1995  
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95.001 Sitzblockade II

  1. BVerfG,     B, 10.01.95,     – 1_BvR_718/90 –

  2. BVerfGE_92,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.103 Abs.2; StGB_§_240 Abs.1

 

Die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs.1 StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen verstößt gegen Art.103 Abs.2 GGa/a>.

 

Zur abweichenden Meinung der Richter Seidl, Söllner und der Richterin Haas, siehe BVerfGE_92,20 = www.dfr/BVerfGE, Abs.68 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Der Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9.Mai 1989 - 4 Ss 119/89 -, das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 19.Oktober 1988 - 1 (2) Ns 27, 28, 29 und 30/85 - und das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 23.Juni 1988 - 4 Ss 361/87 - verletzen Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 5.Mai 1988 - 1 StR 5/88 - gegenstandslos.

Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Baden-Württemberg haben den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten.

§§§

95.002 Seeschiffahrtsregister

  1. BVerfG,     U, 10.01.95,     – 1_BvF_1/90 –

  2. BVerfGE_92,26 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.9 Abs.3; FIRG_§_21 Abs.4 S.1 +2; EGBGB_Art.30

 

1) Berührt die Ausübung der Koalitionsfreiheit (Art.9 Abs.3 GG) zwangsläufig die Rechtsordnungen anderer Staaten und werden widerstreitende Interessen von Trägern dieses Grundrechts in einem Raum ausgetragen, der von der deutschen Rechtsordnung nicht mit alleinigem Gültigkeitsanspruch beherrscht wird, ist die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers größer als bei Regelungen von Rechtsbeziehungen mit inländischem Schwerpunkt. Auch dann bleibt er aber verpflichtet, dem Grundrecht die unter den obwaltenden und von ihm nicht beeinflußbaren Bedingungen größtmögliche Anwendung zu sichern.

 

2) Die Berufsfreiheit der deutschen Seeleute wird nicht dadurch verletzt, daß der Gesetzgeber auf deutschen Handelsschiffen, die in das Internationale Seeschiffahrtsregister eingetragen sind, den Abschluß von arbeitsrechtlichen Vereinbarungen nach Maßgabe ausländischen Rechts erleichtert zuläßt.

 

3) Es verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, daß nach § 21 Abs.4 des Flaggenrechtsgesetzes (FlRG) ausländische Seeleute auf deutschen Handelsschiffen zu Heimatheuern beschäftigt werden können. ]EF1>

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

§ 21 Absatz 4 Satz 3 des Flaggenrechtsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 4.Juli 1990 (Bundesgesetzblatt I Seite 1342) ist mit Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

§ 21 Absatz 4 Satz 1 und 2 des Flaggenrechtsgesetzes ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Insoweit werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

§§§

95.003 Weihnachtsgeld

  1. BVerfG,     B, 11.01.95,     – 1_BvR_892/88 –

  2. BVerfGE_92,53 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; RVO_§_385 Abs.1a; (88) SGB_V_§_227; (92) SGB_VI_§_164

 

Es ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art.3 Abs.1 GG) unvereinbar, daß einmalig gezahltes Arbeitsentgelt (Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld usw.) zu Sozialversicherungsbeiträgen herangezogen wird, ohne daß es bei der Berechnung von kurzfristigen Lohnersatzleistungen (beispielsweise Arbeitslosengeld, Krankengeld und Übergangsgeld) berücksichtigt wird.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 385 Absatz 1a der Reichsversicherungsordnung, eingefügt durch Artikel 1 Nummer 9 des Gesetzes über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte und zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung sowie über die Verlängerung der Investitionshilfeabgabe (Haushaltsbegleitgesetz 1984) vom 22.Dezember 1983 (Bundesgesetzblatt I Seite 1532), § 227 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz -- GRG) vom 20. Dezember 1988 (Bundesgesetzblatt I Seite 2477) und § 164 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 -- RRG 1992) vom 18.Dezember 1989 (Bundesgesetzblatt I Seite 2261) sind mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar, soweit danach einmalig gezahltes Arbeitsentgelt zu Sozialversicherungsbeiträgen herangezogen wird, ohne daß es bei der Berechnung sämtlicher Lohnersatzleistungen berücksichtigt wird.

2. § 227 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs und § 164 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs können bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 31.Dezember 1996, weiter angewendet werden.

3. Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer jedoch die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

95.004 Rechtsverletzung-Unterlassen

  1. BVerfG,     B, 23.01.95,     – 2_BvE_6/94 –

  2. BVerfGE_92,80

  3. BVerfGG_§_64 Abs.3

 

Zum Fristablauf gemäß § 64 Abs.3 BVerfGG bei Geltendmachung einer Rechtsverletzung durch Unterlassen.

§§§

95.005 Feuerwehrabgabe

  1. BVerfG,     B, 24.01.95,     – 1_BvL_18/93 –

  2. BVerfGE_92,91 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.3, GG_Art.105 Abs.2 +2a; (By) (93) KAG_§_4 Abs.1; (By) (81) (BW) (87) FWG_FWG_§_§_23 Abs.1; §_37 Abs.2 S.1, FWG_§_11 Abs.1 S.1

 

1) Die Beschränkung einer Feuerwehrdienstpflicht und einer hieran anknüpfenden Abgabepflicht auf Männer verstößt gegen das Diskriminierungsverbot des Art.3 Abs.3 GG.

 

2) Die Grundsätze über die finanzverfassungsrechtliche Zulässigkeit parafiskalischer Sonderabgaben ( BVerfGE_55,274 <298 ff>; BVerfGE_82,159 <179 ff>) gelten auch für landesrechtliche Sonderabgaben. Die baden-württembergischen und bayerischen Vorschriften über die Erhebung einer auf männliche Gemeindeeinwohner beschränkten Feuerwehrabgabe oder Feuerschutzabgabe sind mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar (Abweichung von BVerfGE_13,167).

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. Artikel 4 Absatz 1 des Bayerischen Kommunalabgabengesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 4.April 1993 (GVBl S.264) in Verbindung mit Artikel 23 Absatz 1 des Bayerischen Feuerwehrgesetzes vom 23.Dezember 1981 (GVBl S.526) ist mit Artikel 3 Absatz 1 und 3 sowie mit Artikel 105 Absatz 2 und 2a des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

2. § 37 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit § 11 Absatz 1 Satz 1 des BVerfGE 92, 91 (92)BVerfGE 92, 91 (93)Feuerwehrgesetzes des Landes Baden-Württemberg in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. Februar 1987 (GBl. S. 105) ist mit Artikel 3 Absatz 1 und 3 sowie mit Artikel 105 Absatz 2 und 2a des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

3. Der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.Januar 1994 - BVerwG 8 B 235.93 -, das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 29.September 1993 - 2 S.2500/92 -, das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 23.Juli 1992 - 5 K 1248/91 -, der Widerspruchsbescheid des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald vom 24.Juni 1991 - 304- 130.49 - und der Feuerwehrabgabebescheid der Gemeinde Merzhausen - Verwaltungsverband Hexental - vom 8.März 1991 - Buchungszeichen 5.0120.100897.1 - verletzen den Beschwerdeführer zu B.I. in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 3 Absatz 1 und 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Sie Sache wird an das Verwaltungsgericht zur Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen.

4. Der Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 21.Februar 1994 - 2 S.2703/93 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. Septemer 1993 - 16 K 1730/93 - verletzen den Beschwerdeführer zu B.II. in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 3 Absatz 1 und 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Sie Sache wird an das Verwaltungsgericht zur Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen.

5. Das Land Baden-Württemberg hat die notwendigen Auslagen dem Beschwerdeführer zu B. II. voll und dem Beschwerdeführer zu B. I. zu 4/5 zu erstatten. Die Bundesrepublik Deutschland trägt 1/5 der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu B. I.

§§§

95.006 Parabolantenne

  1. BVerfG,     B, 07.02.95,     – 1_BvR_2116/94 –

  2. BVerfGE_92,126 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.1, GG_Art.14 Abs.1; BVerfGG_§_32

 

TH 1) Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Räumungsurteil, das ergangen ist, weil die Beschwerdeführer die Verurteilung zur Entfernung einer Parabolantenne nicht befolgt haben.

 

LB 2) Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Sie wirft insbesondere die in der Rechtsprechung noch nicht geklärte Frage auf, ob und inwieweit Sanktionen, die an die Nichtbefolgung eines rechtskräftigen, später aber vom Bundesverfassungsgericht wegen einer Grundrechtsverletzung aufgehobenen Urteils geknüpft werden, zulässig sind.

 

LB 3) Aufgrund einer Folgenabwägung erließ das BVerfG eine einstweilige Anordnung, das die Vollstreckung der angegriffenen Räumungsurteile bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde aussetzte.

§§§

95.007 Selbstablehnung

  1. BVerfG,     B, 16.02.95,     – 2_BvR_1852/94 –

  2. BVerfGE_92,138 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_19 Abs.1, BVerfGG_§_19 Abs.3

T-95-01

Zur Selbstablehnung der Richterin Limbach.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Die Selbstablehnung der Richterin Limbach wird für begründet erklärt.

* * *

T-95-01Limbach

1

"1. Der Beschwerdeführer - ein ehemaliges Mitglied der Grenztruppen er DDR - wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen seine strafgerichtliche Verurteilung wegen Totschlags. Gegenstand des Strafverfahrens war die Tötung eines Mannes, der im Jahr 1972 versucht hatte, über die innerdeutsche Grenze aus der DDR zu fliehen.

2

2. Die Richterin Präsidentin Limbach hat den Senat ersucht, sie gemäß § 19 Abs.1 und 3 BVerfGG von einer Teilnahme an der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zu entbinden. Sie hat dazu erklärt: 2

3

"Ich habe mich während meiner Tätigkeit als Berliner Justizsenatorin sehr nachdrücklich und wiederholt in der Öffentlichkeit und in meinem Amt für den Einsatz und die Arbeitsfähigkeit der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität bei der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin engagiert. Diese hat die Anklage gegen den oben genannten Beschwerdeführer erhoben. Auch habe ich mich wiederholt über die Strafbarkeit des Mißbrauchs staatlicher Gewalt in der DDR in Vorträgen, Interviews und Zeitschriften geäußert. Diese Umstände können meines Erachtens geeignet sein, Zweifel an meiner Unbefangenheit entstehen zu lassen."

4

3. Diese Erklärung ist dem Beschwerdeführer sowie dem Bundesministerium der Justiz zur Kenntnis gegeben worden. II.

5

Die Selbstablehnung ist begründet.

6

Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl BVerfGE_88,1 <4>; stRspr). Dies ist hier der Fall.

7

Die Richterin war als Justizsenatorin in Berlin unter anderem auch für die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität bei der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht verantwortlich. Sie hat sich in ihrem Amt engagiert für die Einrichtung und die Wirksamkeit dieser Behörde eingesetzt und bis in die letzte Zeit vor ihrem Amtsantritt als Richterin des Bundesverfassungsgerichts in zahlreichen politischen Äußerungen zum Ausdruck gebracht, daß sie sowohl die Anordnungen der staatlichen Führung der DDR, auf denen die Tötung von sogenannten "Republikflüchtlingen" an der innerdeutschen Grenze beruhte, als auch die Ausführung dieser Anordnungen als strafbares Unrecht ansehe, dessen Verfolgung durch die Strafjustiz eine notwendige und für die Rechtskultur wichtige Aufgabe sei (vgl etwa DtZ 1993, S.66 ff). Ihre dieser Auffassung entsprechende Amtsführung als Justizsenatorin prägte in hohem Maße ihr Bild in der politisch interessierten Öffentlichkeit. Entscheidend kommt hinzu, daß die Richterin als Justizsenatorin mit besonderem Nachdruck als Befürworterin der verfassungsrechtlichen These hervorgetreten ist, daß das Verfassungsrecht der Strafverfolgung wegen Taten der in Rede stehenden Art nicht entgegenstehe. Gerade über diese - umstrittene - These wird in dem Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu befinden sein.

8

Eine Besorgnis des Beschwerdeführers, daß die Richterin diese Frage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ist unter den hier gegebenen Umständen nachvollziehbar."

 

Auszug aus BVerfG B, 16.02.95, - 2_BvR_1852/94 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.1 ff

§§§

95.008 Sonderkündigung

  1. BVerfG,     B, 21.02.95,     – 1_BvR_1397/93 –

  2. BVerfGE_92,140 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.33 Abs.2; EV_Anl_1

 

1) Der in Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Ziffer 1 Abs.4 Nr.1 des Einigungsvertrages vorgesehene Sonderkündigungstatbestand mangelnder persönlicher Eignung ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

 

2) Die aufgrund dieser Regelung ausgesprochene Kündigung eines aus der DDR übernommenen Arbeitnehmers des öffentlichen Dienstes erfordert eine Würdigung seiner Persönlichkeit auf der Grundlage seines gesamten Verhaltens vor und nach dem Beitritt. Die für Verbleib und Aufstieg im öffentlichen Dienst der DDR notwendige und übliche Loyalität und Kooperation begründet nach dem Einigungsvertrag für sich allein keine mangelnde Eignung.

§§§

95.009 Adoption

  1. BVerfG,     B, 07.03.95,     – 1_BvR_790/91 –

  2. BVerfGE_92,158 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.6 Abs.2 S.1; SGB_VIII_§_51 Abs.3

 

1) Väter nichtehelicher Kinder sind unabhängig davon, ob sie mit der Mutter des Kindes zusammenleben oder mit dieser gemeinsam die Erziehungsaufgaben wahrnehmen, Träger des Elternrechts aus Art.6 Abs.2 Satz 1 GG. Der Gesetzgeber ist aber befugt, bei der Ausgestaltung der konkreten Rechte beider Elternteile die unterschiedlichen tatsächlichen Verhältnisse zu berücksichtigen.

 

2) Es verstößt gegen Art.6 Abs.2 Satz 1 GG, daß für die Adoption des nichtehelichen Kindes durch seine Mutter oder deren Ehemann weder die Einwilligung des Vaters noch eine Abwägung mit dessen Belangen vorgesehen ist.

 

3) Dem Vater muß im Verfahren über die Adoption des nichtehelichen Kindes rechtliches Gehör durch das Vormundschaftsgericht gewährt werden. Die Belehrung durch das Jugendamt nach § 51 Abs.3 Sozialgesetzbuches VIII reicht hierfür nicht aus.

§§§

95.010 Personalienangabe

  1. BVerfG,     B, 07.03.95,     – 1_BvR_1564/92 –

  2. BVerfGE_92,191 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1; OWiG_§_111

 

Es verstößt gegen Art.2 Abs.1 GG, wenn die Verweigerung der Angabe der Personalien nach § 111 OWiG geahndet wird, ohne daß zuvor die Rechtmäßigkeit der Aufforderung in vollem Umfang überprüft worden ist.

§§§

95.011 EG-Fernsehrichtlinie

  1. BVerfG,     U, 22.03.95,     – 2_BvG_1/89 –

  2. BVerfGE_92,203 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.24 Abs.1, GG_Art.70 Abs.1; BVerfGG_§_69, BVerfGG_§_64 Abs.3

 

1. Beansprucht die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsetzungskompetenz, so ist es Sache des Bundes, die Rechte der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Gemeinschaft und ihren Organen zu vertreten. Behält das Grundgesetz die Regelung des von der Gemeinschaft beanspruchten Gegenstandes innerstaatlich dem Landesgesetzgeber vor, so vertritt der Bund gegenüber der Gemeinschaft als Sachwalter der Länder auch deren verfassungsmäßige Rechte.

Der Bundesregierung erwachsen aus dieser Verantwortlichkeit als Sachwalter der Länderrechte prozedurale Pflichten zu bundesstaatlicher Zusammenarbeit und Rücksichtnahme.

 

2) Im Bund-Länder-Streit bedarf es für den Beitritt von Ländern dann nicht der Einhaltung der Frist des § 64 Abs.3 BVerfGG, wenn die Beigetretenen sich dem - fristgemäßen - Antrag anschließen und lediglich zusätzlich die Verletzung auch ihrer eigenen Rechte festgestellt haben wollen.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

1. Der Bund hat durch die Art, in der die Bundesregierung nach ihrem Beschluß vom 8.März 1989 beim Zustandekommen der Quotenregelung in Kapitel III der Richtlinie (98/552/EWG) des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit die Mitgliedschaftsrechte der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen hat, die Rechte des Freistaates Bayern und der dem Verfahren beigetretenen Länder aus Artikel 70 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 24 Absatz 1 des Grundgesetzes und dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens verletzt.

2. Im übrigen werden die Anträge zurückgewiesen.

§§§

95.012 Asylfolgeverfahren

  1. BVerfG,     B, 23.03.95,     – 2_BvR_492/95 –

  2. BVerfGE_92,245 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; GG_Art.6

 

LB 1) Zu einem weiteren Abänderungsverfahren

 

LB 2) Dabei wird zu berücksichtigen sein, daß nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten und der eigenen Einlassung des Beschwerdeführers zu 1. eine etwaige Suizidgefahr wesentlich auf seiner Befürchtung beruht, im Falle seiner Abschiebung in die Türkei erneut gefoltert zu werden, und deshalb bei hinreichend sicherem Ausschluß dieser Gefahr die Möglichkeit eines Suizids in anderem Licht erscheinen kann.

§§§

95.013 DDR

  1. BVerfG,     B, 15.05.95,     – 2_BvL_19/91 –

  2. BVerfGE_92,277 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.2, GG_Art.25, GG_Art.33 Abs.2, GG_Art.38 Abs.2; EGStGB_§_315 Abs.4;

 

1) Eine allgemeine Regel des Völkerrechts als Bestandteil des Bundesrechts (Art.25 GG), nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einvernehmlich beigetreten ist, kann nicht festgestellt werden.

 

2) Zur Frage der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit früherer Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des militärischen Nachrichtendienstes der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach der Vereinigung Deutschlands wegen ihrer zuvor gegen die Bundesrepublik Deutschland oder deren NATO-Partner gerichteten Spionagetätigkeit.

 

LB 3) Zur abweichenden Meinung der Richter Klein, Kirchhof und Winter, siehe BVerfGE_92,341 = www.dfr/BVerfGE Abs.219 ff. ]EF1> Beschluss ]EF1[ Entscheidungsformel:

1. Die Vorlage des Kammergerichts ist insoweit unzulässig, als sie Artikel 315 Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch zu verfassungsrechtlichen Prüfung vorlegt.

2. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einvernehmlich beigetreten ist, ist nicht Bestandteil des Bundesrechts.

3. Das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. Ll6 f6 Dezember 1991 - IV - 22/91 - (17/91 VS-Vertr.) - und der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1993

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. Die Vorlage des Kammergerichts ist insoweit unzulässig, als sie Artikel 315 Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch zu verfassungsrechtlichen Prüfung vorlegt.

2. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einvernehmlich beigetreten ist, ist nicht Bestandteil des Bundesrechts.

3. Das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. Dezember 1991 - IV - 22/91 - (17/91 VS-Vertr.) - und der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1993 - 3 StR 199/92 - verletzen den Beschwerdeführer zu II.1. in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2, Artikel 33 Absatz 2 und Artikel 38 Absatz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer zu II. 1. seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 28. Februar 1991 - 4 OJs 11/90 - verletzt den Beschwerdeführer zu II.2. im Rechtsfolgenausspruch in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 3.Juli 1991 - 3 StR 226/91 - verletzt den Beschwerdeführer ebenfalls in diesem Grundrecht, soweit dessen Revision in bezug auf den Rechtsfolgenausspruch verworfen wurde. Die Entscheidung werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an der Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer zu II. 2. seine notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.

5. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu II. 3. wird zurückgewiesen.

§§§

95.014 Kruzifix

  1. BVerfG,     B, 16.05.95,     – 1_BvR_1087/91 –

  2. BVerfGE_93,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.4 Abs.1, GG_Art.6 Abs.2 S.1, GG_Art.19 Abs.4; (By) VSO_§_13 Abs.1 S.3

T-95-02

1) Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art.4 Abs.1 GG.

 

2) § 13 Abs.1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern ist mit Art.4 Abs.1 GG unvereinbar und nichtig.

 

LB 3) Zur abweichenden Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas, siehe BVerfGE_93,25 = www.dfr/BVerfGE Abs.59 ff.

 

LB 4) Zur abweichenden Meinung der Richterin Haas, siehe BVerfGE_93,34 = www.dfr/BVerfGE Abs.92 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 13 Abs.1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern (Volksschulordnung - VSO) vom 21.Juni 1983 (GVBl. S.597) ist mit Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

2. Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3.Juni 1991 - 7 CE 91.1014 - und der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 1.März 1991 - RO 1 E 91.167 - verletzen die Beschwerdeführer zu 1) und 2) in ihren Grundrechten aus Artikel 4 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 und die Beschwerdeführer zu 3) bis 5) in ihren Grundrechten aus Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluß der Verwaltungsgerichtshofs verletzt die Beschwerdeführer außerdem in ihren Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Die Einscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

3. Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

* * *

T-95-02Glaubensfreiheit

23

"Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

24

Die Beschwerdeführer haben den Rechtsweg erschöpft (§ 90 Abs.2 Satz 1 BVerfGG). Mit dem Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs liegt eine das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschließende letztinstanzliche Entscheidung vor. Allerdings kann der Grundsatz der Subsidiarität in solchen Fällen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde entgegenstehen, wenn Verfassungsverstöße gerügt werden, die sich nicht speziell auf das Eilverfahren beziehen, sondern Fragen aufwerfen, die sich genau so auch im Hauptsacheverfahren stellen, so daß letzteres geeignet ist, der behaupteten verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl BVerfGE_77,381 <401>; BVerfGE_80,40 <45>). Andererseits darf der Beschwerdeführer aber nicht auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden, wenn die Verletzung von Grundrechten durch die Eilentscheidung selbst geltend gemacht wird oder wenn die Entscheidung von keiner weiteren tatsächlichen oder einfachrechtlichen Aufklärung abhängt und die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen gemäß § 90 Abs.2 Satz 2 BVerfGG vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl BVerfGE_79,275 <279>).

25

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art.19 Abs.4 GG durch die Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes geltend machen, erheben sie eine speziell das Eilverfahren betreffende Grundrechtsrüge. Hinsichtlich der anderen (materiellrechtlichen) Grundrechtsrügen bedarf es keiner weiteren tatsächlichen oder einfachrechtlichen Klärung. Insbesondere haben sich die Fachgerichte in den angegriffenen Entscheidungen umfassend mit den maßgeblichen Rechtsfragen auseinandergesetzt. Vom Hauptsacheverfahren ist kein zusätzlicher Ertrag zu erwarten. Auch ist es den Beschwerdeführern angesichts der fortschreitenden Zeit und des Fortgangs der Schulausbildung nicht zumutbar, auf den Abschluß des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden.

26

Für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kommt es nicht darauf an, ob die beschwerdeführenden Kinder noch die Volksschule besuchen (vgl BVerfGE_41,29 <43>). C.

27

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Soweit der Verwaltungsgerichtshof einen Anordnungsgrund verneint hat, verstößt seine Entscheidung gegen Art.19 Abs.4 GG (I.). Die Verneinung eines Anordnungsanspruchs ist mit Art.4 Abs.1 und Art.6 Abs.2 Satz 1 GG unvereinbar (II.). I.

28

1. Art.19 Abs.4 GG eröffnet den Rechtsweg gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt. Gewährleistet wird nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl BVerfGE_35,263 <274>; BVerfGE_35,382 <401 f> mwN). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, daß gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl BVerfGE_37,150 <153>; BVerfGE_65,1 <70>). Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz (vgl BVerfGE_49,220 <226>; BVerfGE_77,275 <284>). So sind die Fachgerichte etwa bei der Auslegung und Anwendung des § 123 VwGO gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonderes gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl BVerfGE_79,69 <74 f>).

29

2. Diesen Anforderungen genügt der Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs nicht. Dieser verneint den für den Erlaß der begehrten einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund, also die Eilbedürftigkeit der Sache, weil die Beschwerdeführer über Jahre hinweg mit der Anrufung der Gerichte gezögert und während dieser Zeit jedenfalls das Anbringen von Kreuzen statt der zunächst vorhandenen Kruzifixe hingenommen hätten. Es sei ihre Sache gewesen, mit der Schulverwaltung weiterhin nach einer für sie zumutbaren Übergangslösung in diesem Sinne zu suchen.

30

Mit dieser Begründung wird der Verwaltungsgerichtshof weder dem tatsächlichen Geschehensablauf noch der Bedeutung des Anliegens der Beschwerdeführer gerecht. Tatsächlich hatten die Beschwerdeführer seit der Einschulung ihres ältesten Kindes auf allen Ebenen der Schulverwaltung - von der örtlichen bis zur ministeriellen - ihr Begehren angebracht. Daß sie ursprünglich auf eine außergerichtliche Einigung hofften und dadurch Zeit verstrich, darf ihnen nicht zum Nachteil gereichen; ein solches zunächst auf Streitvermeidung ausgerichtetes Verhalten entspricht vielmehr dem einer vernünftigen Partei. Es kommt hinzu, daß die Beschwerdeführer einem Kompromiß zugestimmt hatten, der jedoch von der Schulverwaltung wiederholt bei Klassenzimmer- oder Schulwechseln der Kinder in Frage gestellt wurde. Ein endgültiges Zugeständnis in diesem Sinne hat ihnen die Schulverwaltung nicht gemacht.

31

Aus diesem Grunde wird auch die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, die Beschwerdeführer hätten sich weiterhin um einen Kompromiß bemühen müssen, der Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht. Es wäre vielmehr Sache des Gerichts gewesen auszuloten, ob die Schulverwaltung bereit war, durch eine Zusage auf der Linie der Kompromißlösung eine einstweilige Anordnung entbehrlich zu machen.

32

Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Anordnungsgrund vorlag, hat der Verwaltungsgerichtshof ferner nicht hinreichend berücksichtigt, daß es um eine vorläufige Regelung im Rahmen eines aktuellen Schulverhältnisses, also um einen Lebenssachverhalt ging, in dem schon wegen seines zeitlichen Fortschreitens auf einen Schulabschluß hin (die Beschwerdeführerin zu 3) ist inzwischen 16 Jahre alt) gerichtlicher Rechtsschutz besonders eilbedürftig ist. Gerade Rechtsstreitigkeiten in Schulsachen werden oft nur im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes ausgetragen, weil der Anspruch wegen des Zeitablaufs häufig im Hauptsacheverfahren nicht mehr durchgesetzt werden kann. Dem Bedürfnis nach wirksamem Rechtsschutz dürfen sich die Fachgerichte nicht dadurch entziehen, daß sie überspannte Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes stellen. II.

33

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen ferner die Beschwerdeführer zu 1) und 2) in ihren Grundrechten aus Art.4 Abs.1 in Verbindung mit Art.6 Abs.2 Satz 1 GG und die Beschwerdeführer zu 3) bis 5) in ihren Grundrechten aus Art.4 Abs.1 GG. Sie beruhen auf § 13 Abs.1 Satz 3 VSO, der seinerseits mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig ist.

34

1. Art.4 Abs.1 GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat darf ihm einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten. Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln (vgl BVerfGE_32,98 <106>). Insbesondere gewährleistet die Glaubensfreiheit die Teilnahme an den kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet. Dem entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt. Art.4 Abs.1 GG überläßt es dem Einzelnen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt. Zwar hat er in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Insofern entfaltet Art.4 Abs.1 GG seine freiheitssichernde Wirkung gerade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind (vgl BVerfGE_41,29 <49>). Dem trägt auch Art.140 GG in Verbindung mit Art.136 Abs.4 WRV dadurch Rechnung, daß er ausdrücklich verbietet, jemanden zur Teil- nahme an religiösen Übungen zu zwingen.

35

Art.4 Abs.1 GG beschränkt sich allerdings nicht darauf, dem Staat eine Einmischung in die Glaubensüberzeugungen, -handlungen und -darstellungen Einzelner oder religiöser Gemeinschaften zu verwehren. Er erlegt ihm vielmehr auch die Pflicht auf, ihnen einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfalten kann (vgl BVerfGE_41,29 <49>), und sie vor Angriffen oder Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen. Art.4 Abs.1 GG verleiht dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften aber grundsätzlich keinen Anspruch darauf, ihrer Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu verleihen. Aus der Glaubensfreiheit des Art.4 Abs.1 GG folgt im Gegenteil der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen. Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt. Er darf daher den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht von sich aus gefährden. Dieses Gebot findet seine Grundlage nicht nur in Art.4 Abs.1 GG, sondern auch in Art.3 Abs.3, Art.33 Abs.1 sowie Art.140 GG in Verbindung mit Art.136 Abs.1 und 4 und Art.137 Abs.1 WRV. Sie verwehren die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagen die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger (vgl BVerfGE_19,206 <216>; BVerfGE_24,236 <246>; BVerfGE_33,23 <28>; stRspr). Auf die zahlenmäßige Stärke oder die soziale Relevanz kommt es dabei nicht an (vgl BVerfGE_32,98 <106>). Der Staat hat vielmehr auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten (vgl BVerfGE_19,1 <8>; BVerfGE_19,206 <216>; BVerfGE_24,236 <246>). Auch dort, wo er mit ihnen zusammenarbeitet oder sie fördert, darf dies nicht zu einer Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften führen (vgl BVerfGE_30,415 <422>).

36

Im Verein mit Art.6 Abs.2 Satz 1 GG, der den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht garantiert, umfaßt Art.4 Abs.1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten (vgl BVerfGE_41,29 <44, 47 f>). Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen.

37

2. In dieses Grundrecht greifen § 13 Abs.1 Satz 3 VSO sowie die angegriffenen Entscheidungen, die sich auf diese Vorschrift stützen, ein.

38

a) § 13 Abs.1 Satz 3 VSO schreibt die Anbringung von Kreuzen in sämtlichen Klassenzimmern der bayerischen Volksschulen vor. Der Begriff des Kreuzes umfaßt nach der Auslegung durch die Gerichte des Ausgangsverfahrens Kreuze mit und ohne Korpus. In die Nachprüfung der Norm sind daher beide Bedeutungen einzubeziehen. Die Beschwerdeführer haben zwar in ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz dem Wortlaut nach nur die Entfernung von Kruzifixen begehrt. Der Verwaltungsgerichtshof hat jedoch ausdrücklich unterstellt, daß damit auch Kreuze ohne Korpus gemeint sein könnten, und den Antrag auch in dieser weitergehenden Bedeutung abgelehnt.

39

Zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht führen Kreuze in Unterrichtsräumen dazu, daß die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, "unter dem Kreuz" zu lernen. Dadurch unterscheidet sich die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern von der im Alltagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen. Zum einen geht diese nicht vom Staat aus, sondern ist eine Folge der Verbreitung unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen und Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft. Zum anderen besitzt sie nicht denselben Grad von Unausweichlichkeit. Zwar hat es der Einzelne nicht in der Hand, ob er im Straßenbild, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Betreten von Gebäuden religiösen Symbolen oder Manifestationen begegnet. Es handelt sich in der Regel jedoch um ein flüchtiges Zusammentreffen, und selbst bei längerer Konfrontation beruht diese nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang.

40

Nach Dauer und Intensität ist die Wirkung von Kreuzen in Unterrichtsräumen noch größer als diejenige von Kreuzen in Gerichtssälen. Schon in dem Zwang, entgegen den eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen einen Rechtsstreit unter dem Kreuz zu führen, hat das Bundesverfassungsgericht aber einen Eingriff in die Glaubensfreiheit eines jüdischen Prozeßbeteiligten gesehen, der darin eine Identifikation des Staates mit dem christlichen Glauben erblickte (vgl BVerfGE_35,366 <375>).

41

Die Unvermeidbarkeit der Begegnung mit dem Kreuz in Schulräumen wird auch nicht durch die in Art. 7 Abs. 4 GG zugelassene Errichtung privater Schulen beseitigt. Zum einen ist gerade die Errichtung privater Volksschulen in Art. 7 Abs. 5 GG an besonders strenge Voraussetzungen geknüpft. Zum anderen wird, da diese Schulen sich in aller Regel über Schulgeld finanzieren, das von den Eltern aufzubringen ist, einem großen Teil der Bevölkerung die Möglichkeit fehlen, auf solche Schulen auszuweichen. So verhält es sich auch im Fall der Beschwerdeführer.

42

b) Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur.

43

Zwar sind über die Jahrhunderte zahlreiche christliche Traditionen in die allgemeinen kulturellen Grundlagen der Gesellschaft eingegangen, denen sich auch Gegner des Christentums und Kritiker seines historischen Erbes nicht entziehen können. Von diesen müssen aber die spezifischen Glaubensinhalte der christlichen Religion oder gar einer bestimmten christlichen Konfession einschließlich ihrer rituellen Vergegenwärtigung und symbolischen Darstellung unterschieden werden. Ein staatliches Bekenntnis zu diesen Glaubensinhalten, dem auch Dritte bei Kontakten mit dem Staat ausgesetzt werden, berührt die Religionsfreiheit. Davon ist das Bundesverfassungsgericht schon in der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Simultanschulen mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinne ausgegangen, als es feststellte, daß die zulässige Bejahung des Christentums sich in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors bezieht, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, nicht dagegen auf die Glaubenswahrheiten der christlichen Religion. Nur bei einer solchen Begrenzung ist diese Bejahung auch gegenüber dem Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert (vgl BVerfGE_41,29 <52>).

44

Das Kreuz gehört nach wie vor zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums. Es ist geradezu sein Glaubenssymbol schlechthin. Es versinnbildlicht die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem (vgl das Stichwort "Kreuz" in: Höfer/Rahner , Lexikon für Theologie und Kirche, 2.Aufl 1961, Bd.6, Sp.605 ff; Fahlbusch ua , Evangelisches Kirchenlexikon, 3.Aufl 1989, Bd.2 Sp.1462 ff). Für den gläubigen Christen ist es deswegen in vielfacher Weise Gegenstand der Verehrung und der Frömmigkeitsübung. Die Ausstattung eines Gebäudes oder eines Raums mit einem Kreuz wird bis heute als gesteigertes Bekenntnis des Besitzers zum christlichen Glauben verstanden. Für den Nichtchristen oder den Atheisten wird das Kreuz gerade wegen der Bedeutung, die ihm das Christentum beilegt und die es in der Geschichte gehabt hat, zum sinnbildlichen Ausdruck bestimmter Glaubensüberzeugungen und zum Symbol ihrer missionarischen Ausbreitung. Es wäre eine dem Selbstverständnis des Christentums und der christlichen Kirchen zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes, wenn man es, wie in den angegriffenen Entscheidungen, als bloßen Ausdruck abendländischer Tradition oder als kultisches Zeichen ohne spezifischen Glaubensbezug ansehen wollte. Der religiöse Bezug des Kreuzes wird auch aus dem Zusammenhang des § 13 Abs.1 VSO deutlich.

45

c) Dem Kreuz kann auch die Einwirkung auf die Schüler nicht abgesprochen werden, wie das die angegriffenen Entscheidungen tun.

46

Zwar ist es richtig, daß mit der Anbringung des Kreuzes in Klassenzimmern kein Zwang zur Identifikation oder zu bestimmten Ehrbezeugungen und Verhaltensweisen einhergeht. Ebensowenig folgt daraus, daß der Sachunterricht in den profanen Fächern von dem Kreuz geprägt oder an den von ihm symbolisierten Glaubenswahrheiten und Verhaltensanforderungen ausgerichtet wird. Darin erschöpfen sich die Einwirkungsmöglichkeiten des Kreuzes aber nicht. Die schulische Erziehung dient nicht nur der Erlernung der grundlegenden Kulturtechniken und der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. Sie soll auch die emotionalen und affektiven Anlagen der Schüler zur Entfaltung bringen. Das Schulgeschehen ist darauf angelegt, ihre Persönlichkeitsentwicklung umfassend zu fördern und insbesondere auch das Sozialverhalten zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang gewinnt das Kreuz im Klassenzimmer seine Bedeutung. Es hat appellativen Charakter und weist die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus. Das geschieht überdies gegenüber Personen, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind (vgl BVerfGE_52,223 <249>).

47

Auch die angegriffenen Entscheidungen stellen den appellativen Charakter des Kreuzes nicht völlig in Abrede. Zwar sprechen sie ihm gegenüber den andersdenkenden Schülern eine spezifisch christliche Bedeutung ab. Für die christlichen Schüler sehen sie in ihm aber einen wesentlichen Ausdruck von deren religiöser Überzeugung. Ähnlich meint der Bayerische Ministerpräsident, das Kreuz habe im allgemeinen Unterricht nur einen unspezifischen Symbolwert, während es sich beim Schulgebet und im Religionsunterricht in ein spezifisches Glaubenssymbol verwandele.

48

3. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Das bedeutet aber nicht, daß es keinerlei Einschränkungen zugänglich wäre. Diese müssen sich jedoch aus der Verfassung selbst ergeben. Eine Errichtung von Schranken, die nicht bereits in der Verfassung angelegt sind, steht dem Gesetzgeber nicht zu. Verfassungsrechtliche Gründe, die den Eingriff zu rechtfertigen vermöchten, sind hier aber nicht vorhanden.

49

a) Aus Art.7 Abs.1 GG ergibt sich eine solche Rechtfertigung nicht. ]B8) 50 ]B8[ Allerdings erteilt Art.7 Abs.1 GG dem Staat einen Erziehungsauftrag (vgl BVerfGE_34,165 <181>). Er hat nicht nur das Schulwesen zu organisieren und selbst Schulen zu errichten, sondern darf auch die Erziehungsziele und Ausbildungsgänge festlegen. Dabei ist er von den Eltern unabhängig (vgl BVerfGE_34,165 <182>; BVerfGE_47,46 <71 f>). Deswegen können nicht nur schulische und familiäre Erziehung in Konflikt geraten. Es ist vielmehr auch unvermeidbar, daß in der Schule die unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Schüler und ihrer Eltern besonders intensiv aufeinander treffen.

50

Allerdings erteilt Art.7 Abs.1 GG dem Staat einen Erziehungsauftrag (vgl BVerfGE_34,165 <181>). Er hat nicht nur das Schulwesen zu organisieren und selbst Schulen zu errichten, sondern darf auch die Erziehungsziele und Ausbildungsgänge festlegen. Dabei ist er von den Eltern unabhängig (vgl BVerfGE_34,165 <182>; BVerfGE_47,46 <71 f>). Deswegen können nicht nur schulische und familiäre Erziehung in Konflikt geraten. Es ist vielmehr auch unvermeidbar, daß in der Schule die unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Schüler und ihrer Eltern besonders intensiv aufeinander treffen.

51

Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern ist nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, daß nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (vgl BVerfGE_28,243 <260 f>; BVerfGE_41,29 <50>; BVerfGE_52,223 <247, 251>).

52

Ein solcher Ausgleich verlangt vom Staat nicht, daß er bei der Erfüllung des von Art.7 Abs.1 GG erteilten Erziehungsauftrags auf religiös-weltanschauliche Bezüge völlig verzichtet. Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös- weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein. Das gilt in besonderem Maß für die Schule, in der die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft vornehmlich tradiert und erneuert werden. Überdies darf der Staat, der die Eltern verpflichtet, ihre Kinder in die staatliche Schule zu schicken, auf die Religionsfreiheit derjenigen Eltern Rücksicht nehmen, die eine religiös geprägte Erziehung wünschen. Das Grundgesetz hat das anerkannt, indem es in Art.7 Abs.5 GG staatliche Weltanschauungs- oder Bekenntnisschulen gestattet, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach vorsieht (Art.7 Abs.3 GG) und darüber hinaus Raum für aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung läßt (vgl BVerfGE_41,29 <49>; BVerfGE_52,223 <240 f>).

53

Allerdings ist es in einer pluralistischen Gesellschaft unmöglich, bei der Gestaltung der öffentlichen Pflichtschule allen Erziehungsvorstellungen voll Rechnung zu tragen. Insbesondere lassen sich die negative und die positive Seite der Religionsfreiheit nicht problemlos in ein und derselben staatlichen Institution verwirklichen. Daraus folgt, daß sich der Einzelne im Rahmen der Schule nicht uneingeschränkt auf Art.4 Abs.1 GG berufen kann.

54

Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes zu lösen, obliegt dem Landesgesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozeß einen für alle zumutbaren Kompromiß zu suchen hat. Er kann sich bei seiner Regelung daran orientieren, daß einerseits Art.7 GG im Bereich des Schulwesens religiös-weltanschauliche Einflüsse zuläßt, andererseits Art.4 GG gebietet, bei der Entscheidung für eine bestimmte Schulform religiös-weltanschauliche Zwänge so weit wie irgend möglich auszuschalten. Beide Vorschriften sind zusammen zu sehen und in der Interpretation aufeinander abzustimmen, weil erst die Konkordanz der in den beiden Artikeln geschützten Rechtsgüter der Entscheidung des Grundgesetzes gerecht wird (vgl BVerfGE_41,29 <50 f>).

55

Das Bundesverfassungsgericht hat daraus den Schluß gezogen, daß dem Landesgesetzgeber die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Volksschulen nicht schlechthin verboten ist, mögen auch Erziehungsberechtigte, die bei der Erziehung ihrer Kinder dieser Schule nicht ausweichen können, keine religiöse Erziehung wünschen. Voraussetzung ist jedoch, daß damit nur das unerläßliche Minimum an Zwangselementen verbunden ist. Das bedeutet insbesondere, daß die Schule ihre Aufgabe im religiös-weltanschaulichen Bereich nicht missionarisch auffassen und keine Verbindlichkeit für christliche Glaubensinhalte beanspruchen darf. Die Bejahung des Christentums bezieht sich insofern auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, nicht auf bestimmte Glaubenswahrheiten. Zum Christentum als Kulturfaktor gehört gerade auch der Gedanke der Toleranz für Andersdenkende. Deren Konfrontation mit einem christlich geprägten Weltbild führt jedenfalls so lange nicht zu einer diskriminierenden Abwertung nichtchristlicher Weltanschauungen, als es nicht um Glaubensvermittlung, sondern um das Bestreben nach Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit im religiös-weltanschaulichen Bereich gemäß der Grundentscheidung des Art.4 GG geht (vgl BVerfGE_41,29 <51 f>; BVerfGE_41,65 <85 f>). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb die Regelung über die christliche Gemeinschaftsschule in Art.135 Satz 2 der Bayerischen Verfassung nur aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt (vgl BVerfGE_41,65 <66 und 79 ff>) und in bezug auf die Simultanschule mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinne betont, daß es sich nicht um eine bikonfessionelle Schule handele (vgl BVerfGE_41,29 <62>).

56

Die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern überschreitet die danach gezogene Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule. Wie bereits festgestellt, kann das Kreuz nicht seines spezifischen Bezugs auf die Glaubensinhalte des Christentums entkleidet und auf ein allgemeines Zeichen abendländischer Kulturtradition reduziert werden. Es symbolisiert den wesentlichen Kern der christlichen Glaubensüberzeugung, die zwar insbesondere die westliche Welt in vielfacher Weise geformt hat, aber keineswegs von allen Gesellschaftsgliedern geteilt, sondern von vielen in Ausübung ihres Grundrechts aus Art.4 Abs.1 GG abgelehnt wird. Seine Anbringung in der staatlichen Pflichtschule ist daher mit Art.4 Abs.1 GG unvereinbar, soweit es sich nicht um christliche Bekenntnisschulen handelt.

57

b) Die Anbringung des Kreuzes rechtfertigt sich auch nicht aus der positiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens. Die positive Glaubensfreiheit kommt allen Eltern und Schülern gleichermaßen zu, nicht nur den christlichen. Der daraus entstehende Konflikt läßt sich nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen, denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten. Überdies verleiht Art.4 Abs.1 GG den Grundrechtsträgern nicht uneingeschränkt einen Anspruch darauf, ihre Glaubensüberzeugung im Rahmen staatlicher Institutionen zu betätigen. Soweit die Schule im Einklang mit der Verfassung dafür Raum läßt wie beim Religionsunterricht, beim Schulgebet und anderen religiösen Veranstaltungen, müssen diese vom Prinzip der Freiwilligkeit geprägt sein und Andersdenkenden zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten lassen. Das ist bei der Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern, deren Präsenz und Anforderung sich der Andersdenkende nicht entziehen kann, nicht der Fall. Schließlich wäre es mit dem Gebot praktischer Konkordanz nicht vereinbar, die Empfindungen Andersdenkender völlig zurückzudrängen, damit die Schüler christlichen Glaubens über den Religionsunterricht und freiwillige Andachten hinaus auch in den profanen Fächern unter dem Symbol ihres Glaubens lernen können.

D.

58

Danach ist die dem Streitfall zugrunde liegende Vorschrift des § 13 Abs.1 Satz 3 VSO mit den genannten Grundrechten unvereinbar und für nichtig zu erklären. Die angegriffenen Entscheidungen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens sind aufzuheben. Da das Hauptsacheverfahren inzwischen beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof anhängig ist, wird die Sache an ihn zurückverwiesen (§ 95 Abs.2 BVerfGG). Die Anordnung der Kostenerstattung beruht auf § 34a Abs.2 BVerfGG."

 

Auszug aus BVerfG B, 16.05.95, - 1_BvR_1087/91 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.23 ff

§§§

95.015 Mitbestimmungsgesetz (SH)

  1. BVerfG,     B, 24.05.95,     – 2_BvF_1/92 –

  2. BVerfGE_93,37 = www.dfr/BVerfGE = ZBR_96,15 -20

  3. GG_Art.20 Abs.2, GG_Art.28 Abs.1 S.1; (SH) MBG_§_2 Abs.1, MBG_§_51, MBG_§_52, MBG_§_53 ff, MBG_§_56, MBG_§_58 Abs.1

T-95-03

1) Als Ausübung von Staatsgewalt, die demokratischer Legitimation bedarf, stellt sich jedenfalls alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter dar (BVerfGE_83,60 <73>). Es kommt nicht darauf an, ob es unmittelbar nach außen wirkt oder nur behördenintern die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Amtsaufgaben schafft. Will der Gesetzgeber die Beschäftigten an Entscheidungen über innerdienstliche Maßnahmen mit Rücksicht auf deren spezifische Interessen als Dienst- und Arbeitnehmer beteiligen, so sind ihm durch das Erfordernis hinreichender demokratischer Legitimation Grenzen gesetzt.

 

2) In welcher Art und in welchen Fällen die Mitbestimmung oder eine andere Form der Beteiligung der Personalvertretung verfassungsrechtlich zulässig ist, ist unter Würdigung der Bedeutung der beteiligungspflichtigen Maßnahmen sowohl für die Arbeitssituation der Beschäftigten und deren Dienstverhältnis als auch für die Erfüllung des Amtsauftrags zu bestimmen: Die Mitbestimmung darf sich einerseits nur auf innerdienstliche Maßnahmen erstrecken und nur so weit gehen, als die spezifischen in dem Beschäftigungsverhältnis angelegten Interessen der Angehörigen der Dienststelle sie rechtfertigen (Schutzzweckgrenze). Andererseits verlangt das Demokratieprinzip für die Ausübung von Staatsgewalt bei Entscheidungen von Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrags jedenfalls, daß die Letztentscheidung eines dem Parlament verantwortlichen Verwaltungsträgers gesichert ist (Verantwortungsgrenze).

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. Die Bestimmungen der §§ 2 Absatz 1, 51 und 52 in Verbindung mit §§ 53 bis 55 sowie die Bestimmungen der §§ 56 und 58 Absätze 1, 2 Nummer 2 und Absatz 3 des Gesetzes über die Mitbestimmung der Personalräte (Mitbestimmungsgesetz Schleswig- Holstein - MBG Schl.-H.) vom 11. Dezember 1990 (Gesetz- und Verordnungsbl. für Schleswig-Holstein Seite 577), die den Personalvertretungen eine umfassende Beteiligung in Form einer Mitbestimmung mit Entscheidungsrecht der Einigungsstelle einräumen, sind mit Artikel 28 Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes unvereinbar.

2. § 2 Absatz 4 des Gesetzes ist mit dem Grundgesetz nur in der Auslegung vereinbar, daß die Vorschrift die Befugnisse des Personalrates nicht erweitert und ihn nicht ermächtigt, maßgeblich gestützt auf die dort genannten Belange einer Maßnahme der Dienststelle die Zustimmung zu verweigern.

3. § 59 des Gesetzes ist mit dem Grundgesetz nur in der Auslegung vereinbar, daß nach Absatz 2 der Vorschrift die Landesregierung eine allgemeine Regelung im Sinne des Absatzes 1 jederzeit in Ausübung ihrer Regierungsverantwortung ganz oder teilweise aufheben kann.

4. Das Gesetz bleibt bis zur Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, daß die Einigungsstelle nur Empfehlungen ohne Bindungswirkung beschließen kann, die in § 52 Absatz 5 und 6 des Gesetzes genannten Dienststellen jedoch der Einigungsstelle Gelegenheit zu geben haben, innerhalb der in § 54 Absatz 3 Satz 4 des Gesetzes bestimmten Frist zu beschließen, bevor sie endgültig entscheiden.

* * *

T-95-03Volkssouveränität

132

"In der freiheitlichen Demokratie geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art.20 Abs.1 und 2 GG.). Gemäß Art.28 Abs.1 Satz 1 GG sind die Grundentscheidung des Art.20 Abs.2 GG für die Volkssouveränität und die daraus folgenden Grundsätze der demokratischen Organisation und Legitimation von Staatsgewalt auch für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern verbindlich (vgl BVerfGE_9,268 <281>; BVerfGE_83,60 <71>).

133

1. Art.20 Abs.2 Satz 2 GG gestaltet den Grundsatz der Volkssouveränität aus. Er legt fest, daß das Volk die Staatsgewalt, deren Träger es ist, außer durch Wahlen und Abstimmungen durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausübt. Das setzt voraus, daß das Volk einen effektiven Einfluß auf die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Organe hat. Deren Akte müssen sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden. Dieser Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird vor allem durch die Wahl des Parlaments, durch die von ihm beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt, durch den parlamentarischen Einfluß auf die Politik der Regierung sowie durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung hergestellt. Für die Beurteilung, ob dabei ein hinreichender Gehalt an demokratischer Legitimation erreicht wird, haben die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und in der Literatur unterschiedenen Formen der institutionellen, funktionellen, sachlich-inhaltlichen und der personellen Legitimation Bedeutung nicht je für sich, sondern nur in ihrem Zusammenwirken. Aus verfassungsrechtlicher Sicht entscheidend ist nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau. Dieses kann bei den verschiedenen Erscheinungsformen von Staatsgewalt im allgemeinen und der vollziehenden Gewalt im besonderen unterschiedlich ausgestaltet sein; innerhalb der Exekutive ist dabei auch die Funktionenteilung zwischen der für die politische Gestaltung zuständigen, parlamentarisch verantwortlichen Regierung und der zum Gesetzesvollzug verpflichteten Verwaltung zu berücksichtigen (vgl BVerfGE_83,60 <71 f> mwN).

134

2.a) Organe und Amtswalter bedürfen mithin zur Ausübung von Staatsgewalt einer Legitimation, die - als eine demokratische - auf die Gesamtheit der Staatsbürger, das Volk, zurückgeht, jedoch regelmäßig nicht durch unmittelbare Volkswahl erfolgen muß. In diesem Bereich ist die Ausübung von Staatsgewalt demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung der Amtsträger - personelle Legitimation vermittelnd - auf das Staatsvolk zurückführen läßt und das Handeln der Amtsträger selbst eine ausreichende sachlich-inhaltliche Legitimation erfährt; dies setzt voraus, daß die Amtsträger im Auftrag und nach Weisung der Regierung - ohne Bindung an die Willensentschließung einer außerhalb parlamentarischer Verantwortung stehenden Stelle - handeln können und die Regierung damit in die Lage versetzen, die Sachverantwortung gegenüber Volk und Parlament zu übernehmen (vgl BVerfGE_9,268 <281 f>).

135

b) Uneingeschränkte personelle Legitimation besitzt ein Amtsträger dann, wenn er verfassungsgemäß sein Amt im Wege einer Wahl durch das Volk oder das Parlament oder dadurch erhalten hat, daß er durch einen seinerseits personell legitimierten, unter Verantwortung gegenüber dem Parlament handelnden Amtsträger oder mit dessen Zustimmung bestellt worden ist (ununterbrochene Legitimationskette, vgl dazu BVerfGE_83,60 <73>). Sieht das Gesetz ein Gremium als Kreationsorgan für die definitive Bestellung eines Amtsträgers vor, das nur teils aus personell legitimierten Amtsträgern zusammengesetzt ist, so erhält der zu Bestellende volle demokratische Legitimation für sein Amt nur dadurch, daß die die Entscheidung tragende Mehrheit sich ihrerseits aus einer Mehrheit unbeschränkt demokratisch legitimierter Mitglieder des Kreationsorgans ergibt. Die Vermittlung personeller demokratischer Legitimation setzt weiter voraus, daß die personell demokratisch legitimierten Mitglieder eines solchen Kreationsorgans bei ihrer Mitwirkung an der Bestellung eines Amtsträgers ihrerseits auch parlamentarischv erantwortlich handeln.

136

c) Demokratischer Legitimation bedarf die Ausübung der Staatsgewalt in ihrer jeweiligen Funktion. Der demokratische Legitimationszusammenhang, den eine ununterbrochene Legitimationskette für einen Amtswalter begründet, bezieht sich jeweils auf das im Wege solcher Legitimation verliehene Amt, geht nicht darüber hinaus. Tätigkeiten, die von den Aufgaben des übertragenen Amtes nicht umfaßt werden, sind dadurch nicht mitlegitimiert; der Amtswalter handelt in diesem Bereich persönlich, nicht kraft demokratischer Legitimation."

137

3. Als Ausübung von Staatsgewalt, die demokratischer Legitimation bedarf, stellt sich jedenfalls alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter dar (BVerfGE_83,60 <73>). Es kommt nicht darauf an, ob es unmittelbar nach außen wirkt oder nur behördenintern die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Amtsaufgaben schafft. Auch solche Entscheidungen bedürfen daher demokratischer Legitimation.

138

a) Entscheidungen im internen Bereich von Regierung und Verwaltung stellen sich im Verhältnis zu den Bürgern als Ausübung von Staatsgewalt dar. Ihnen kommt indes daneben eine auf den Binnenbereich des öffentlichen Dienstes bezogene Bedeutung zu. Denn die in dem jeweiligen Dienstbereich Beschäftigten, deren sich die staatlichen Organe bedienen müssen, um die ihnen übertragenen Aufgaben nach den Anforderungen der Verfassung erfüllen zu können, werden durch sie in ihren spezifischen Interessen als Dienst- und Arbeitnehmer berührt. Dies unterscheidet solche innerdienstlichen Maßnahmen von anderen Maßnahmen, mit denen Staatsgewalt ausgeübt wird. Diese Besonderheiten darf der Gesetzgeber bei der Verwirklichung des demokratischen Prinzips berücksichtigen, wenn er die Entscheidungsfindung für solche innerdienstlichen Maßnahmen regelt. Das demokratische Prinzip läßt es - in noch näher zu bestimmenden (siehe unten 4.) Grenzen - zu, daß der Staat (einschließlich der Kommunen) seinen Beschäftigten eine - in gewissem Umfang auch mitentscheidende - Beteiligung zur Wahrung ihrer Belange und zur Mitgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen einräumt. Es geht dabei um Beteiligungsrechte, die in vergleichbarer Weise auch für Arbeitnehmer der Privatwirtschaft verwirklicht sind und sich nach den Erfahrungen des Arbeitslebens als wichtiges Instrument des Interessenausgleichs und der Gewährleistung von "Betriebsfrieden", damit letztlich auch zur Förderung sachgerechter Aufgabenerledigung erwiesen haben.

139

Die Gewährung solcher Beteiligungsrechte knüpft gerade nicht daran an, daß die Berechtigten von den Maßnahmen als Bürger betroffen sind, die der Staatsgewalt unterworfen sind. Sie betrifft Beschäftigte, insofern sie mit dem Staat aufgrund eines wechselseitig Rechte und Pflichten begründenden Arbeits- oder Dienstverhältnisses verbunden sind. Solche Beteiligungsrechte sind mit dem Demokratieprinzip vereinbar, solange sie nicht den Grundsatz berühren, daß alle der Staatsgewalt Unterworfenen den gleichen Einfluß auf die Ausübung von Staatsgewalt haben müssen und deshalb Bürgern, die von einer bestimmten Ausübung von Staatsgewalt individuell betroffen sind, keine besonderen Mitentscheidungsbefugnisse eingeräumt werden dürfen.

140

b) Die schon früher aufgeworfene, jedoch vom Bundesverfassungsgericht offen gelassene Frage, ob die Grundrechte oder das Sozialstaatsprinzip des Art.20 Abs.1 GG den Gesetzgeber verpflichten, für den Bereich des öffentlichen Dienstes in gewissem Umfang Beteiligungsrechte eines gewählten Repräsentationsorgans der Beschäftigten zu schaffen (vgl BVerfGE_51,43 <58>), bedarf auch hier keiner Entscheidung. Das Grundgesetz läßt jedenfalls Raum für eine Personalratsbeteiligung. Dem Gesetzgeber ist dabei verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, wie er innerhalb des ihm gesetzten Rahmens (siehe dazu unten 4.) die Beteiligung der Personalvertretungen an innerdienstlichen, sozialen und personellen Angelegenheiten der Beschäftigten im einzelnen ausgestaltet.

141

4. Dem Gesetzgeber sind jedoch bei einer Beteiligung der Beschäftigten an Maßnahmen, mit denen Staatsgewalt ausgeübt wird, durch das Erfordernis hinreichender demokratischer Legitimation Grenzen gesetzt. Solche Maßnahmen dürfen in keinem Fall ohne die mindestens mitentscheidende Beteiligung verantwortlicher Amtsträger erlassen werden; auch im internen Dienstbetrieb ist kein Raum für eine "Autonomie" des öffentlichen Dienstes, sei diese auch noch so eingeschränkt.

142

In welcher Art und in welchen Fällen die Mitbestimmung oder eine andere Form der Beteiligung der Personalvertretung verfassungsrechtlich zulässig ist, ist unter Würdigung der Bedeutung der beteiligungspflichtigen Maßnahmen sowohl für die Arbeitssituation der Beschäftigten und deren Dienstverhältnis als auch für die Erfüllung des Amtsauftrages zu bestimmen: Die Mitbestimmung darf sich einerseits nur auf innerdienstliche Maßnahmen erstrecken und nur so weit gehen, als die spezifischen in dem Beschäftigungsverhältnis angelegten Interessen der Angehörigen der Dienststelle sie rechtfertigen (Schutzzweckgrenze). Andererseits verlangt das Demokratieprinzip für die Ausübung von Staatsgewalt bei Entscheidungen von Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrages jedenfalls, daß die Letztentscheidung eines dem Parlament verantwortlichen Verwaltungsträgers gesichert ist (Verantwortungsgrenze).

143

Innerhalb dieses Rahmens gilt: Je weniger die zu treffende Entscheidung typischerweise die verantwortliche Wahrnehmung des Amtsauftrages und je nachhaltiger sie die Interessen der Beschäftigten berührt, desto weiter kann die Beteiligung der Personalvertretung reichen. Der Amtsauftrag selbst muß stets in Verantwortung gegenüber Volk und Parlament wahrgenommen werden, weil die Ausübung staatlicher Herrschaft gegenüber dem Bürger - unbeschadet möglicher Einschränkungen bei Aufgaben von besonders geringem Entscheidungsgehalt (vgl BVerfGE_83,60 <74> unter Bezugnahme auf BVerfGE_47,253 <274 f>) - stets den demokratisch legitimierten Amtsträgern vorbehalten ist (vgl BVerfGE_83,60 <73 f>). Hieraus folgen für die Beteiligung der Personalvertretung unterschiedliche Möglichkeiten und Grenzen, je nachdem, ob es sich um Angelegenheiten handelt, die in ihrem Schwerpunkt die Beschäftigten in ihrem Beschäftigungsverhältnis betreffen, typischerweise aber nicht oder nur unerheblich die Wahrnehmung von Amtsaufgaben gegenüber dem Bürger berühren (a), um Maßnahmen, die den Binnenbereich des Beschäftigungsverhältnisses betreffen, die Wahrnehmung des Amtsauftrages jedoch typischerweise nicht nur unerheblich berühren (b) oder um Maßnahmen, die schwerpunktmäßig die Erledigung von Amtsaufgaben betreffen, unvermeidlich aber auch die Interessen der Beschäftigten berühren (c)."

 

Auszug aus BVerfG B, 24.05.95, - 2_BvF_1/92 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.132 ff

§§§

95.016 Universitätsgesetz NRW

  1. BVerfG,     B, 31.05.95,     – 1_BvR_1379/94 –

  2. BVerfGE_93,85 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.5 Abs.3 S.1

 

§ 6 Abs.4 und § 27 Abs.1 Satz 1, 2, 6 und Abs.3 Satz 3 des Gesetzes über die Universitäten des Landes Nordrhein-Westfalen (Universitätsgesetz -- UG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3.August 1993 (GV NW S.532) sind mit der Wissenschaftsfreiheit (Art.5 Abs.3 Satz 1 GG) vereinbar.

§§§

95.017 Einheitswerte II

  1. BVerfG,     B, 22.06.95,     – 2_BvL_37/91 –

  2. BVerfGE_93,121 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.6 Abs.1, GG_Art.106 Abs.2 Nr.1; VStG_§_10 Nr.1; BVerfGG_§_35 FGO_§_74;

 

1. Bestimmt der Gesetzgeber für das gesamte steuerpflichtige Vermögen einen einheitlichen Steuersatz, so kann eine gleichmäßige Besteuerung nur in den Bemessungsgrundlagen der je für sich zu bewertenden wirtschaftlichen Einheiten gesichert werden. Die Bemessungsgrundlage muß deshalb auf die Ertragsfähigkeit der wirtschaftlichen Einheiten sachgerecht bezogen sein und deren Werte in ihrer Relation realitätsgerecht abbilden.

 

2. Die verfassungsrechtlichen Schranken der Besteuerung des Vermögens durch Einkommen- und Vermögensteuer begrenzen den steuerlichen Zugriff auf die Ertragsfähigkeit des Vermögens. An dieser Grenze der Gesamtbelastung des Vermögens haben sich die gleichheitsrechtlich gebotenen Differenzierungen auszurichten.

 

3. Die Vermögensteuer darf zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrages bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt.

 

4. Unter Berücksichtigung der steuerlichen Vorbelastung des Vermögens muß der Steuergesetzgeber jedenfalls die wirtschaftliche Grundlage persönlicher Lebensführung gegen eine Sollertragsteuer abschirmen.

 

5. Soweit Vermögensteuerpflichtige sich innerhalb ihrer Ehe oder Familie auf eine gemeinsame - erhöhte - ökonomische Grundlage individueller Lebensgestaltung einrichten durften, gebietet der Schutz von Ehe und Familie gemäß Art.6 Abs.1 GG, daß der Vermögensteuergesetzgeber die Kontinuität dieses Ehe- und Familiengutes achtet.

 

LB 6) Zur abweichenden Meinung des Richters Böckenförde, siehe BVerfGE_93,149 = www.dfr/BVerfGE Abs.82 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 10 Nummer 1 des Vermögensteuergesetzes vom 17.April 1974 (Bundesgesetzbl I Seite 949) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14.November 1990 (Bundesgesetzbl I Seite 2467), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.September 1994 (Bundesgesetzbl I Seite 2325), ist jedenfalls seit dem Veranlagungszeitraum 1983 in allen seinen seitherigen Fassungen mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes insofern unvereinbar, als er den einheitswertgebundenen Grundbesitz, dessen Bewertung der Wertentwicklung seit 1964/74 nicht mehr angepaßt worden ist, und das zu Gegenwartswerten erfaßte Vermögen mit demselben Steuersatz belastet.

2. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 31.Dezember 1996 zu treffen. Längstens bis zu diesem Zeitpunkt ist das bisherige Recht weiterhin anwendbar.

Setzt die Neuregelung eine allgemeine Neubewertung von Besteuerungsgrundlagen voraus, so kann der Gesetzgeber für deren Dauer - längstens für fünf Jahre seit der Verkündung des Gesetzes - Übergangsregelungen treffen, die die vermögensteuerliche Belastung an die verfassungsrechtlichen Maßstäbe dieser Entscheidung annähern; dabei darf er eine teilweise Fortgeltung der bisherigen Vorschriften anordnen.

§§§

95.018 Erbschaftssteuer

  1. BVerfG,     B, 22.06.95,     – 2_BvR_552/91 –

  2. BVerfGE_93,165

  3. GG_Art.3 Abs.1; ErbStG_§_12 Abs.1, ErbStG_§_12 Abs.2

 

1) Entscheidet sich der Gesetzgeber bei der Erbschaftssteuer für eine gesonderte Bewertung der zu besteuernden Güter, so muß er die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig umsetzen und die Steuerpflichtigen - ungeachtet verfassungsrechtlich zulässiger Differnzierungen - gleichmäßig belasten.

 

2) Der Spielraum für den steuerlichen Zugriff auf den Erwerb von Todes wegen findet seine Grenze dort, wo die Steuerpflicht den Erwerber übermäßig belastet und die ihm zugewachsenen Vermögenswerte grundlegend beeinträchtigt.

 

3) Die Ausgestaltung und Bemessung der Erbschaftsteuer muß den grundlegenden Gehalt der Erbrechtsgarantie wahren, zu dem die Testierfreiheit und das Prinzip des Verwandtenerbrechts gehören; sie darf Sinn und Funktion des Erbrechts als Rechtseinrichtung und Individualgrundrecht nicht zunichte oder wertlos machen.

§§§

95.019 Kurzarbeitsgeld

  1. BVerfG,     B, 04.07.95,     – 1_BvF_2/86 –

  2. BVerfGE_92,365 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.9 Abs.3; AFG_§_116 Abs.3 S.1 Nr.2, AFG_§_116 Abs.3 S.2, AFG_§_116 Abs.6

 

1) § 116 Abs.3 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Treten in der Folge dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auf, die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und durch die Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können, muß der Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie treffen.

 

2) Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung, soweit es die Beziehungen zwischen Trägern widerstreitender Interessen zum Gegenstand hat. Dem Gesetzgeber kommt dabei ein weiter Handlungsspielraum zu. Bei der Beurteilung, ob die Parität zwischen den Tarifvertragsparteien gestört ist und welche Auswirkungen eine Regelung auf das Kräfteverhältnis hat, steht ihm eine Einschätzungsprärogative zu.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 116 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 und Absatz 6 des Arbeitsförderungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen vom 15.Mai 1986 (Bundesgesetzblatt I Seite 740) ist mit dem Grundgesetz vereinbar. § 116 Absatz 3 Satz 2 dieses Gesetzes ist nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar.

Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

§§§

95.020 Rasterfahndung

Rezension:
Peter Volle,
NJW-CoR_95,

  1. BVerfG,     B, 05.07.95,     – 1_BvR_2226/94 –

  2. BVerfGE_93,181 = www.dfr/BVerfGE = NJW_96,114 -116 = NJW-CoR_95,333 (L)

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.19 Abs.4, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.10 Abs.1, GG_Art.10 Abs.2 S.2; BVerfGG_§_32

 

LB: Zur Folgenabwägung in einem einstweiligen Anordnungsverfahren.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Artikel 1 § 3 Absatz 3 Satz 1 des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz (G 10) vom 13.August 1968 (BGBl_I_68,949) in der Fassung des Artikels 13 des Verbrechenbekämpfungsgesetzes vom 28.Oktober 1994 (BGBl_I_94,3186) ist einstweilen mit der Maßgabe anzuwenden, daß bei der Durchführung von Maßnahmen nach Absatz 1 erlangte personenbezogene Daten nur dann verwendet werden dürfen, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß jemand eine der in der Vorschrift genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat.

2) Artikel 1 § 3 Absatz 5 Satz 1 G 10 in der Fassung des Artikels 13 des Verbrechenbekämpfungsgesetzes ist einstweilen mit der Maßgabe anzuwenden, daß die nach Absatz 1 erlangten Daten den in der Vorschrift genannten Behörden nur dann zu übermitteln sind, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß jemand eine der in § 3 Absatz 3 G 10 genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat.

§§§

95.021 DDR-Rechtsanwälte

  1. BVerfG,     B, 09.08.95,     – 1_BvR_2263/94 –

  2. BVerfGE_93,213 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1; RNPG_§_1 Abs.1; EV_Art.19; RAG_§_1 Abs.1

 

1) § 1 Absatz 1 des Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

 

2) Zu den Voraussetzungen für einen Widerruf der Zulassung von Rechtsanwälten, die in der Deutschen Demokratischen Republik inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes waren.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. Der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 21.November 1994 - AnwZ (B) 50/94 -, der Beschluß des Thüringer Berufsgerichtshofs für Rechtsanwaltssachen vom 27.Juni 1994 - EGH 2/94 - und der Widerrufsbescheid des Thüringer Justizministeriums vom 5. Januar 1994 - 3176 E - 1 - 44/91 - verletzen die Beschwerdeführerin zu 1) in ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Das Verfahren wird an den Bundesgerichtshof zur Entscheidung über die Kosten des gerichtlichen Verfahrens zurückverwiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Thüringen haben der Beschwerdeführerin zu 1) jeweils zur Hälfte die notwendigen Auslagen zu erstatten.

2. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 2) wird zurückgewiesen.

3. Der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 13.Februar 1995 - AnwZ (B) 57/94 - verletzt den Beschwerdeführer zu 3) in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

Die weitergehende Verfassungsbeschwerde wird verworfen. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer zu 3) die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

95.022 Sudanesen

  1. BVerfG,     B, 12.09.95,     – 2_VR_1906/95 –

  2. BVerfGE_93,248 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.16a Abs.1; AsylVfG_§_13 Abs.1 +2; AuslG_§_51, AuslG_§_60 Abs.5

 

LB 1) Das BVerfG lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, weil ein weiterer Aufschub der Vollziehung der gemäß § 18a Abs.3 AsylVfG ausgesprochenen Einreiseverweigerungen nicht erforderlich ist, um einen schweren Nachteil von den Antragstellern abzuwenden.

 

LB 2) Zur abweichenden Meinung des Richters Sommer, siehe BVerfGE_93,258 = www.dfr/BVerfGE Abs.39 ff.

§§§

95.023 DNA-Analyse

  1. BVerfG,     B, 18.09.95,     – 2_BvR_103/92 –

  2. = NJW_96,771 - 772

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1 +2, GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.19 Abs.1+2; StPO_§_81a, StPO_§_152 Abs.2, StPO_§_161, StPO_§_163

 

Die Untersuchung einer gemäß § 81a StPO oder auf freiwilliger Basis von einem Beschuldigten entnommenen Blutprobe im nicht-codierten Bereich der DNA, die keine Informationen über erbliche Eigenschaften des Beschuldigten vermittelt, begegnet nach dem heutigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

§§§

95.024 Soldaten sind Mörder

  1. BVerfG,     B, 10.10.95,     – 1_BvR_1476/91 –

  2. BVerfGE_93,266 = www.dfr/BVerfGE = NJW_95,3303 -10

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.1, GG_Art.5 Abs.2, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.103 Abs.2; StGB_§_185, StGB_§_193, StGB_§_194 Abs.3 S.2

T-95-04

Zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bei Kollektivurteilen über Soldaten.

Abs.103

LB 2) Meinungen sind im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden zum Gegenstand der Äußerung gekennzeichnet (vgl zuletzt BVerfGE_90,241 <247 ff>).

 

LB 3) Meinungen enthalten das Urteil des Äußernden über Sachverhalte, Ideen oder Personen. Auf diese persönliche Stellungnahme bezieht sich der Grundrechtsschutz.

 

LB 4) Der Grundrechtsschutz besteht unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (vgl BVerfGE_30,336 <347>; BVerfGE_33,1 <14>; BVerfGE_61,1 <7>).

 

LB 5) Der Schutz bezieht sich nicht nur auf den Inhalt der Äußerung, sondern auch auf ihre Form. Daß eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts (vgl BVerfGE_54,129 <138 f<; BVerfGE_61,1 <7 f>).

 

LB 6) Geschützt ist ferner die Wahl des Ortes und der Zeit einer Äußerung. Der sich Äußernde hat nicht nur das Recht, überhaupt seine Meinung kundzutun. Er darf dafür auch diejenigen Umstände wählen, von denen er sich die größte Verbreitung oder die stärkste Wirkung seiner Meinungskundgabe verspricht.

Abs.106

LB 7) Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet allerdings nach Art.5 Abs.2 GG seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehört auch § 185 StGB, der den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegt.

 

LB 8) Um die Verurteilung Nach § 185 StGB tragen zu können, muß die Vorschrift jedoch ihrerseits mit dem Grundgesetz übereinstimmen und überdies in verfassungsmäßiger Weise ausgelegt und angewandt werden (vgl BVerfGE_7,198 <208 f>; stRspr).

Abs.107

LB 9) Gegen § 185 StGB bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

Abs.109

LB 10) § 193 StGB schließt eine Bestrafung wegen einer Äußerung dann aus, wenn diese in Wahrnehmung berechtigter Interessen getan worden ist. Diese Vorschrift, die vor jeder Verurteilung nach § 185 StGB zu beachten ist, steht mit ihrer weiten Formulierung dem Einfluß der Meinungsfreiheit in besonderer Weise offen und erlaubt damit einen schonenden Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter (vgl BVerfGE_12,113 <125 f>).

Abs.110

LB 11) Wie § 194 Abs.3 Satz 2 StGB zu entnehmen ist, bezieht sich der Schutz von § 185 StGB allerdings nicht nur auf Personen, sondern auch auf Behörden oder sonstige Stellen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen.

 

LB 13) Der strafrechtliche Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik, unter Umständen auch in scharfer Form, abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll (vgl BVerfGE_28,191 <202>). Diesem Erfordernis trägt aber wiederum § 193 StGB ausreichend Rechnung, der dem Einfluß von Art.5 Abs.1 Satz 1 GG Raum gibt und gesteigerte Bedeutung erlangt, wenn § 185 StGB zum Schutz öffentlicher Einrichtungen und nicht zum Schutz der persönlichen Ehre eingesetzt wird.

Abs.113

LB 14) Auf der Stufe der Normauslegung erfordert Art.5 Abs.1 Satz 1 GG eine im Rahmen der Tatbestandsmerkmale der betreffenden Gesetze vorzunehmende Abwägung zwischen der Bedeutung einerseits der Meinungsfreiheit und andererseits des Rechtsguts, in dessen Interesse sie eingeschränkt worden ist.

Abs.114

LB 15) Besonders bei der Auslegung von § 193 StGB fällt ins Gewicht, daß die Meinungsfreiheit schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Ordnung ist (vgl BVerfGE_7,198 <208>).

 

LB 16) Ein berechtigtes Interesse kann daher nicht nur dann bestehen, wenn der Betroffene selber den Anlaß zu der Äußerung gegeben hat oder wenn jemand sich gegen persönliche Angriffe zur Wehr setzt, sondern auch, wenn er sich an einer öffentlichen Auseinandersetzung über gesellschaftlich oder politisch relevante Fragen beteiligt (vgl BVerfGE_12,113 <125, 127>).

 

LB 17) Treten Ehrenschutzvorschriften staatlicher Einrichtungen in einen Konflikt mit der Meinungsfreiheit, so ist deren Gewicht besonders hoch zu veranschlagen, weil das Grundrecht gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet.

 

LB 18) So muß die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet. Dieser für die Kunstfreiheit ausgesprochene Grundsatz (vgl BVerfGE_75,369 <380>) beansprucht auch für die Meinungsfreiheit Geltung, denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig.

Abs.117

LB 19) Desgleichen tritt bei herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurück (vgl BVerfGE_61,1 <12>).

 

LB 20) Schmähkritik muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung bestehen (vgl BVerfGE_82,272 <283 f>).

 

LB 21) Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Formalbeleidigung oder Schmähung, mit der Folge, daß eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entbehrlich wird, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (vgl BVerfGE_82,272 <281<).

 

LB 22) Zur abweichenden Meinung der Richterin Dr. Haas, siehe BVerfGE_93,313 = www.dfr/BVerfGE, Abs.176 ff.

* * *

T-95-04Meinungsfreiheit

101

C. Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit zulässig, begründet. Die angegriffenen Entscheidungen haben das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art.5 Abs.1 Satz 1 GG nicht in dem erforderlichen Umfang beachtet. I.

102

1. Die Äußerungen, deretwegen die Beschwerdeführer wegen Beleidigung bestraft worden sind, genießen den Schutz von Art.5 Abs.1 Satz 1 GG.

103

Diese Verfassungsnorm gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Meinungen sind im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden zum Gegenstand der Äußerung gekennzeichnet (vgl zuletzt BVerfGE_90,241 <247 ff>). Sie enthalten sein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder Personen. Auf diese persönliche Stellungnahme bezieht sich der Grundrechtsschutz. Er besteht deswegen unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (vgl BVerfGE_30,336 <347>; BVerfGE_33,1 <14>; BVerfGE_61,1 <7>). Der Schutz bezieht sich nicht nur auf den Inhalt der Äußerung, sondern auch auf ihre Form. Daß eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts (vgl BVerfGE_54,129 <138 f>; BVerfGE_61,1 <7 f>). Geschützt ist ferner die Wahl des Ortes und der Zeit einer Äußerung. Der sich Äußernde hat nicht nur das Recht, überhaupt seine Meinung kundzutun. Er darf dafür auch diejenigen Umstände wählen, von denen er sich die größte Verbreitung oder die stärkste Wirkung seiner Meinungskundgabe verspricht.

104

Bei den Äußerungen, aufgrund deren die Beschwerdeführer wegen Beleidigung bestraft worden sind, handelt es sich um Meinungen in diesem Sinn, die stets vom Schutz des Grundrechts umfaßt sind. Die Beschwerdeführer haben mit ihren Äußerungen, Soldaten seien Mörder oder potentielle Mörder, nicht von bestimmten Soldaten behauptet, diese hätten in der Vergangenheit einen Mord begangen. Sie haben vielmehr ein Urteil über Soldaten und über den Soldatenberuf zum Ausdruck gebracht, der unter Umständen zum Töten anderer Menschen zwingt. Vom Vorliegen eines Werturteils, nicht einer Tatsachenbehauptung, sind auch die Strafgerichte ausgegangen.

105

2. In der Bestrafung wegen dieser Äußerungen liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit.

106

3. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet. Nach Art.5 Abs.2 GG findet es seine Schranken vielmehr an den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehört auch § 185 StGB, der den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegt. Um die Verurteilung tragen zu können, muß die Vorschrift jedoch ihrerseits mit dem Grundgesetz übereinstimmen und überdies in verfassungsmäßiger Weise ausgelegt und angewandt werden (vgl BVerfGE_7,198 <208 f>; stRspr). II.

107

Gegen § 185 StGB bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

108

1. Die Strafbestimmung ist mit Art.5 Abs.1 Satz 1 GG vereinbar.

109

a) Die Vorschrift schützt in erster Linie die persönliche Ehre. Im Rahmen des aus Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts genießt diese selber grundrechtlichen Schutz (vgl BVerfGE_54,148 <153 f>). Sie kann vor allem durch Meinungsäußerungen verletzt werden. Deswegen ist sie in Art.5 Abs.2 GG ausdrücklich als rechtfertigender Grund für Einschränkungen der Meinungsfreiheit anerkannt. Daraus folgt allerdings nicht, daß der Gesetzgeber die Meinungsfreiheit im Interesse der persönlichen Ehre beliebig beschränken dürfte (vgl BVerfGE_7,198 <208>). Er muß vielmehr auch dann, wenn er von der Ermächtigung des Art.5 Abs.2 GG Gebrauch macht, das eingeschränkte Grundrecht im Auge behalten und übermäßige Einengungen der Meinungsfreiheit vermeiden. Diesem Erfordernis trägt jedoch § 193 StGB Rechnung, indem er eine Bestrafung wegen einer Äußerung dann ausschließt, wenn diese in Wahrnehmung berechtigter Interessen getan worden ist. Diese Vorschrift, die vor jeder Verurteilung nach § 185 StGB zu beachten ist, steht mit ihrer weiten Formulierung dem Einfluß der Meinungsfreiheit in besonderer Weise offen und erlaubt damit einen schonenden Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter (vgl BVerfGE_12,113 <125 f>).

110

b) Wie § 194 Abs.3 Satz 2 StGB zu entnehmen ist, bezieht sich der Schutz von § 185 StGB allerdings nicht nur auf Personen, sondern auch auf Behörden oder sonstige Stellen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen. Insoweit läßt sich die Norm nicht aus dem Gesichtspunkt der persönlichen Ehre rechtfertigen, denn staatliche Einrichtungen haben weder eine "persönliche" Ehre noch sind sie Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Als Schutznorm zugunsten staatlicher Einrichtungen zählt § 185 StGB jedoch zu den allgemeinen Gesetzen im Sinn von Art. 5 Abs. 2 GG. Darunter sind alle Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen (vgl BVerfGE_7, 198 <209>; stRspr). Das ist bei § 185 StGB der Fall. Ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz vermögen staatliche Einrichtungen ihre Funktion nicht zu erfüllen. Sie dürfen daher grundsätzlich auch vor verbalen Angriffen geschützt werden, die diese Voraussetzungen zu untergraben drohen (vgl BVerfGE_81,278 <292 f>). Der strafrechtliche Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik, unter Umständen auch in scharfer Form, abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll (vgl BVerfGE_28,191 <202>). Diesem Erfordernis trägt aber wiederum § 193 StGB ausreichend Rechnung, der dem Einfluß von Art.5 Abs.1 Satz 1 GG Raum gibt und gesteigerte Bedeutung erlangt, wenn § 185 StGB zum Schutz öffentlicher Einrichtungen und nicht zum Schutz der persönlichen Ehre eingesetzt wird.

111

2. § 185 StGB ist auch nicht zu unbestimmt und verstößt damit nicht gegen Art.103 Abs.2 GG. Zwar unterscheidet er sich von den übrigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs dadurch, daß er den Straftatbestand lediglich mit dem Begriff der Beleidigung benennt, aber nicht näher definiert. Auch wenn das für eine unter der Geltung des Grundgesetzes erlassene Strafvorschrift als unzureichend anzusehen sein sollte, hat der Begriff der Beleidigung jedenfalls durch die über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung einen hinreichend klaren Inhalt erlangt, der den Gerichten ausreichende Vorgaben für die Anwendung an die Hand gibt und den Normadressaten deutlich macht, wann sie mit einer Bestrafung wegen Beleidigung zu rechnen haben (vgl BVerfGE_71, 108 <114 ff>). Soweit es zur Kollektivbeleidigung noch ungeklärte Streitfragen gibt, wird dadurch die Bestimmtheit der Norm nicht berührt. III.

112

Auslegung und Anwendung der Strafgesetze sind Sache der Strafgerichte. Handelt es sich um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei aber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl BVerfGE_7,198 <208 f>).

113

1. Auf der Stufe der Normauslegung erfordert Art.5 Abs.1 Satz 1 GG eine im Rahmen der Tatbestandsmerkmale der betreffenden Gesetze vorzunehmende Abwägung zwischen der Bedeutung einerseits der Meinungsfreiheit und andererseits des Rechtsguts, in dessen Interesse sie eingeschränkt worden ist. Damit ist eine Interpretation von § 185 StGB unvereinbar, die den Begriff der Beleidigung so weit ausdehnt, daß er die Erfordernisse des Ehren- oder Institutionenschutzes überschreitet (vgl BVerfGE_71,162 <181>) oder für die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit keinen Raum mehr läßt (vgl BVerfGE_43,130 <139>). Desgleichen verbietet Art.5 Abs.1 Satz 1 GG eine Auslegung der §§ 185 ff. StGB, von der ein abschreckender Effekt auf den Gebrauch des Grundrechts ausgeht, der dazu führt, daß aus Furcht vor Sanktionen auch zulässige Kritik unterbleibt (vgl BVerfGE_43,130 <136>; stRspr).

114

Besonders bei der Auslegung von § 193 StGB fällt ins Gewicht, daß die Meinungsfreiheit schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Ordnung ist (vgl BVerfGE_7,198 <208>). Ein berechtigtes Interesse kann daher nicht nur dann bestehen, wenn der Betroffene selber den Anlaß zu der Äußerung gegeben hat oder wenn jemand sich gegen persönliche Angriffe zur Wehr setzt, sondern auch, wenn er sich an einer öffentlichen Auseinandersetzung über gesellschaftlich oder politisch relevante Fragen beteiligt (vgl BVerfGE_12,113 <125, 127>). Das ist insbesondere zu beachten, wenn die Ehrenschutzvorschriften der §§ 185 ff. StGB nicht auf Personen, sondern auf staatliche Einrichtungen bezogen werden. Sie dienen dann nicht dem Schutz der persönlichen Ehre, sondern suchen die öffentliche Anerkennung zu gewährleisten, die erforderlich ist, damit staatliche Einrichtungen ihre Funktion erfüllen können. Tritt dieser Schutzzweck in einen Konflikt mit der Meinungsfreiheit, so ist deren Gewicht besonders hoch zu veranschlagen, weil das Grundrecht gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet.

115

2. Auf der Stufe der Anwendung von §§ 185 ff StGB im Einzelfall verlangt Art.5 Abs.1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht, bei der alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen sind (vgl BVerfGE_7,198 <212>; stRspr). Das Ergebnis dieser Abwägung läßt sich wegen ihres Fallbezugs nicht generell und abstrakt vorwegnehmen. Doch ist in der Rechtsprechung eine Reihe von Gesichtspunkten entwickelt worden, die Kriterien für die konkrete Abwägung vorgeben. ]A6) 116 ]A6[ So muß die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet. Dieser für die Kunstfreiheit ausgesprochene Grundsatz (vgl BVerfGE_75,369 <380>) beansprucht auch für die Meinungsfreiheit Geltung, denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Da aber nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, daß der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt.

116

So muß die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet. Dieser für die Kunstfreiheit ausgesprochene Grundsatz (vgl BVerfGE_75,369 <380>) beansprucht auch für die Meinungsfreiheit Geltung, denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Da aber nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, daß der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt.

117

Desgleichen tritt bei herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurück (vgl BVerfGE_61,1 <12>). Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts hat das Bundesverfassungsgericht den in der Fachgerichtsbarkeit entwickelten Begriff der Schmähkritik aber eng definiert. Danach macht auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muß vielmehr, daß bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung bestehen (vgl BVerfGE_82,272 <283 f>). Aus diesem Grund wird Schmähkritik bei Äußerungen in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen und im übrigen eher auf die sogenannte Privatfehde beschränkt bleiben (vgl BGH, NJW 1974, S.1762). Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Formalbeleidigung oder Schmähung, mit der Folge, daß eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entbehrlich wird, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (vgl BVerfGE_82,272 <281>).

118

Läßt sich die Äußerung weder als Angriff auf die Menschenwürde noch als Formalbeleidigung oder Schmähung einstufen, so kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an. Dabei spielt es aber, anders als im Fall von Tatsachenbehauptungen, grundsätzlich keine Rolle, ob die Kritik berechtigt oder das Werturteil "richtig" ist (vgl BVerfGE_66,116 <151>; BVerfGE_68,226 <232>). Dagegen fällt ins Gewicht, ob von dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen oder im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede (vgl BVerfGE_7,198 <208, 212>; BVerfGE_61,1 <11>). Abweichungen davon bedürfen folglich einer Begründung, die der konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie, in der die Vermutungsregel wurzelt, Rechnung trägt.

119

3. Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist allerdings, daß ihr Sinn zutreffend erfaßt worden ist. Fehlt es bei der Verurteilung wegen eines Äußerungsdelikts daran, so kann das im Ergebnis zur Unterdrückung einer zulässigen Äußerung führen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß sich eine solche Verurteilung nachteilig auf die Ausübung des Grundrechts der Meinungsfreiheit im allgemeinen auswirkt, weil Äußerungswillige selbst wegen fernliegender oder unhaltbarer Deutungen ihrer Äußerung eine Bestrafung riskieren (vgl BVerfGE_43,130 <136>). Da unter diesen Umständen schon auf der Deutungsebene Vorentscheidungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Äußerungen fallen, ergeben sich aus Art.5 Abs.1 Satz 1 GG nicht nur Anforderungen an die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze, sondern auch an die Deutung umstrittener Äußerungen.

120

Ziel der Deutung ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung. Maßgeblich ist daher weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren. Die isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils wird daher den Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht (vgl BVerfGE_82,43 <52>).

121

Urteile, die den Sinn der umstrittenen Äußerung erkennbar verfehlen und darauf ihre rechtliche Würdigung stützen, verstoßen gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Dasselbe gilt, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrundelegt, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben (vgl BVerfGE_82,43 <52>). Dabei braucht das Gericht freilich nicht auf entfernte, weder durch den Wortlaut noch die Umstände der Äußerung gestützte Alternativen einzugehen oder gar abstrakte Deutungsmöglichkeiten zu entwickeln, die in den konkreten Umständen keinerlei Anhaltspunkte finden. Lassen Formulierung oder Umstände jedoch eine nicht ehrenrührige Deutung zu, so verstößt ein Strafurteil, das diese übergangen hat, gegen Art.5 Abs.1 Satz 1 GG. Dabei muß auch bedacht werden, daß manche Worte oder Begriffe in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen verschiedene Bedeutungen haben können. Das ist unter anderem bei Begriffen der Fall, die in der juristischen Fachterminologie in anderem Sinn benützt werden als in der Umgangssprache. Es ist daher ebenfalls ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, wenn der Verurteilung der fachspezifische Sinn zugrunde gelegt wird, obwohl die Äußerung in einem umgangssprachlichen Zusammenhang gefallen ist (vgl BVerfGE_7,198 <227>; BVerfGE_85,1 <19>).

122

Die Anforderungen, die Art.5 Abs.1 Satz 1 GG an die Sinnermittlung von Äußerungen richtet, unterliegen der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, und zwar besonders dann, wenn es sich wie bei Strafurteilen, um einen intensiven Grundrechtseingriff handelt. Das hat das Bundesverfassungsgericht stets betont (vgl BVerfGE_43,130 <136 f>; BVerfGE_54,129 <136 ff>; BVerfGE_61,1 <6, 9 f>; BVerfGE_82,43 <50>; BVerfGE_82,272 <280>; BVerfGE_85,1 <13 f>). Darin liegt keine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung zum Umfang der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts (vgl BVerfGE_18,85 <92>; BVerfGE_85,248 <257 f>). Denn auch bei der Verurteilung wegen Äußerungsdelikten prüft das Bundesverfassungsgericht nur, ob die Gerichte Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Meinungsfreiheit verkannt haben. Im übrigen bleibt es bei der alleinigen Zuständigkeit der Fachgerichte. Im Zusammenhang mit Äußerungsdelikten betrifft das Fragen wie die, ob die umstrittene Äußerung tatsächlich gefallen ist, welchen Wortlaut sie hatte, von wem sie stammte und unter welchen Umständen sie abgegeben wurde, zumal wenn die Feststellungen auf der Einmaligkeit des Gesamteindrucks der mündlichen Verhandlung beruhen (vgl BVerfGE_43,130 <137>). Die Ausführungen im Sondervotum, die von dieser ständigen Rechtsprechung abweichen, geben keinen Anlaß, die bisherige Praxis aufzugeben und den Grundrechtsschutz der Meinungsäußerung einzuschränken.

IV.

123

Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht voll gerecht.

124

1. Es begegnet allerdings keinen Bedenken, daß die Gerichte in der Bezeichnung eines Soldaten als Mörder einen schwerwiegenden Angriff auf dessen Ehre gesehen haben. Selbst wenn mit dieser Bezeichnung nicht der Vorwurf einhergeht, der Betroffene habe tatsächlich Morde begangen, so bleibt doch die wertende Gleichstellung mit einem Mörder eine tiefe Kränkung. Diese wiegt besonders schwer, wenn der Ausdruck im strafrechtlichen Sinn unter Einschluß der subjektiven Mordmerkmale des § 211 StGB gebraucht wird. Sie besteht aber auch dann, wenn er umgangssprachlich verwendet wird, denn auch in diesem Fall bezeichnet er eine Person, die in einer sittlich nicht zu rechtfertigenden Weise zur Vernichtung menschlichen Lebens beiträgt oder bereit ist. Darin liegt ebenfalls ein Unwerturteil, das geeignet ist, den Betroffenen im Ansehen seiner Umwelt empfindlich herabzusetzen. Das gilt insbesondere, wenn sich der Vorwurf nicht auf ein vereinzeltes Verhalten, sondern auf die gesamte berufliche Tätigkeit bezieht.

125

Die Gerichte haben sich aber nicht hinreichend vergewissert, daß die mit Strafe belegten Äußerungen diesen Sinn auch wirklich hatten. Sie mußten alternativen Deutungen nachgehen, soweit diese strafrechtlich milder zu beurteilen waren. Andernfalls besteht die Gefahr, daß der sich Äußernde für eine Äußerung bestraft wird, die die angenommene Kränkung nicht enthält. Den Zugang zu solchen Alternativen dürfen sich die Gerichte nicht durch eine isolierte Betrachtung des inkriminierten Teils der Äußerung verschließen. Vielmehr muß der Kontext, soweit er für die Adressaten der Äußerung wahrnehmbar war, berücksichtigt werden. Das gilt zuerst für den sprachlichen Zusammenhang, in dem die umstrittene Äußerung steht, kann aber auch außertextliche Umstände einschließen.

126

In den vorliegenden Fällen bestanden Alternativen zu der von den Gerichten angenommenen Deutung, die Soldaten der Bundeswehr würden Mördern im strafrechtlichen oder im umgangssprachlichen Sinn gleichgestellt; damit werde zum Ausdruck gebracht, sie seien zu besonders niederträchtigem Verhalten gegenüber anderen Menschen willens und fähig. Das ergibt sich vor allem aus zwei Umständen.

127

Zum einen beziehen sich die Äußerungen der Beschwerdeführer ihrem Wortlaut nach durchweg auf Soldaten überhaupt, nicht aber auf einzelne Soldaten oder speziell auf diejenigen der Bundeswehr. Wenn vereinzelt auch die Bundeswehr erwähnt wird, so geschieht das nur, um zu bekräftigen, daß die Aussage über alle Soldaten auch für die Soldaten der Bundeswehr gelte. Dieser Umstand mußte zu der Überlegung Anlaß geben, ob sich die Äußerung nicht gegen Soldatentum und Kriegshandwerk schlechthin richtete, das verurteilt wird, weil es mit dem Töten anderer Menschen verbunden ist, das unter Umständen auf grausame Weise vor sich geht und auch die Zivilbevölkerung trifft. Daß die Beschwerdeführer überwiegend nicht unpersönlich von "Mord", sondern personalisiert von "Mörder" gesprochen haben, ist für sich allein genommen nicht geeignet, diese Deutung auszuschließen. Denn auch in der Verwendung des Wortes "Mörder" muß nicht notwendig der Vorwurf einer schwerkriminellen Haltung oder Gesinnung gegenüber dem einzelnen Soldaten enthalten sein. Vielmehr kann der sich Äußernde auch in besonders herausfordernder Form darauf aufmerksam machen, daß Töten im Krieg kein unpersönlicher Vorgang ist, sondern von Menschenhand erfolgt. Es ist daher nicht von vornherein auszuschließen, daß die Formulierung bei den Wehrdienstleistenden und im Soldatenberuf Stehenden das Bewußtsein der persönlichen Verantwortlichkeit für das insgesamt verurteilte Geschehen wecken und so die Bereitschaft zur Kriegsdienstverweigerung fördern sollte.

128

Zum zweiten standen die Äußerungen, Soldaten seien Mörder oder potentielle Mörder, bei den Beschwerdeführern zu 2) bis 4) in einem längeren sprachlichen Kontext, beim Beschwerdeführer zu 2) in Gestalt eines Flugblatts, beim Beschwerdeführer zu 3) in Gestalt eines Leserbriefs und bei der Beschwerdeführerin zu 4) in Gestalt eines zusammen mit dem Transparent verwendeten und gleichzeitig an dem Bundeswehrstand verteilten Flugblatts. Darin ging es überwiegend um die Vernichtung von Menschenleben, unter den Soldaten wie in der Zivilbevölkerung, als in Kauf genommene Folge der Unterhaltung von Armeen und der damit verbundenen Bereitschaft zur Kriegsführung, gleich ob zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken. Dagegen ging es nicht um Kritik an einem besonders verwerflichen Individualverhalten oder gar an charakterlichen Mängeln von Soldaten. Anhaltspunkte für die Gleichstellung von Soldaten mit Mördern im Sinn der Erfüllung der subjektiven Mordmerkmale des § 211 StGB sind dem Kontext, in dem die inkriminierten Äußerungen stehen, überhaupt nicht zu entnehmen.

129

2. Es ist von Verfassungs wegen weiterhin nicht zu beanstanden, daß die Gerichte in einer herabsetzenden Äußerung, die weder bestimmte Personen benennt noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne individuelle Aufschlüsselung ein Kollektiv erfaßt, unter bestimmten Umständen auch einen Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sehen.

130

Die persönliche Ehre eines Menschen, die durch die Strafdrohung des § 185 StGB vor Angriffen geschützt werden soll, läßt sich nicht rein individuell und losgelöst von den kollektiven Bezügen, in denen er steht, betrachten. Der Einzelne bewegt sich in zahlreichen überindividuellen Zusammenhängen, die er teils frei wählt, teils ohne eigenes Zutun akzeptieren muß und die Rollen- und Verhaltenserwartungen begründen, denen er unterworfen ist. Auch von seiner Umwelt wird er mit den Kollektiven, denen er angehört, und den sozialen Rollen, die er ausfüllt, mehr oder weniger identifiziert. Sein Ansehen in der Gesellschaft hängt unter diesen Umständen nicht allein von seinen individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen, sondern auch von den Merkmalen und Tätigkeiten der Gruppen, denen er angehört, oder der Institutionen, in denen er tätig ist, ab. Insofern können herabsetzende Äußerungen über Kollektive auch ehrmindernd für ihre Mitglieder wirken.

131

Allerdings läßt sich bei herabsetzenden Äußerungen unter einer Sammelbezeichnung die Grenze zwischen einem Angriff auf die persönliche Ehre, die Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG schützt und die nach Art.5 Abs.2 GG Beschränkungen der Meinungsfreiheit rechtfertigt, und einer Kritik an sozialen Phänomenen, staatlichen oder gesellschaftlichen Einrichtungen oder sozialen Rollen und Rollenerwartungen, für die Art. 5 Abs.1 Satz 1 GG gerade einen Freiraum gewährleisten will, nicht scharf ziehen. Einer Bestrafung wegen derartiger Äußerungen wohnt deswegen stets die Gefahr überschießender Beschränkungen der Meinungsfreiheit inne. Verschiedene ausländische Rechtsordnungen, namentlich des angelsächsischen Rechtskreises, kennen daher die Sammelbeleidigung gar nicht und bestrafen nur die ausdrücklich oder erkennbar auf Einzelne bezogene Ehrverletzung (vgl etwa Robertson/Nicol, Media Law, 3.Aufl 1992, S.57).

132

Ob auch § 185 StGB in dieser Weise ausgelegt werden könnte, ist hier nicht zu entscheiden. Das Grundgesetz gebietet eine derart restriktive Auslegung der Ehrenschutzbestimmungen jedenfalls nicht. Doch muß bei der Anwendung von § 185 StGB auf herabsetzende Äußerungen unter einer Sammelbezeichnung stets geprüft werden, ob durch sie überhaupt die "persönliche" Ehre der einzelnen Gruppenangehörigen beeinträchtigt wird, und vor allem beachtet werden, daß es nicht zur Unterdrückung kritischer Äußerungen über politische und soziale Erscheinungen oder Einrichtungen kommen darf, für die der Schutz der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gilt. Darauf weist auch die Strafrechtswissenschaft mit Nachdruck hin (vgl Androulakis, Die Sammelbeleidigung, 1970, mwN).

133

Die Gerichte haben sich in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs gestützt, die gerade aus Anlaß herabsetzender Äußerungen über Soldaten ergangen ist (vgl BGHSt_36,83). Der Bundesgerichtshof geht in dieser Entscheidung davon aus, daß die Anforderungen, die das Reichsgericht an die Strafbarkeit von Sammelbeleidigungen gestellt hatte, nämlich, daß es sich um eine abgrenzbare und überschaubare Gruppe handeln müsse, den rechtsstaatlichen Erfordernissen der Eingrenzung von Straftatbeständen nicht genügten. Er fordert deswegen zusätzlich, daß die herabsetzende Äußerung an ein Merkmal anknüpft, das bei allen Angehörigen des Kollektivs vorliegt, während die Anknüpfung an Merkmale, die zwar auf einige, offenkundig aber nicht auf alle Mitglieder zutreffen, nach dieser Rechtsprechung die persönliche Ehre jedes einzelnen Mitglieds nicht mindert. Da jedem Adressaten einer solchen Äußerung klar sei, daß nicht alle gemeint sein können, bestimmte Personen aber nicht genannt seien, werde durch eine solche Äußerung niemand beleidigt.

134

Der Bundesgerichtshof geht allerdings offenbar davon aus, daß auch nach dieser Eingrenzung noch sehr große Kollektive übrig bleiben, deren Mitglieder durch herabsetzende Äußerungen unter einer Sammelbezeichnung als persönlich beleidigt zu gelten hätten. Um das zu vermeiden, hält er daran fest, daß herabsetzende Äußerungen über unüberschaubar große Gruppen (wie alle Katholiken oder Protestanten, alle Gewerkschaftsmitglieder, alle Frauen) nicht auf die persönliche Ehre jedes einzelnen Angehörigen der Gruppe durchschlagen. Daß sonst die für notwendig gehaltene Eingrenzung des Straftatbestandes wieder preisgegeben würde, wird auch in der Strafrechtswissenschaft angenommen (vgl Herdegen, in: Leipziger Kommentar, 10.Aufl, Rn.20 ff vor § 185; Lenckner, in: Schönke/ Schröder, StGB, 24.Aufl, Rn.7 vor §§ 185 ff; Tenckhoff, JuS 1988, S.457; Dau, NJW 1988, S.2650; Maiwald, JR 1989, S.485; Arzt, JZ 1989, S.647; Giehring, StV 1992, S.194; Wehinger , Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S.53 ff; Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung, 1995, S.76 ff, 191 f).

135

Diese Auslegung trägt dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit Rechnung. Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG wie auch Art.5 Abs.2 GG dienen dem Schutz der persönlichen Ehre. Je größer das Kollektiv ist, auf das sich eine herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht. Auf der imaginären Skala, deren eines Ende die individuelle Kränkung einer namentlich bezeichneten oder erkennbaren Einzelperson bildet, steht am anderen Ende die abwertende Äußerung über menschliche Eigenschaften schlechthin oder die Kritik an sozialen Einrichtungen oder Phänomenen, die nicht mehr geeignet sind, auf die persönliche Ehre des Individuums durchzuschlagen.

136

Diese Erwägungen treffen auch auf herabsetzende Äußerungen über Soldaten zu, sofern sie sich auf alle Soldaten der Welt beziehen. Dagegen sind die Strafgerichte von Verfassungs wegen nicht gehindert, in den (aktiven) Soldaten der Bundeswehr eine hinreichend überschaubare Gruppe zu sehen, so daß eine auf sie bezogene Äußerung auch jeden einzelnen Angehörigen der Bundeswehr kränken kann, wenn sie an ein Merkmal anknüpft, das ersichtlich oder zumindest typischerweise auf alle Mitglieder des Kollektivs zutrifft.

137

Es ist dann allerdings inkonsequent, eine herabsetzende Äußerung, die ohne nähere Eingrenzung alle Soldaten zum Gegenstand hat, nur deswegen speziell auf die Soldaten der Bundeswehr zu beziehen, weil diese Teil der Gesamtheit aller Soldaten sind. Da jedes große Kollektiv in kleinere Untergruppen zerfällt, verwandelt sich durch den Rekurs auf irgend eine von ihnen auch eine völlig unspezifizierte und deswegen straflose Äußerung in eine persönliche und damit strafbare Kränkung. Die vom Bundesgerichtshof aus rechtsstaatlichen Gründen vorgenommene Eingrenzung des Straftatbestandes wird dadurch im Ergebnis wieder aufgehoben.

138

Diese Inkonsequenz ist auch verfassungsrechtlich erheblich. Da die Meinungsfreiheit nur in dem Maß eingeschränkt werden darf, wie es zum Schutz der persönlichen Ehre erforderlich ist, diese durch herabsetzende Äußerungen über unüberschaubar große Kollektive nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auffassung der Strafgerichte aber nicht berührt wird, liegt in der Bestrafung wegen derartiger Äußerungen eine unzulässige Beschränkung von Art.5 Abs.1 Satz 1 GG. Soll jemand, der eine herabsetzende Äußerung über Soldaten im allgemeinen getan hat, wegen Beleidigung der Soldaten der Bundeswehr bestraft werden, so genügt es folglich nicht darzutun, daß die Soldaten der Bundeswehr eine Teilgruppe aller Soldaten bilden; es muß vielmehr dargelegt werden, daß gerade die Soldaten der Bundeswehr gemeint sind, obwohl die Äußerung sich auf Soldaten schlechthin bezieht. Ein derartiges Auseinanderfallen von sprachlicher Fassung und objektivem Sinn ist keinesfalls unmöglich. Die Gerichte müssen dann aber die Umstände benennen, aus denen sich das am Wortlaut der Äußerung allein nicht erkennbare anderweitige Verständnis ergibt. Fehlt es daran, so liegt ein Verstoß gegen Art.5 Abs.1 Satz 1 GG vor.

139

3. Es begegnet schließlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, daß die Gerichte bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz dem Ehrenschutz ohne weiteres den Vorzug geben, wenn in der umstrittenen Äußerung kein Beitrag zur Auseinandersetzung in der Sache liegt, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Schmähkritik.

140

Voraussetzung ist aber, daß es sich bei der fraglichen Äußerung wirklich um Schmähkritik handelt. Die Gerichte haben dies überwiegend unter Berufung auf die erwähnte Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (NJW 1991, S.1493) angenommen, die eine ganz ähnliche Äußerung über Soldaten betraf. Diese Entscheidung gibt zwar die in der Verfassungsrechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Schmähkritik zutreffend wieder, richtet die Rechtsanwendung aber nicht genügend daran aus. Auch dem Sondervotum liegt nicht der in der Verfassungsrechtsprechung mit Rücksicht auf die Meinungsfreiheit entwickelte enge Begriff der Schmähung zugrunde.

141

Merkmal der Schmähung ist die das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängende persönliche Kränkung. Den Beschwerdeführern ging es indessen erkennbar um eine Auseinandersetzung in der Sache, und zwar um die Frage, ob Krieg und Kriegsdienst und die damit verbundene Tötung von Menschen sittlich gerechtfertigt sind oder nicht. Das ergibt sich bei den Beschwerdeführern zu 2) bis 4) aus dem Kontext der inkriminierten Äußerung, den die Gerichte bei der Qualifizierung als Schmähkritik zu beachten hatten. Bei dem Beschwerdeführer zu 1) deuten zumindest die Wortwahl "murder" statt "murderer" sowie der situative Kontext darauf hin. Bei dem Widerstreit von Wehrbereitschaft und Pazifismus handelt es sich um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage, bei der eine Vermutung zugunsten der Redefreiheit spricht. Angesichts dessen hätten die Gerichte darlegen müssen, daß in den konkreten Äußerungen auch unter Berücksichtigung ihres Kontexts die Sachauseinandersetzung von der Personendiffamierung in den Hintergrund gedrängt worden war.

142

Daran bestehen aber gerade deswegen Zweifel, weil sich die Äußerungen ihrem Wortlaut nach nicht auf bestimmte Personen bezogen, sondern unterschiedslos alle Soldaten erfaßten. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß auch bei herabsetzenden Äußerungen über große Kollektive die Diffamierung der ihnen angehörenden Personen im Vordergrund steht. Das gilt insbesondere dann, wenn die Äußerungen an ethnische, rassische, körperliche oder geistige Merkmale anknüpfen, aus denen die Minderwertigkeit einer ganzen Personengruppe und damit zugleich jedes einzelnen Angehörigen abgeleitet wird. In der Regel werden aber nur Äußerungen über bestimmte Personen oder Personenvereinigungen als Schmähkritik in Betracht kommen. Nur in diesem Sinn ist der Begriff auch bisher in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs verwendet worden (vgl BVerfGE_61,1 <12>; BVerfGE_82,272 <284>; BGH, NJW 1974, S.1762; NJW 1977, S.626; LM Nr.42 zu § 847 BGB). Geht es dagegen um Personengruppen, die durch eine bestimmte soziale Funktion geeint sind, so ist eher zu vermuten, daß die Äußerung nicht von der Diffamierung der Personen geprägt wird, sondern an die von ihnen wahrgenommene Tätigkeit anknüpft. Die Äußerung kann dann gleichwohl ehrverletzend sein. Sie unterfällt aber nicht mehr dem Begriff der Schmähkritik, der eine konkrete Abwägung mit den Belangen der Meinungsfreiheit unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles überflüssig macht.

 

Auszug aus BVerfG B, 10.10.95, - 1_BvR_1476/91 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.101 ff

§§§

95.025 Wasserpfennig

  1. BVerfG,     B, 07.11.95,     – 2_BvR_413/88 –

  2. BVerfGE_93,319 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1, GG_Art75 Abs.1 Nr.4; GG_Art.104a ff

 

1) Für die kompetenzrechtliche Zulässigkeit einer nicht steuerlichen Abgabe kommt es nicht darauf an, ob sie sich den gebräuchlichen Begriffen etwa der Gebühr oder des Beitrages einfügt, sondern allein darauf, ob sie den Anforderungen standhält die sich aus der Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundesstaatlichen Finanzverfassung ergeben.

 

2) Die knappe natürliche Ressource Wasser ist ein Gut der Allgemeinheit. Wird Einzelnen die Nutzung einer solchen der Bewirtschaftung unterliegenden Ressource eröffnet, erhalten sie einen Sondervorteil gegenüber all denen, die dieses Gut nicht oder nicht in gleichem Umfang nutzen. Es ist sachlich gerechtfertigt, diesen Vorteil ganz oder teilweise abzuschöpfen.

§§§

95.026 Mitgliederwerbung

  1. BVerfG,     B, 14.11.95,     – 1_BvR_601/92 –

  2. BVerfGE_93,352 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.9 Abs.3

 

Der Schutz des Art.9 Abs.3 GG beschränkt sich nicht auf diejenigen Tätigkeiten, die für die Erhaltung und die Sicherung des Bestandes der Koalition unerläßlich sind; er umfaßt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Dazu gehört die Mitgliederwerbung durch die Koalition und ihre Mitglieder.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13.November 1991 - 5 AZR 74/91 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

95.027 Postulationsfähigkeit

  1. BVerfG,     B, 05.12.95,     – 1_BvR_2011/94 –

  2. BVerfGE_92,362 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1; (86) ZPO_§_78 Abs.1 + 2

 

Zur Regelung der Postulationsfähigkeit in Anwaltsprozessen vor Land- und Amtsgerichten der neuen Bundesländer.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 78 Absatz 1 und 2 der Zivilprozeßordnung in der Fassung des Gesetzes vom 20.Februar 1986 (Bundesgesetzblatt I S.301) ist mit Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit er die Vertretungsbefugnis von Rechtsanwälten, die bei einem Land- oder Amtsgericht der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zugelassen sind, in Anwaltsprozessen vor den dortigen Land- und Amtsgerichten regelt.

2. Bis zum Inkrafttreten einer neuen gesetzlichen Regelung, längstens bis zum 31.Dezember 2004, kann sich eine Partei oder ein am Verfahren beteiligter Dritter in Anwaltsprozessen vor einem Land- oder Amtsgericht der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen von jedem Rechtsanwalt vertreten lassen, der bei einem Amts- oder Landgericht eines dieser Länder zugelassen ist.

3. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu erstatten.

§§§

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