Gründe hinzukommen, die im Bereich des Systems der Altersversorgung liegen und die Kürzung von Versorgungsbezügen als sachlich gerechtfertigt erscheinen lassen (vgl BVerfGE_76,256 <311>).

123

(2) Derartige systemimmanente Gründe können beispielsweise darin bestehen, dass das Versorgungsrecht - wie insbesondere vor der Linearisierung des Steigerungssatzes - Frühpensionierungen dadurch begünstigt, dass der Höchstruhegehaltssatz bereits mehrere Jahre vor der gesetzlichen Altersgrenze erreicht wird. Die mit einem vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand verbundenen Belastungen der Staatsfinanzen rechtfertigen Einschnitte in die Beamtenversorgung mit dem Ziel, das tatsächliche Pensionierungsalter anzuheben. Hingegen können die wachsende Nachfrage staatlicher Leistungen und die Belastungen, die durch die Aufstockung der Zahl der Beamten verursacht werden, für sich genommen eine Absenkung des Versorgungsniveaus zur Einsparung staatlicher Ausgaben nicht rechtfertigen.

124

Die Begründung zum Versorgungsänderungsgesetz 2001 verweist neben der Ausweitung des Personalbestands in den 60er und 70er Jahren auf den Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung sowie die hohe Zahl von Frühpensionierungen und damit auf die Laufzeit der Versorgungsleistungen (BTDrucks 14/7064, S.30). Dies kann der Gesetzgeber lediglich insoweit beeinflussen, als er Anreize für eine Frühpensionierung verringert und die Zusatzkosten eines vorzeitigen Übertritts in den Ruhestand dadurch individualisiert, dass er die Pension des betroffenen Beamten um einen Abschlag kürzt. Eine vollständige Kostenneutralität lässt sich hierdurch jedoch nicht herstellen. (Abs.124)

125

Vor diesem Hintergrund ist die Inanspruchnahme auch der Beamten für die durch das Anwachsen des Versorgungszeitraums bedingten Mehrkosten grundsätzlich nicht sachfremd. Jeder Beamte kann in die Situation einer vorzeitigen Pensionierung kommen. Zugleich profitiert jeder Beamte davon, dass der Gesetzgeber auf die längere Lebenserwartung nicht durch eine Anhebung der Altersgrenze reagiert. Damit erscheint es grundsätzlich nicht unbillig, diese Umstände bei der Bemessung des Umfangs der Alimentation zu berücksichtigen. Da jedoch diese Gesichtspunkte die Beamtenschaft insgesamt betreffen, weisen sie keinen spezifischen Bezug zum System der Altersversorgung auf und rechtfertigen deshalb nicht die Inanspruchnahme allein der Versorgungsempfänger.

126

bb) Änderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung und die diesen zu Grunde liegenden Entwicklungen können Anlass bieten, sie in der Beamtenversorgung systemkonform nachzuführen. Die Berücksichtigungsfähigkeit von Einschnitten in die Alterseinkünfte der Rentner beruht auf der herausragenden Bedeutung der Einkommen der privatrechtlich beschäftigten Arbeitnehmer für die verfassungsrechtlich gebotene Alimentierung. Mit der Übertragung der Rentenreform 2001 hat sich der Gesetzgeber folglich an Umständen orientiert, die für die Bemessung der Amtsangemessenheit der Alimentation von Bedeutung sind.

127

(1) Dem (Netto-)Einkommensniveau der privatrechtlich beschäftigten Arbeitnehmer, vor allem der Angestellten des öffentlichen Dienstes, kommt eine besondere Bedeutung für die Bestimmung der Wertigkeit des Amtes und damit der Angemessenheit der Besoldung zu.

128

Die Angemessenheit der Alimentation bestimmt sich maßgeblich nach innerdienstlichen, unmittelbar auf das Amt bezogenen Kriterien wie dem Dienstrang, der mit dem Amt verbundenen Verantwortung und der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit. Durch das Gebot, bei der Besoldung dem Dienstrang des Beamten Rechnung zu tragen, soll - dem Leistungsgrundsatz des Art.33 Abs.2 GG folgend (vgl BVerfGE_61,43 <57 f>) - einerseits sichergestellt werden, dass die Bezüge entsprechend der unterschiedlichen Wertigkeit der Ämter abgestuft sind. In dieser Hinsicht bestimmt sich die Amtsangemessenheit im Verhältnis zur Besoldung und Versorgung anderer Beamtengruppen. Andererseits kommt darin zum Ausdruck, dass jedem Amt eine Wertigkeit immanent ist, die sich in der Besoldungshöhe widerspiegeln muss. Diese Wertigkeit wird durch die Verantwortung des Amtes und die Inanspruchnahme des Amtsinhabers bestimmt (vgl BVerfGE_44,249 <265>).

129

Bezugsrahmen für die betragsmäßige Konkretisierung dieses abstrakten Wertes der vom Beamten erbrachten Leistung sind die Einkommen der Arbeitnehmer mit vergleichbarer Ausbildung und Tätigkeit, vor allem des öffentlichen Dienstes. Die Bereitschaft des Beamten, sich mit ganzem Einsatz seinem Dienst zu widmen, und seine Immunität gegenüber politischer und finanzieller Einflussnahme durch Dritte hängen nicht zuletzt davon ab, dass die von ihm geleisteten Dienste adäquat gewürdigt werden. Maßstab hierfür wie auch für das Ansehen des Amtes in den Augen der Gesellschaft sind nicht zuletzt die Einkünfte, die er mit seinen Fähigkeiten und Kenntnissen erzielt, im Vergleich zu den Einkommen ähnlich ausgebildeter Arbeitnehmer mit vergleichbarer beruflicher Verantwortung. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber das Beamtenverhältnis für qualifizierte Kräfte anziehend ausgestalten muss (vgl BVerfGE_44,249 <265>). Dies setzt auch voraus, dass der öffentliche Dienst mit Konditionen wirbt, die insgesamt einem Vergleich mit denen der privaten Wirtschaft standhalten können. Denn die Alimentation dient nicht allein dem Lebensunterhalt des Beamten, sie hat zugleich eine qualitätssichernde Funktion.

130

(2) Hinsichtlich der Versorgungsempfänger kann der Besoldungsgesetzgeber im Rahmen einer typisierenden Betrachtungsweise davon ausgehen, dass der finanzielle Bedarf des Ruhestandsbeamten geringer ist als derjenige des aktiven Beamten (vgl BGHZ_21,248 <252>). Damit scheidet auch das Einkommen aktiver privatrechtlich beschäftigter Arbeitnehmer als Bezugspunkt zur Bestimmung der amtsangemessenen Versorgung aus. Die Orientierung an den Einkommensverhältnissen der Rentenempfänger liegt hingegen in der Konsequenz der Fortsetzung der Bedeutung der Einkommen der Angestellten für die Beurteilung der Amtsangemessenheit. (2) Hinsichtlich der Versorgungsempfänger kann der Besoldungsgesetzgeber im Rahmen einer typisierenden Betrachtungsweise davon ausgehen, dass der finanzielle Bedarf des Ruhestandsbeamten geringer ist als derjenige des aktiven Beamten (vgl BGHZ_21,248 <252>). Damit scheidet auch das Einkommen aktiver privatrechtlich beschäftigter Arbeitnehmer als Bezugspunkt zur Bestimmung der amtsangemessenen 1Z R Versorgung aus. Die Orientierung an den Einkommensverhältnissen der Rentenempfänger liegt hingegen in der Konsequenz der Fortsetzung der Bedeutung der Einkommen der Angestellten für die Beurteilung der Amtsangemessenheit. ]F3) 131 ]F3[ (a) Das System der gesetzlichen Rentenversicherung und dessen Veränderungen können allerdings nur insofern zur Bestimmung der Amtsangemessenheit der Versorgungsbezüge und zur Rechtfertigung von deren Absenkung herangezogen werden, als dies mit den strukturellen Unterschieden der Versorgungssysteme vereinbar ist. ]F4) 132 ]F4[ Ein wesentlicher Unterschied der gesetzlichen Rentenversicherung gegenüber der beamtenrechtlichen Altersversorgung besteht darin, dass die Sozialrente als Grundversorgung durch Zusatzleistungen ergänzt wird. Die Beamtenversorgung umfasst hingegen als Vollversorgung sowohl die Grund- als auch die Zusatzversorgung, wie sie durch die betriebliche Altersvorsorge erfolgt. Diese Doppelfunktion ist einerseits durch die Pflicht des Dienstherrn begründet, dem Beamten einen seinem Amt angemessenen Ruhestand zu ermöglichen. Andererseits ist sie Korrektiv dafür, dass dem Beamten weder individuell noch durch kollektive Maßnahmen eine ergänzende betriebliche Versorgungszusage ermöglicht wird. Zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beamtenversorgung bestehen mithin strukturelle Unterschiede. Sie sind bei einem Vergleich der Systeme zu berücksichtigen. Das Versorgungsniveau von Mitgliedern der gesetzlichen Rentenversicherung bildet nur dann einen tauglichen Vergleichsmaßstab, wenn dabei neben der Rente auch Einkünfte aus einer betrieblichen Zusatzversorgung berücksichtigt werden.

131

(a) Das System der gesetzlichen Rentenversicherung und dessen Veränderungen können allerdings nur insofern zur Bestimmung der Amtsangemessenheit der Versorgungsbezüge und zur Rechtfertigung von deren Absenkung herangezogen werden, als dies mit den strukturellen Unterschieden der Versorgungssysteme vereinbar ist.

132

Ein wesentlicher Unterschied der gesetzlichen Rentenversicherung gegenüber der beamtenrechtlichen Altersversorgung besteht darin, dass die Sozialrente als Grundversorgung durch Zusatzleistungen ergänzt wird. Die Beamtenversorgung umfasst hingegen als Vollversorgung sowohl die Grund- als auch die Zusatzversorgung, wie sie durch die betriebliche Altersvorsorge erfolgt. Diese Doppelfunktion ist einerseits durch die Pflicht des Dienstherrn begründet, dem Beamten einen seinem Amt angemessenen Ruhestand zu ermöglichen. Andererseits ist sie Korrektiv dafür, dass dem Beamten weder individuell noch durch kollektive Maßnahmen eine ergänzende betriebliche Versorgungszusage ermöglicht wird. Zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beamtenversorgung bestehen mithin strukturelle Unterschiede. Sie sind bei einem Vergleich der Systeme zu berücksichtigen. Das Versorgungsniveau von Mitgliedern der gesetzlichen Rentenversicherung bildet nur dann einen tauglichen Vergleichsmaßstab, wenn dabei neben der Rente auch Einkünfte aus einer betrieblichen Zusatzversorgung berücksichtigt werden.

133

(b) Soweit die Rentenreform des Jahres 2001 dazu führt, dass eine angemessene Altersversorgung nur mit Hilfe zusätzlicher, privater Altersvorsorge gesichert werden kann (vgl BTDrucks 14/4595, S.38), scheidet eine Übertragbarkeit auf das Versorgungsrecht aus.

134

Unabhängig von der Frage, ob und gegebenenfalls in welchen Grenzen ein entsprechender Übergang zu einem System, in dem Teile der Altersversorgung durch private Zusatzversicherung abgesichert sind, auch für den Bereich der Beamtenversorgung überhaupt ohne Verfassungsänderung möglich wäre, kann für die Bemessung der Bezüge beamteter Versorgungsempfänger jedenfalls gegenwärtig der Vergleich mit Rentenbezügen insoweit nicht maßgebend sein, als diese nur eine Teilversorgung im Rahmen eines mehrsäuligen Versorgungssystems darstellen. (Abs.134)

135

(c) Schließlich hat der Gesetzgeber zu beachten, dass der Leistungsgrundsatz des Art.33 Abs.2 GG und das aus Art.33 Abs. 5 GG folgende Gebot einer dem Amt angemessenen Alimentierung auch unter den Versorgungsempfängern eine Differenzierung der Höhe ihres Ruhegehalts nach der Wertigkeit des Amtes erfordern, das von ihnen zuletzt ausgeübt wurde. Auch nach einer Absenkung des Versorgungsniveaus muss deshalb ein hinreichender Abstand zur Mindestversorgung gewährleistet sein. Bliebe die Mindestversorgung nicht auf Ausnahmefälle beschränkt oder lägen die Bezüge ganzer Gruppen von Versorgungsempfängern nicht in nennenswertem Maße über der Mindestversorgung, so führte dies zu einer Nivellierung, die die Wertigkeit des Amtes nicht mehr hinreichend berücksichtigte.

136

cc) § 69e BeamtVG stellt keine wirkungsgleiche Übertragung der Rentenreform 2001 dar. Bei Erlass des Versorgungsänderungsgesetzes 2001 ging der Gesetzgeber davon aus, die Anpassung in der gesetzlichen Rentenversicherung werde um 5 vH verringert werden. Die Absenkung des Versorgungsniveaus belaufe sich auf 4,33 vH, zu der die bereits nach § 14a BBesG erbrachte Versorgungsrücklage in Höhe von 0,6 vH hinzuzurechnen sei (vgl BTDrucks 14/7064, S.33 und 42). Unberücksichtigt blieb dabei, dass die gesetzliche Rente in vielen Fällen nur einen Teil der Altersversorgung ausmacht und dass die vorgenommenen Kürzungen zudem - jedenfalls teilweise - durch eine staatlich geförderte private Altersvorsorge kompensiert werden. Dementsprechend haben die in der mündlichen Verhandlung gehörten sachkundigen Dritten übereinstimmend ausgeführt, die Absenkung der Beamtenversorgung gehe über die der Rente hinaus.

137

Dennoch hat der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen seines Entscheidungsspielraums noch nicht überschritten. Wegen der Unterschiedlichkeit der Versorgungssysteme, zumal der jeweils eigenständigen Berechnungsgrundlage der Renten und der Pensionen, können die Beschwerdeführer eine prozentual identische Angleichung nicht verlangen. Hinzu kommt, dass die finanziellen Auswirkungen der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung bei Erlass des Versorgungsänderungsgesetzes 2001 nicht feststanden, sondern sich lediglich anhand von Modellrechnungen abschätzen ließen (vgl Hain/Tautz, DRV 2001, S.359 <369>). Insbesondere wird die Höhe der Anpassungen der Rente von vorausgegangenen Beitragssatzänderungen bestimmt (vgl Hain/Tautz, aaO, S.359 <361>), deren Ausmaß nicht vorhersehbar ist. Darüber hinaus bestanden Unsicherheiten, anhand welchen Faktors das Absenkungsvolumen in der gesetzlichen Rentenversicherung zu bemessen sei (vgl die Ausführungen von Ruland in der 73.Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags vom 8.November 2001, Protokoll S.16).

138

Die Übertragung der erst künftigen Auswirkungen der Rentenreform auf die Beamtenversorgung erforderte deshalb eine prognostische Entscheidung des Gesetzgebers. Hiermit zwangsläufig verbundene Ungenauigkeiten und Abweichungen sind bei der Beurteilung des Gestaltungsspielraums und der Amtsangemessenheit der Versorgungsbezüge zu berücksichtigen. Eine von Anbeginn bestehende Deckungsgleichheit der Veränderungen in den Versorgungssystemen ist deshalb nicht Voraussetzung der Verfassungsmäßigkeit des gesetzgeberischen Handelns. Dem Besoldungsgesetzgeber ist darüber hinaus zuzugestehen, zunächst die Auswirkungen der Veränderungen abzuwarten. Andererseits ist er jedoch gehalten, bei einer nicht unerheblichen Abweichung der tatsächlichen von der prognostizierten Entwicklung Korrekturen an der Ausgestaltung der Bezüge vorzunehmen.

139

Dem hat der Gesetzgeber durch die ebenfalls mit dem Versorgungsänderungsgesetz 2001 eingefügte Vorschrift des § 14a Abs.5 BBesG Rechnung getragen. Danach sind vor der Wiederaufnahme der Versorgungsrücklage deren Auswirkungen unter Berücksichtigung der allgemeinen Entwicklung der Alterssicherungssysteme und der Situation in den öffentlich-rechtlichen Versorgungssystemen sowie der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse zu prüfen. Durch diese Revisionsklausel wurde die Möglichkeit geschaffen, festzustellen, ob die mit dem Versorgungsänderungsgesetz 2001 angestrebte wirkungsgleiche und systemgerechte Übertragung der Rentenreform erreicht wurde. Der Gesetzgeber ist folglich schon nach der Konzeption des Versorgungsänderungsgesetzes 2001 (vgl BTDrucks 14/7064, S.51) verpflichtet, seine Prognose zu überprüfen und gegebenenfalls erforderliche Änderungen zu beschließen. Er hat hierdurch der Zweistufigkeit der Reform sowohl der Rentenversicherung als auch der Beamtenversorgung Rechnung getragen und sich die Möglichkeit offengehalten, Ungleichheiten in der ersten bei der Übertragung der zweiten Stufe auszugleichen.

140

Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 verstößt nicht gegen Art.3 Abs.1 GG.

141

1. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl BVerfGE 1,14 <52>; 98,365 <385> ; stRspr). Er ist verletzt, wenn ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung sich nicht finden lässt, sodass die Bestimmung als objektiv willkürlich bezeichnet werden muss (vgl BVerfGE 1,14 <52>; 103, 310 <318>; stRspr).

142

2. Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 bewirkt, dass aktive Beamte nur in Höhe der bislang angefallenen Versorgungsrücklage nach § 14a BBesG, Versorgungsempfänger hingegen zusätzlich durch die Absenkung des Versorgungsniveaus nach § 69e BeamtVG zur Verringerung des Anstiegs der Versorgungsausgaben finanziell belastet werden. Darin liegt eine Ungleichbehandlung.

143

Besoldung und Versorgung sind die einheitliche, schon bei Begründung des Beamtenverhältnisses garantierte Gegenleistung des Dienstherrn (vgl BVerfGE 21,329 <346>; 37,167 <179>; 39, 196 <202> ); sie sind Teilelemente des einheitlichen Tatbestands der Alimentation. Der Dienstherr ist gehalten, den Unterhalt des Beamten lebenslang - und damit auch nach Eintritt in den Ruhestand - zu garantieren (vgl BVerfGE 76,256 <298> ). Dieser Verpflichtung kommt er gegenwärtig durch Bereitstellung einer Vollversorgung nach. Der Beamte hat seine Altersversorgung und die seiner Hinterbliebenen nicht selbst zu veranlassen (vgl BVerfGE_39,196 <202>); stattdessen sind die Bruttobezüge der aktiven Beamten von vornherein - unter Berücksichtigung der künftigen Pensionsansprüche - niedriger festgesetzt (vgl BRDrucks 562/51, S.60; BVerfGE_54,11 <31 f.>; BVerfGE_105,73 <115,125>). (Abs.143)

144

Die Einheit von Besoldung und Versorgung hat zur Folge, dass es in rechtlicher Hinsicht keine "Versorgungslast" gibt. Diesem Begriff liegt die unzutreffende Annahme zugrunde, es lasse sich zwischen dem - im Vergleich zu einem Angestellten - preiswerteren aktiven Beamten, bei dem der Dienstherr nicht mit den Sozialabgaben belastet ist, und dem teureren Ruhestandsbeamten differenzieren, für den weiterhin der Dienstherr und nicht die Versorgungsanstalten des Bundes und der Länder und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte aufkommen muss. Die Versorgung ist vielmehr die Fortsetzung der Besoldung (vgl BVerfGE_21,329 <346 f>).

145

3. Der Beamte hat kein Recht auf eine allgemeine, stets prozentual vollkommen gleiche und gleichzeitig wirksam werdende Besoldungs- und Versorgungsanpassung für alle Besoldungs- und Versorgungsempfänger. Verschiedene Besoldungsgruppen können deshalb ungleich behandelt werden, wenn es hierfür einen sachlichen Grund gibt (vgl.BVerfGE 56, 353 <362>; 61,43 <63> ; Beschluss der 1.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2.Juni 2001 - 2 BvR 571/00 -, NVwZ 2001, S.1393 <1394>).

146

a) Daraus folgt zunächst, dass eine Heranziehung allein der Ruhestandsbeamten zur Absenkung der Personalkosten nicht mit dem zu erwartenden Anstieg der Ausgaben für Versorgungsempfänger sachlich gerechtfertigt werden kann.

147

b) Für eine Ungleichbehandlung kann gleichfalls nicht auf eine ansonsten doppelte Inanspruchnahme der aktiven Beamten verwiesen werden. Eine Doppelbelastung der aktiven Beamten hat der Gesetzgeber darin gesehen, dass sie neben den Verminderungen der Besoldungsanpassung auch durch eine private Altersvorsorge belastet würden (vgl BTDrucks 14/7064, S.50 f.). Nach der Gesetzesbegründung ist eine private Altersvorsorge für eine amtsangemessene Versorgung jedoch nicht erforderlich (vgl BTDrucks 14/7064, S.31). Hierauf geleistete Zahlungen stellen sich vor diesem Hintergrund als Geldanlagen dar, die zu tätigen der privaten Lebensplanung unterfällt. Ebenso wie nicht staatlich geförderte Anlageformen rechtfertigen sie es daher nicht, aktive Beamte im Gegensatz zu Versorgungsempfängern von als notwendig erachteten Sparmaßnahmen auszunehmen. b) Für eine Ungleichbehandlung kann gleichfalls nicht auf eine ansonsten doppelte Inanspruchnahme der aktiven Beamten verwiesen werden. Eine Doppelbelastung der aktiven Beamten hat der Gesetzgeber darin gesehen, dass sie neben den Verminderungen der Besoldungsanpassung auch durch eine private Altersvorsorge belastet würden (vgl BTDrucks 14/7064, S.50 f.). Nach der Gesetzesbegründung ist eine private Altersvorsorge für eine amtsangemessene Versorgung jedoch nicht erforderlich (vgl BTDrucks 14/7064, S.31). Hierauf geleistete Zahlungen stellen sich vor diesem $ç 5 Hintergrund als Geldanlagen dar, die zu tätigen der privaten Lebensplanung unterfällt. Ebenso wie nicht staatlich geförderte Anlageformen rechtfertigen sie es daher nicht, aktive Beamte im Gegensatz zu Versorgungsempfängern von als notwendig erachteten Sparmaßnahmen auszunehmen. ]G0) 148 ]G0[ c) Für die Anwendung des Gleichheitssatzes gelten jedoch die gleichen Maßstäbe wie bei der Überprüfung anhand des Kriteriums der amtsangemessenen Alimentation und der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (vgl BVerfGE 26,141 <159>; 49,260 <273> ; Beschluss der 3.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26.April 1995 - 2 BvR 794/91 ua -, NVwZ 1996, S.580). Die Übertragung der Rentenreform 2001 auf die Beamtenversorgung rechtfertigt deshalb auch im Lichte des Art.3 Abs.1 GG die Ungleichbehandlung der aktiven und der sich im Ruhestand befindenden Beamten. ]H1) 149 ]H1[ Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 verstößt weder gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot noch gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes.

148

c) Für die Anwendung des Gleichheitssatzes gelten jedoch die gleichen Maßstäbe wie bei der Überprüfung anhand des Kriteriums der amtsangemessenen Alimentation und der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (vgl BVerfGE 26,141 <159>; 49,260 <273> ; Beschluss der 3.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26.April 1995 - 2 BvR 794/91 ua -, NVwZ 1996, S.580). Die Übertragung der Rentenreform 2001 auf die Beamtenversorgung rechtfertigt deshalb auch im Lichte des Art.3 Abs.1 GG die Ungleichbehandlung der aktiven und der sich im Ruhestand befindenden Beamten.

149

Art.1 Nr.48 VersÄndG 2001 verstößt weder gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot noch gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes.

150

§ 69e BeamtVG stellt keine (echte) Rückwirkung in Form einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar.

151

1. Eine solche liegt vor, wenn der Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs einer Norm und der Eintritt ihrer Rechtsfolgen auf einen Zeitpunkt festgelegt sind, der vor demjenigen liegt, zu dem die Norm gültig geworden ist, sodass der Gesetzgeber nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift (vgl BVerfGE_30,367 <386 f>; BVerfGE_97,67 <78 f.>). Grundsätzlich erlaubt die Verfassung nur ein belastendes Gesetz, dessen Rechtsfolgen frühestens mit der Verkündung eintreten. Die Anordnung, eine Rechtsfolge solle bereits vorher eintreten, ist grundsätzlich unzulässig. Der Adressat einer belastenden Regelung kann in der Regel bis zum Zeitpunkt ihrer Verkündung darauf vertrauen, dass er nicht nachträglich einer bisher nicht geltenden Belastung unterworfen wird (vgl BVerfGE_72,200 <242,254>; BVerfGE_97,67 <78 f>).

152

Das Ruhegehalt der Beamten steht von vornherein unter dem Vorbehalt seiner Abänderbarkeit. Die Verringerung der Pensionsleistungen ist gesetzlich vorgesehen, mit dem Alimentationsprinzip vereinbar und unter Rückwirkungsgesichtspunkten (vgl BVerfGE_3,58 <160>) grundsätzlich zulässig.

153

2. § 69e BeamtVG verletzt die Beschwerdeführer nicht in ihrem verfassungsrechtlich geschützten Vertrauen. Eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen findet nicht statt. Die ruhegehaltfähigen Dienstbezüge und der Ruhegehaltssatz werden erst für die Zeit nach dem Inkrafttreten der Vorschrift abgesenkt. Die Regelung wirkt somit auf gegenwärtig noch nicht abgeschlossene Rechtsbeziehungen für die Zukunft in einer die Rechtsposition der Betroffenen verschlechternden Weise ein; es handelt sich daher um einen Fall der tatbestandlichen Rückanknüpfung (vgl BVerfGE 76,256 <346>).

154

Abzuwägen sind demnach die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der bestehenden Rechtslage. Hierbei ist einerseits das Rechtsstaatsprinzip zu beachten, welches auch die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf schützt. Andererseits besteht die unabdingbare Notwendigkeit, die Rechtsordnung ändern zu können, um den Staat handlungs- und die Rechtsordnung anpassungsfähig zu erhalten. Es muss dem Gesetzgeber daher grundsätzlich möglich sein, Normen zu erlassen, die an in der Vergangenheit liegende Tatbestände anknüpfen, und unter Änderung der künftigen Rechtsfolgen dieser Tatbestände auf veränderte Gegebenheiten zu reagieren (vgl BVerfGE_63,312 <331>; BVerfGE_70,69 <84>; BVerfGE_71,255 <272>; BVerfGE_72,200 <254>; BVerfGE_76,256 <347 f>).

155

Diese Grundsätze haben im Bereich der Beamtenversorgung und der Sozialversicherung besondere Bedeutung, weil dort die Beschäftigungsverhältnisse erst sehr viel später zu Leistungen führen und die Leistungsempfänger häufig Dispositionen mit langfristigen Auswirkungen treffen. Daher wird im Beamtenversorgungs- und Rentenversicherungsrecht besonderes Vertrauen auf den Fortbestand gesetzlicher Leistungsregelungen begründet. Hinzu kommt, dass Versorgungsempfänger und Rentner in der Regel schon deshalb ein hohes Interesse an der Beständigkeit der Rechtslage haben, weil gerade ältere Menschen bei deren Änderung leicht in eine Lage geraten können, die sie nur schwer oder überhaupt nicht aus eigener Kraft zu bewältigen vermögen. Je größer die insoweit bestehenden Gefahren sind, desto schutzwürdiger wird das betroffene Vertrauen und desto weniger darf es enttäuscht werden (vgl zB BVerfGE_40,65 <76>; BVerfGE_76,256 <348 f>).

156

Auf der anderen Seite muss der Gesetzgeber gerade auch bei notwendigerweise langfristig angelegten Alterssicherungssystemen die Möglichkeit haben, aus Gründen des Allgemeinwohls an früheren Entscheidungen nicht mehr festzuhalten und Neuregelungen zu treffen, die den gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen sowie den damit verbundenen wechselnden Interessenlagen Rechnung tragen. Bei wesentlichen und grundlegenden Änderungen von Alterssicherungssystemen, vor allem wenn sie erhebliche Verschlechterungen für die Leistungsempfänger mit sich bringen, gilt dies jedenfalls insoweit, als gewichtige und bedeutende Gründe dafür vorhanden sind (vgl BVerfGE_24,220 <230>; BVerfGE_51,356 <363>; BVerfGE_63,152 <175>; BVerfGE_69,272 <309>).

157

3. Der Umfang der Absenkung des Versorgungsniveaus in Höhe von 5 vH innerhalb eines Zeitraums von sieben Jahren und der Umstand, dass die Verminderung voraussichtlich nicht mit einem betragsmäßigen Rückgang der Bezüge einhergehen wird, lassen erwarten, dass die Beschwerdeführer in der Lage sein werden, sich den veränderten Umständen anzupassen. Hinzu kommt, dass das sachlich gerechtfertigte Ziel des Gesetzgebers, die Rentenreform 2001 auf die Pensionen zu übertragen, von der Notwendigkeit unterstützt wird, das System der Beamtenversorgung langfristig zu sichern. Die Sanierung der Staatsfinanzen ist eine übergreifende und legitime Aufgabe des Gesetzgebers zugunsten des Staatsganzen (vgl BVerfGE_60,16 <43>; BVerfGE_72,175 <198>; BVerfGE_76,256 <357> ). Kann diese allein die Absenkung des Versorgungsniveaus nicht rechtfertigen, so handelt es sich hierbei dennoch um einen Belang, der bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen zu berücksichtigen ist. Insoweit bestätigt der Dritte Versorgungsbericht der Bundesregierung die Notwendigkeit von Einsparungen auch bei den Versorgungsempfängern und die Bedeutung der Verminderung des Versorgungsniveaus für eine nachhaltige Aufrechterhaltung der Altersversorgung der Beamten (vgl BTDrucks 15/5821, S.267 f.).

158

Die mit der Übertragung der Rentenreform auf die Beamtenversorgung verfolgten Anliegen überwiegen hier das schützenswerte Vertrauen der Beschwerdeführer in den Fortbestand der für die Berechnung ihrer Versorgungsbezüge maßgeblichen Faktoren."

 

Auszug aus BVerfG U, 27.09.05, - 2_BvR_1387/02 -, www.BVerfG.de,  Abs.69 ff

§§§

05.043 Zweitwohnsteuer
 
  1. BVerfG,     B, 11.10.05,     – 1_BvR_1232/00 –

  2. BVerfGE_114,316 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.6 Abs.1;

 

Die Erhebung einer Zweitwohnungsteuer auf die Innehabung einer aus beruflichen Gründen gehaltenen Wohnung eines nicht dauernd getrennt lebenden Verheirateten, dessen eheliche Wohnung sich in einer anderen Gemeinde befindet, diskriminiert die Ehe und verstößt gegen Art.6 Abs.1 GG.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

I. 1. § 1 Absatz 1 der Satzung über die Erhebung einer Zweitwohnungssteuer der Landeshauptstadt Hannover vom 10.März 1994 (Amtsblatt für den Regierungsbezirk Hannover vom 30.März 1994 Seite 187) ist insoweit mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, als nach § 1 Absatz 2 in Verbindung mit § 2 Absatz 1 Satz 2 der Satzung auch die Innehabung einer aus beruflichen Gründen gehaltenen Wohnung eines nicht dauernd getrennt lebenden Verheirateten, dessen eheliche Wohnung sich in einer anderen Gemeinde befindet, besteuert wird.

2. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.April 2000 - BVerwG 11 C 12.99 (8 C 18.99) - verletzt den Beschwerdeführer zu 1 in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Das Verfahren wird an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.

3. Die Bundesrepublik Deutschland und die Landeshauptstadt Hannover haben dem Beschwerdeführer zu 1 seine notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten.

II. 1) § 1 der Satzung über die Erhebung der Zweitwohnungssteuer in der Stadt Dortmund vom 23. April 1998 (Dortmunder Bekanntmachungen Nr.18, 54.Jahrgang) ist insoweit mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, als nach § 2 Absatz 1 in Verbindung mit § 3 Absatz 1 Satz 2 der Satzung auch die Innehabung einer aus beruflichen Gründen gehaltenen Wohnung eines nicht dauernd getrennt lebenden Verheirateten, dessen eheliche Wohnung sich in einer anderen Gemeinde befindet, besteuert wird.

2) Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.November 2003 - 14 A 2917/03 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 22.Mai 2003 - 16 K 941/02 -, der Widerspruchsbescheid der Stadt Dortmund vom 21.Februar 2002 - StA 21/4 - und die Bescheide der Stadt Dortmund vom 12. Dezember 2001 - Kassenzeichen 051 037 009 - verletzen den Beschwerdeführer zu 2 in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Das Verfahren wird an das Oberverwaltungsgericht zur Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen.

3) Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.

4) Das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadt Dortmund haben dem Beschwerdeführer zu 2 drei Viertel seiner notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten.

§§§

05.044 IM-Sekretär
 
  1. BVerfG,     B, 25.10.05,     – 1_BvR_1696/98 –

  2. BVerfGE_114,339 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.5; BGB_§_823 Abs.2, BGB_§_1004 Abs.1 StGB_§_186

 

Verletzt eine mehrdeutige Meinungsäußerung das Persönlichkeitsrecht eines anderen, scheidet ein Anspruch auf deren zukünftige Unterlassung - anders als eine Verurteilung wegen einer in der Vergangenheit erfolgten Äußerung, etwa zu einer Strafe, zur Leistung von Schadensersatz oder zum Widerruf - nicht allein deshalb aus, weil sie auch eine Deutungsvariante zulässt, die zu keiner Persönlichkeitsbeeinträchtigung führt.

§§§

05.045 Aufenthaltserlaubnis
 
  1. BVerfG,     B, 25.10.05,     – 2_BvR_524/01 –

  2. BVerfGE_114,357 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.3 S.1

 

Mit Art.3 Abs.3 Satz 1 GG ist es nicht vereinbar, die erleichterte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ein im Bundesgebiet geborenes Kind allein an den Aufenthaltstitel der Mutter, nicht hingegen auch des Vaters zu knüpfen.

§§§

05.046 Teilnehmerentgelt
 
  1. BVerfG,     B, 26.10.05,     – 1_BvR_396/98 –

  2. BVerfGE_114,371 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3; (By) MedienG_§_34 Abs.4 -6, MedienG_§_38 Abs.3 -6

 

Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die finanzielle Unterstützung privater Rundfunkanbieter durch das bayerische Teilnehmerentgelt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Regelungen über das Teilnehmerentgelt in Artikel 38 Absatz 3 bis 6 des Gesetzes über die Entwicklung, Förderung und Veranstaltung privater Rundfunkangebote und anderer Mediendienste in Bayern (Bayerisches Mediengesetz - BayMG) vom 24.November 1992 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 584) und in Artikel 33 Absatz 4 bis 6 dieses Gesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 22.Oktober 2003 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 799) sind mit Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

2) Soweit die genannten Regelungen noch gelten, sind sie längstens bis zum 31. Dezember 2008 weiterhin anwendbar.

3) Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.

4) Der Freistaat Bayern hat den Erben des Beschwerdeführers die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

05.047 Sammelklage
 
  1. BVerfG,     B, 09.11.05,     – 2_BvR_1198/03 –

  2. BVerfGE_115,396 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3; BVerfGG_§_32; ZPO_§_328 Abs.1

T-05-20

LB 1) Erfolgreicher Antrag auf Untersagung das Zeugnis über die Zustellung einer Klageschrift gegen den Beschwerdeführer gemäß Art.6 Abs.4 HZÜ zu übermitteln

Abs.31

LB 2) Der Vorbehalt in Art.13 HZÜ für die Anwendung ausländischen Rechts wird durch Rechtsprechung und Literatur im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Haager Zustellungsübereinkommens eng ausgelegt.

Abs.33

LB 3) Das Grundgesetz gebietet, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (vgl BVerfGE_75,1 <16 f>) auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen.

Abs.35

LB 4) Diese Respektierungspflicht könnte jedoch ihre Grenze dort erreichen, wo die ausländische, im Klageweg geltend gemachte Forderung - jedenfalls in ihrer Höhe - offenkundig keine substantielle Grundlage hat. Werden Verfahren vor staatlichen Gerichten in einer offenkundig mißbräuchlichen Art und Weise genutzt, um mit publizistischem Druck und dem Risiko einer Verurteilung einen Marktteilnehmer gefügig zu machen, könnte dies deutsches Verfassungsrecht verletzen.

Abs.37

LB 5) Verstößt schon die Zustellung einer ausländischen Klage gegen unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaates, so ist fraglich, ob deutsche Behörden in diesem Fall die Rechtshilfe mit dem Hinweis leisten dürfen, der Betroffene habe noch im weiteren Verlauf des Verfahrens - etwa im Rahmen der Anerkennung des ausländischen Titels nach § 328 Abs.1 ZPO - die Möglichkeit, den Verstoß zu rügen. Denn aus der Zustellung ergeben sich für den Empfänger Rechtsfolgen, die geeignet sind, ihn in seinen grundrechtlich geschützten Positionen zu beeinträchtigen.

Abs.38

LB 6) Zur Folgenabwägung im Rahmen des einstweiligen Anordnungsverfahrens.

* * *

T-05-20Übermittlung Zustellungszeugnis

29

"Das Begehren in der Hauptsache ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

30

1. Das Haager Zustellungsübereinkommen will die gegenseitige Rechtshilfe unter den Vertragsparteien dadurch verbessern, dass die technische Abwicklung der Zustellung vereinfacht und beschleunigt wird. Dadurch soll sichergestellt werden, dass gerichtliche und außergerichtliche Schriftstücke, die im Ausland zuzustellen sind, ihren Empfängern rechtzeitig zur Kenntnis gelangen (vgl BVerfGE_91,335 <339 f> ). Diese Erwägungen schließen es grundsätzlich aus, dass die innerstaatliche Rechtsordnung zum Prüfungsmaßstab für die Zustellung gemacht wird (vgl Koch/Diedrich, Grundrechte als Maßstab für Zustellungen nach dem Haager Zustellungsübereinkommen?, ZIP 1994, S.1830 <1831>). Andernfalls könnte die materielle Prüfung des Zustellungsersuchens zu Verzögerungen bei der Zustellung oder, wegen der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Rechtsauffassungen zu einer Vereitelung der Zustellung führen, die durch das Haager Zustellungsübereinkommen gerade ausgeschlossen werden sollten. Ein Zustellungsersuchen kann nach dem Wortlaut von Art.13 Abs.1 HZÜ jedoch abgelehnt werden, wenn der ersuchte Staat die Zustellung für geeignet hält, seine Hoheitsrechte oder seine Sicherheit zu gefährden.

31

Der Vorbehalt in Art.13 HZÜ für die Anwendung ausländischen Rechts wird durch Rechtsprechung und Literatur im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Haager Zustellungsübereinkommens eng ausgelegt (vgl OLG Frankfurt, RIW 2001, S.464 = NJW-RR 2002, S.357; siehe Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2.Aufl, 2003, Art.13 HZÜ Rn.3 mwN). So hat auch das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Gewährung von Rechtshilfe durch die Zustellung einer Klage, mit der Ansprüche auf Strafschadensersatz nach US-amerikanischem Recht (punitive damages) geltend gemacht werden, in der Regel nicht die allgemeine Handlungsfreiheit in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt (vgl BVerfGE_91,335 <340>). Die Entscheidung hat jedoch offen gelassen, ob die Zustellung einer solchen Klage mit Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren ist, wenn das mit der ausländischen Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaats verstößt (BVerfGE_91,335 <343>; vgl auch Schlosser, aaO, Art.13 HZÜ Rn.3).

32

2. Im Hauptsacheverfahren ist die Frage zu klären, ob diese Grenze in dem hier zu beurteilenden Fall überschritten ist. Insoweit ist die Bedeutung und Reichweite von Art.13 Abs.1 HZÜ zu klären (vgl Juenger/Reimann, Zustellung von Klagen auf punitive damages nach dem Haager Zustellungsübereinkommen, NJW 1994, S.3274; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 4.Aufl, 2001, Rn.2159).

33

a) Der Abschluss und die Ratifikation des Haager Zustellungsübereinkommens konkretisiert die Entscheidung des Grundgesetzes, dass der von ihm verfasste Staat in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft eingegliedert ist (vgl Präambel, Art.1 Abs.2, Art.9 Abs.2, Art.16 Abs.2 und Art.23 bis 26 GG). Das Grundgesetz gebietet damit zugleich, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (vgl BVerfGE_75,1 <16 f>, Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24.Juni 2003 - 2 BvR 685/03 -, im Umdruck S.11), auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen.

34

Im Hinblick auf das Haager Zustellungsübereinkommen hat sich die deutsche Rechtsordnung für das Recht des ersuchenden Staates im Bereich des Zivilprozessrechts geöffnet. Die deutsche öffentliche Gewalt wird für die ersuchende ausländische Behörde tätig, um das in jener Rechtsordnung anhängige, innerstaatliche Verfahren über die Grenzen der nationalen Hoheitsgewalt hinaus zu fördern. Dies schließt grundsätzlich auch die Zustellung von Klagen mit ein, die in für die deutsche Rechtsordnung unbekannten Verfahrensarten erhoben worden sind.

35

Diese Respektierungspflicht könnte jedoch ihre Grenze dort erreichen, wo die ausländische, im Klageweg geltend gemachte Forderung - jedenfalls in ihrer Höhe - offenkundig keine substantielle Grundlage hat. Werden Verfahren vor staatlichen Gerichten in einer offenkundig mißbräuchlichen Art und Weise genutzt, um mit publizistischem Druck und dem Risiko einer Verurteilung einen Marktteilnehmer gefügig zu machen, könnte dies deutsches Verfassungsrecht verletzen. Ein ähnlicher Gedanke hat im Jahre 1999 durch Art.40 Abs.3 Nr.2 EGBGB auch Eingang in das deutsche internationale Privatrecht gefunden. Die Vorschrift regelt das Deliktsstatut und schließt Schadenersatzansprüche auf der Grundlage ausländischen Rechts unter bestimmten Voraussetzungen dem Grunde nach aus (vgl Heldrich, in: Palandt, 62.Aufl., 2003, Art.40 EGBGB Rn.1, 20). Art.40 Abs.3 EGBGB bestimmt insoweit, dass Ansprüche, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, nicht geltend gemacht werden können, soweit sie wesentlich weiter gehen als zur angemessenen Entschädigung des Verletzten erforderlich oder offensichtlich anderen Zwecken als einer angemessenen Entschädigung des Verletzten dienen oder haftungsrechtlichen Regelungen eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Übereinkommens widersprechen.

36

b) Bei der Prüfung der Frage, ob die beabsichtigte Zustellung gegen Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstößt, ist auch die Ausgestaltung der multilateralen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rechtshilfe zu würdigen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die ersuchte Vertragspartei ihre Behörden in den Dienst des ersuchenden Staates stellt, indem Schriftstücke entgegengenommen und die für die innerstaatliche Zustellung erforderlichen Maßnahmen veranlasst werden. Bei der Zustellung handelt es sich um einen staatlichen Hoheitsakt, mit dem Gerichtsverfahren einer fremden Rechtsordnung gefördert werden.

37

Verstößt schon die Zustellung einer ausländischen Klage gegen unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaates, so ist fraglich, ob deutsche Behörden in diesem Fall die Rechtshilfe mit dem Hinweis leisten dürfen, der Betroffene habe noch im weiteren Verlauf des Verfahrens - etwa im Rahmen der Anerkennung des ausländischen Titels nach § 328 Abs.1 ZPO - die Möglichkeit, den Verstoß zu rügen. Denn aus der Zustellung ergeben sich für den Empfänger Rechtsfolgen, die geeignet sind, ihn in seinen grundrechtlich geschützten Positionen zu beeinträchtigen.

III.

38

Die Folgenabwägung fällt zu Gunsten der Beschwerdeführerin aus.

39

1. Bei einer Folgenabwägung sind gegeneinander abzuwägen die Nachteile, die für die Beschwerdeführerin einträten, wenn die begehrte einstweilige Anordnung abgelehnt wird, in der Hauptsache sich aber später herausstellt, dass die Zustellung der Klage deren grundrechtlich geschützte Positionen verletzt, mit denjenigen Nachteilen, die sich ergäben, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen wird, sich später aber herausstellt, dass die Zustellung mit dem Grundgesetz vereinbar war.

40

2. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, stellte sich die Verfassungsbeschwerde später aber als unbegründet heraus, hätte sich die Zustellung der Klage im Wege der Rechtshilfe verzögert. Es ist nicht erkennbar, dass die Kläger des US-amerikanischen Ausgangsverfahrens bereits dadurch unwiederbringliche Rechtsnachteile erlitten.

41

Es ist auch nicht zu erwarten, dass eine Verzögerung der Rechtshilfe die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinigten Staaten von Amerika ernstlich belasten könnte. Der Erlass der einstweiligen Anordnung führt noch nicht zu einer nachhaltigen Beschränkung des Rechtshilfeverkehrs zwischen beiden Staaten auf der Grundlage des Haager Zustellungsübereinkommens.

42

3. Unterbliebe der Erlass der einstweiligen Anordnung, erwiese sich die Gewährung der Rechtshilfe im Hauptsacheverfahren dagegen als verfassungswidrig, müsste das Bundesverfassungsgericht davon ausgehen, dass die Beschwerdeführerin in das US-amerikanische Verfahren einbezogen ist und das erkennende Bundesgericht über die Zulassung der Klage als class action mit den entsprechenden Rechtsfolgen entscheidet.

43

Mit der Zustellung und dem Fortgang des US-amerikanischen Verfahrens ist die Beschwerdeführerin der Gefahr einer Verurteilung ausgesetzt, die bei unterstelltem Erfolg in der Hauptsache den Maßstäben des Grundgesetzes - wie sie von Art.13 Abs.1 in das Haager Übereinkommen aufgenommen werden - nicht standhielte. Die Möglichkeit, dass das Urteil in einem späteren Verfahrensstadium im Inland nicht anerkannt oder für nicht vollstreckbar erklärt wird, könnte die Beschwerdeführerin weder vor einer Vollstreckung in ihr in den Vereinigten Staaten belegenes Vermögen noch vor einem mit der Zustellung geförderten Reputationsverlust bewahren."

 

Auszug aus BVerfG B, 09.11.05, - 2_BvR_1198/03 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.29 ff

§§§

05.048 Transsexueller
 
  1. BVerfG,     B, 06.12.05,     – 1_BvL_3/03 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1; TSG_§_7 Abs.1 Nr.3

 

§ 7 Abs.1 Nr.3 des Transsexuellengesetzes verletzt das von Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG geschützte Namensrecht eines homosexuell orientierten Transsexuellen sowie sein Recht auf Schutz seiner Intimsphäre, solange ihm eine rechtlich gesicherte Partnerschaft nicht ohne Verlust des geänderten, seinem empfundenen Geschlecht entsprechenden Vornamens eröffnet ist.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 7 Absatz 1 Nummer 3 des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz - TSG) vom 10.September 1980 (Bundesgesetzblatt I Seite 1654) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar, solange homosexuell orientierten Transsexuellen ohne Geschlechtsumwandlung eine rechtlich gesicherte Partnerschaft nicht ohne Verlust des nach § 1 des Transsexuellengesetzes geänderten Vornamens eröffnet ist.

2) § 7 Absatz 1 Nummer 3 des Transsexuellengesetzes ist bis zum In-Kraft-Treten einer gesetzlichen Regelung, die homosexuell orientierten Transsexuellen ohne Geschlechtsumwandlung das Eingehen einer rechtlich gesicherten Partnerschaft ohne Vornamensverlust ermöglicht, nicht anwendbar.

§§§

05.049 Verfassungwidrige Auslegung
 
  1. BVerfG,     B, 06.12.05,     – 1_BvR_1905/02 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.1; BVerfGG_§_79 Abs.2 S.3

 

Zur analogen Anwendung des § 79 Abs.2 Satz 3 BVerfGG auf nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen verfassungskonformer Auslegung als verfassungswidrig verworfenen Interpretatitonsvariante einer Rechtsvorschrift oder auf der Auslegung und Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe beruhen, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist.

§§§

05.050 Behandlungsmethode
 
  1. BVerfG,     B, 06.12.05,     – 1_BvR_347/98 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.2 Abs.2 S.1

 

Es ist mit den Grundrechten aus Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art.2 Abs.2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16.September 1997 - 1 RK 28/95 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundessozialgericht zurückverwiesen.

2) Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

2004 RS-BVerfG - 2005 2006       [ › ]

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