D-Bundestag
14.Wahlperiode
  Drucksache 14/3750  
04.07.00  
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Gesetzentwurf

der Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Hans-Joachim Hacker, Anette Kramme, Christine Lambrecht, Winfried Mante, Dirk Manzewski, Dr Jürgen Meyer (Ulm), Margot von Renesse, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Richard Schuhmann (Delitzsch), Erika Simm, Joachim Stünker, Hedi Wegener, Dr Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Hans-Christian Ströbele, Helmut Wilhelm (Amberg), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN



Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses
(Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG)



A. Problem

Der Zivilprozess muss durch eine grundlegende Strukturreform bürgernäher, effizienter und transparenter werden. Die Verhandlungskultur, die Funktion der Rechtsmittelzüge und der Gerichtsaufbau genügen den berechtigten Ansprüchen der rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft nicht mehr. Zudem kommen auf die Ziviljustiz durch die zunehmende Verrechtlichung des Alltagslebens, den rasanten Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologien und nicht zuletzt durch die Vereinheitlichung des europäischen Rechtsraums neue Aufgaben zu, die sie – angesichts der Haushaltslage der Länder – ohne zusätzliches Personal bewältigen muss.

B. Lösung

Die angestrebte Qualitätsverbesserung und Effizienzsteigerung innerhalb der Ziviljustiz können nur mit einer grundlegenden Strukturreform erreicht werden. Die Reform enthält folgende Schwerpunkte:



C. Alternativen

Keine.



D. Kosten der öffentlichen Haushalte

Das Gesetz führt zu keinen zusätzlichen Belastungen der Haushalte von Bund und Ländern. Das erstinstanzliche Verfahren vor den Landgerichten und die Berufungs- und Beschwerdeverfahren werden effizienter gestaltet. Der dortige Geschäftsanfall kann daher künftig mit erheblich weniger Personal bewältigt werden. Dadurch werden die Länder in die Lage versetzt, die notwendige personelle Stärkung der ersten Instanz sowie die infolge der Konzentration der Berufungen bei den Oberlandesgerichten anfallenden Belastungen ohne zusätzliche Haushaltsmittel zu bewältigen.



E. Sonstige Kosten

Die Prozessgebühr für den Rechtsanwalt im Berufungsverfahren wird durch das Gesetz um rund 15% erhöht. Dem stehen Entlastungen für den Rechtsuchenden infolge des Wegfalls der Verhandlungsgebühr für den Rechtsanwalt in aussichtslosen Berufungsverfahren gegenüber.



Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG)

Drucksache 14/3750 Seite 3 bis 34 nicht abgebildet.

Begründung

A. Allgemeiner Teil

I. Warum eine Reform des Zivilprozesses?

Der Zivilprozess muss bürgernäher, effizienter und durchschaubarer werden. Die Verfahrensregelungen, die Funktion der Rechtsmittelzüge und der Gerichtsaufbau genügen den berechtigten Ansprüchen der rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft nicht mehr. Den Richtern müssen gesetzliche Möglichkeiten geschaffen werden, den Zivilprozess noch präziser auf seine gesellschaftliche Funktion, der zügigen Herstellung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit, zuschneiden zu können. Eine Reform des Zivilprozesses muss die strukturellen Rahmenbedingungen dafür verbessern, dass die Prozessparteien schnell zu ihrem Recht kommen und eine Entscheidung erhalten, die sie verstehen und akzeptieren. Dadurch werden die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit dem materiellen Recht erhöht und der Rechtsfrieden nachhaltig gestärkt. Bei allem Einsatz und aller Qualität der Richterschaft erscheint es geboten, den Richtern ein noch wirksameres Verfahrensrecht an die Hand zu geben.

Die angestrebte Qualitätsverbesserung des Zivilprozesses kann nur mit einer grundlegenden Reform erreicht werden. Sie muss sich an folgenden Leitlinien orientieren:

Durch eine solche grundlegende Strukturreform wird der Zivilprozess nicht nur bürgernäher und transparenter; er wird auch effizienter, weil richterliche Arbeitskraft dort konzentriert wird, wo sie vermehrt gebraucht wird. Durch den effektiveren Umgang mit dieser Ressource finanziert sich die Reform gewissermaßen von selbst. Die vorgesehenen Änderungen des Verfahrens in der ersten Instanz sind so gewählt, dass eine zusätzliche Belastung der Richter vermieden wird. Die Vermeidung unnötiger Prozesse, die Beschränkung des Prüfungsaufwands für aussichtslose Rechtsmittel und nicht zuletzt der Ausbau des Einzelrichtereinsatzes insbesondere in erster Instanz werden bisher nicht effizient genutzte richterliche Arbeitskraft freisetzen, die künftig verwendet werden kann für intensive Rechtsgespräche mit den Parteien, eine vertiefte Feststellung der Tatsachen in erster Instanz und für überzeugende Urteile, die auch von der unterlegenen Partei anerkannt werden.

II. Derzeitige Situation

Das geltende Zivilprozessrecht wird diesen Ansprüchen nicht gerecht. Der vom Gesetzgeber in den letzten Jahren eingeschlagene Weg der sog. Rechtspflegeentlastungsgesetze hat sich als letztlich untaugliches Steuerungsinstrument erwiesen, weil nicht die Ursachen der Defizite angegangen wurden, sondern lediglich die Symptome. Er hat weder eine echte Entlastung der Justiz noch gar die Verbesserung von Bürgernähe, Effizienz oder Transparenz gebracht. Erkennbar sind vielmehr immer deutlicher strukturelle Mängel, die nicht länger hingenommen werden können.

1. Unzureichende Streitschlichtungskultur

Die Möglichkeit einer einvernehmlichen Konfliktregelung, die rascher und kostengünstiger erfolgen und eher dauerhaft Rechtsfrieden zwischen den Parteien stiften kann als die streitige Entscheidung, wird im heutigen Zivilprozess nicht ausreichend genutzt. Die Vergleichsquoten in erster Instanz sind unbefriedigend. Anders als in der Arbeitsgerichtsbarkeit fehlt im Zivilprozess eine verfahrensrechtliche Verankerung des Schlichtungsgedankens in Form einer Güteverhandlung. Ein erster Schritt zu Verbesserungen ist jetzt mit dem Gesetz zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung vom 15.Dezember 1999 (BGBl.I S.2400) getan worden, das den Ländern die Möglichkeit eröffnet, in bestimmten zivilrechtlichen Streitfällen den Zugang zu den Gerichten von der Durchführung eines vorgerichtlichen Güteverfahrens abhängig zu machen. In diesem Bereich liegt weiteres, bislang ungenutztes Potenzial, durch dessen Aktivierung die streitige Entscheidung und der Weg in das Rechtsmittel verhindert werden können.

2. Unübersichtlichkeit des Verfahrensrechts

Als Folge der gesetzgeberischen Reformmaßnahmen der vergangenen Jahrzehnte durch die stufenweise Heraufsetzung der Rechtsmittelsummen für die Berufung und die Revision, die schrittweise Erhöhung des Abgrenzungsstreitwerts zwischen Amts- und Landgerichten, die daran anknüpfende Schaffung von Sonderrechtsmitteln (Divergenzberufung und Rechtsentscheid in Mietsachen) sowie durch Sonderregelungen für ganze Rechtsgebiete (Familiensachen) ist das Verfahrensrecht für den Bürger undurchschaubar geworden. Der Weg der Anfechtbarkeit gerichtlicher Entscheidungen ist teilweise nur noch für Experten zu überblicken; in Teilbereichen wie zB dem Beschwerderecht ist er kaum noch nachvollziehbar.

Darüber hinaus weist das Rechtsmittelsystem der ZPO gegenüber anderen, moderneren Verfahrensordnungen, insbesondere dem Arbeitsgerichtsgesetz, Defizite auf, die sachlich nicht zu rechtfertigen sind. Die ZPO ist durch eine weitgehende Harmonisierung an den höheren Rechtsschutzstandard im Arbeits- und Sozialgerichtsverfahren heranzuführen.

3. Streitwert kein geeignetes Kriterium für Rechtsmittelmöglichkeiten

Die derzeitige Beschränkung der Rechtsmittelmöglichkeiten durch Streitwertkriterien ist nicht sachgerecht. Dem rechtsuchenden Bürger ist nicht überzeugend vermittelbar, dass bei kleineren oder mittleren Streitwerten ein Rechtsmittel selbst bei offensichtlicher Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils ausgeschlossen sein soll, obwohl eine ungünstige Entscheidung in einer kleinen Streitsache für ihn weitaus schwerwiegender sein kann als ein verlorener Millionenprozess für ein großes Wirtschaftsunternehmen. Wertgrenzen sind zudem kein geeignetes Kriterium zur Beurteilung der rechtlichen Bedeutung einer Streitsache. Sie geben letztlich auch nur wenig Auskunft über die Bedeutung des Rechtsstreits für die daran beteiligten, in ganz unterschiedlichen Vermögens- und Einkommensverhältnissen lebenden Parteien. Im Gegenteil: Auch bei relativ geringen Streitwerten können durch den Rechtsstreit existenzielle Bedürfnisse der Beteiligten berührt werden. Dies hat beispielsweise im Mietrecht zu den dortigen Sondervorschriften im Rechtsmittelrecht geführt (Divergenzberufung und Rechtsentscheid).

Die geltenden Wertgrenzen führen dazu, dass derzeit in mehr als 40 % aller Zivilrechtsstreitigkeiten beim Amtsgericht eine Anfechtungsmöglichkeit von vornherein nicht gegeben ist. Unter Berücksichtigung der außerordentlich niedrigen Revisionszulassungsquote der Oberlandesgerichte (1998: 163 Zulassungen bei rund 22 000 Berufungsurteilen, in denen der Beschwerdewert von 60 000 DM nicht erreicht wurde) ergibt sich, dass derzeit praktisch nur in etwa 5 % aller zivilgerichtlichen Verfahren der Zugang zum Bundesgerichtshof gegeben ist. Damit liegen die streitwertbestimmten Hürden für den Zugang des Bürgers zur Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen so hoch, dass der wirtschaftlich Stärkere in unangemessenerWeise privilegiert wird und das geltende Rechtsmittelrecht sich dem Vorwurf sozialer Schieflage ausgesetzt sieht.

Die bestehenden streitwertabhängigen Beschränkungen des Zugangs zum Rechtsmittel führen deshalb dazu, dass weite Bereiche der Rechtsprechung einer obergerichtlichen Klärung nicht zugänglich sind und für ganze Rechtsgebiete die auf die Wahrung der Rechtseinheit angelegte Funktion der Obergerichte ausfällt. In vielen Rechtsfragen, in denen eine obergerichtliche Rechtsprechung die Arbeit der erstinstanzlichen Gerichte erleichtern könnte, kann eine Entscheidung der Oberlandesgerichte oder des Bundesgerichtshofes aufgrund der streitwertabhängigen Zugangsfilter mit der Folge einer Zersplitterung der Präjudizien nicht herbeigeführt werden. Es besteht die – in Teilbereichen bereits Realität gewordene – Gefahr unterschiedlicher Auslegung desselben Gesetzes in verschiedenen Gerichtsbezirken oder auch innerhalb desselben Bezirks durch verschiedene Spruchkörper. Folgen sind die Unklarheit der Rechtslage und damit mangelnde Rechtssicherheit.

4. Fehlsteuerungen in der Berufungsinstanz

In die Berufungsinstanz gelangt der Prozess aufgrund des vorangegangenen erstinstanzlichen Verfahrens und des Urteils des ersten Rechtszuges in der Regel schon mit einer gesicherten tatsächlichen Grundlage. Gleichwohl bestimmt das geltende Prozessrecht, dass der Rechtsstreit vor dem Berufungsgericht in den durch die Berufungsanträge bestimmten Grenzen von neuem verhandelt wird, als ob es eine erste Instanz nicht gegeben hätte. Das Berufungsgericht hat aufgrund des gesamten Inhalts der Berufungsverhandlung und des Ergebnisses etwaiger Beweisaufnahmen über das dem Berufungsurteil zugrunde zu legende Sachverhaltsbild neu zu entscheiden. Durch das geltende Berufungsrecht wird dem rechtsuchenden Publikum der Eindruck vermittelt, der Prozess gehe in zweiter Instanz „noch einmal von vorn los“. Dadurch werden Anreize geschaffen, Rechtsmittel auch gegen solche Urteile erster Instanz einzulegen, in denen der Sachverhalt fehlerfrei festgestellt und das materielle Recht richtig angewandt worden ist. Insofern handelt es sich um eine vom geltenden Zivilprozessrecht ausgehende Fehlsteuerung, denn die Rechtsordnung sollte vielmehr darauf hinwirken, dass überzeugende Urteile möglichst bald in Rechtskraft erwachsen, damit zwischen den Prozessparteien Rechtsfrieden eintritt. Ein anerkennenswertes Interesse der Parteien bezieht sich nur auf die Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden Entscheidung.

Des Weiteren begünstigt die derzeitige großzügige Handhabung der Präklusionsvorschriften des geltenden Berufungsrechts nachlässigen und unvollständigen Vortrag in erster Instanz und ermöglicht eine „Flucht“ in die Berufung. Denn derzeit steht sich diejenige Partei, die in erster Instanz das Vorbringen völlig unterlässt, besser als eine Partei, die, wenn auch verspätet, noch in erster Instanz vorträgt. Dieser Wertungswiderspruch muss durch eine Verschärfung der Präklusionsvorschrift für die Berufungsinstanz aufgehoben werden.

Eine dritte Fehlsteuerung muss schließlich beendet werden: In aussichtslosen Fällen kann die Berufung derzeit dazu benutzt werden, Verfahren zulasten des Gegners aus sachfremden Erwägungen in die Länge zu ziehen, um Zeit zu gewinnen. Obwohl lediglich knapp über 20 % aller eingelegten Berufungen zu einer Abänderung des erstinstanzlichen Urteils führen und nahezu 30 % aller eingelegten Berufungen wieder zurückgenommen werden, dauert das Berufungsverfahren im Schnitt länger als der erstinstanzliche Prozess. Im geltenden Prozessrecht fehlen nämlich vereinfachte Erledigungsmöglichkeiten für substanzlose Berufungen. Über jede zulässige Berufung muss mündlich verhandelt werden, was in Anbetracht der Terminsstände einiger Berufungsgerichte manchen Gläubiger in eine prekäre Situation bringt. Kleine und mittelständische Unternehmen, die die notwendigen Sicherheiten für eine vorläufige Vollstreckung aus dem erstinstanzlichen Urteil nicht leisten und daher die erstinstanzlich zuerkannte Forderung beim Beklagten nicht realisieren können, werden durch diese Schwäche des Zivilprozessrechts in ihrer Existenz gefährdet. Die Sicherungsvollstreckung hilft dem Gläubiger in diesen Fällen nicht weiter, weil sie eine Verwertung des belasteten Gegenstandes nur nach Leistung von Sicherheit erlaubt und darüber hinaus dem Schuldner eine Abwendungsbefugnis eingeräumt wird. Zur Beschleunigung des Verfahrens und der schnelleren Gewährung wirksamen Rechtsschutzes bedarf es dringend sachgerechter Korrekturen im geltenden Recht.

5. Ungleichgewichtiger Personaleinsatz

Die Verteilung der richterlichen Arbeitskraft auf erste und zweite Instanz ist derzeit nicht optimal. In Zivilsachen (ohne Familien- und FG-Sachen) hatten im Jahr 1998 1 456 Richter in der Berufungsinstanz die Urteile von 4 774 Richtern der ersten Instanz zu überprüfen. Berücksichtigt man, dass mehr als 40 % der Urteile der mit 2 493 Richtern besetzten Amtsgerichte mangels Erreichens der Berufungssumme von 1 500 DM von vornherein nicht anfechtbar sind, so ergibt sich ein Verhältnis von rund 1 480 erstinstanzlichen Richtern am Amtsgericht zu 522 Berufungsrichtern am Landgericht oder von 2,8 zu 1. Das Verhältnis zwischen Landgerichten (1.Instanz) und Oberlandesgerichten ist noch ungünstiger, nämlich 2,4 zu 1. Die erstinstanzlichen Entscheidungen von 2 282 Richtern an den Landgerichten werden an den Oberlandesgerichten von 934 Richtern überprüft. Dieser starke personelle Ausbau der Kontrollinstanz erscheint – gerade im Hinblick auf die relativ geringe Quote der Einlegung und des Erfolgs von Berufungen – nicht geboten.

Um eine optimale Nutzung und gesellschaftliche Wirkung richterlicher Arbeitskraft zu erreichen, erscheint es vielmehr sinnvoll, die erste Instanz personell zu stärken. Dort machen die Bürgerinnen und Bürger ihre Erfahrungen mit der Justiz. Deshalb sollen dort sozial kompetente Richterinnen und Richter arbeiten, die ausreichend Zeit haben, um den einzelnen Fall gründlich zu bearbeiten, Vergleichsvorschläge zu machen und verständliche Urteile zu fällen. Wer aber – wie der Amtsrichter – mehr als 600 Fälle pro Jahr zu erledigen und 180 streitige Urteile im Jahr zu schreiben hat, kann nicht jedem Einzelfall die wünschenswerte Zeit und Sorgfalt widmen. Der zu hohe Erledigungsdruck in erster Instanz hat dazu geführt, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer in erstinstanzlichen Zivilsachen seit 1991 angestiegen ist. Diese Entwicklung muss im Interesse der Rechtsuchenden gestoppt werden.

Darüber hinaus werden die absehbar zunehmende „Verrechtlichung“ des Alltagslebens, der rasante Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologien und nicht zuletzt die Vereinheitlichung des europäischen Rechtsraums neue Aufgaben gerade für die erstinstanzlichen Gerichte mit sich bringen. Um sicherzustellen, dass die Ziviljustiz diesen Herausforderungen gewachsen ist, bedarf es einer umfassenden Modernisierung durch eine grundlegende Strukturreform.

III. Folgerungen: Struktureller Lösungsansatz

Der Entwurf wird durch eine strukturelle Neugestaltung wesentlicher Bereiche des Zivilverfahrensrechts – vor allem des Rechtsmittelrechts – die vorhandenen – im Verhältnis zu den zu bewältigenden Aufgaben – knappen Ressourcen der Justiz besser nutzbar machen. Wesentliche Reforminhalte sind:

Zugrunde liegt dem Entwurfskonzept die Erkenntnis, dass die bisherigen Ansätze einer Reform des Zivilprozessrechts durch Entlastungs-, Beschleunigungs- und Vereinfachungsnovellen zu einer zunehmenden Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines sozialen Rechtsstaats geführt haben und dauerhafte Lösungen ausgeblieben sind. Eine Fortsetzung der in den letzten Jahrzehnten erlassenen Gesetze zur Entlastung der Zivilgerichtsbarkeit durch eine ständige Erhöhung der Wertgrenzen kommt daher nicht in Betracht.

Der Entwurf zielt vielmehr auf eine umfassende Modernisierung der Zivilgerichtsbarkeit durch eine grundlegende Strukturreform ab. Dieses Ziel können Bund und Länder nur gemeinsam erreichen. Das Konzept eröffnet den Ländern die Möglichkeit, die Wirkung der vorhandenen richterlichen Arbeitskraft zu optimieren. Freiwerdende Binnenressourcen in der Berufungsinstanz stehen in ausreichendem Umfang für die dringend notwendige personelle Stärkung der ersten Instanz zur Verfügung. Sie dürfen jedoch nicht für einen Stellenabbau zweckentfremdet werden. Dies ist die Geschäftsgrundlage der Reform. Das Reformkonzept orientiert sich an folgenden Leitlinien:

1. Stärkung der ersten Instanz

Unabdingbare Voraussetzung zur Erreichung des Ziels einer streitbeendenden Funktion der ersten Instanz und damit einer Verfahrensbeschleunigung ist insbesondere die inhaltliche, aber auch personelle Stärkung der Eingangsinstanz. Alle Möglichkeiten einer einvernehmlichen Konfliktregelung zwischen den Parteien müssen genutzt werden, damit in einem möglichst frühen Prozessstadium Rechtsfrieden eintritt.

Der Entwurf erweitert deshalb die materielle Prozessleitungs- und Hinweispflicht des Gerichts (§ 139 ZPO). Der Richter soll die Sach- und Rechtslage mit den Parteien deutlich erörtern und darlegen, wenn seine Beurteilung von dem Vortrag beider Parteien abweicht. Die richterliche Entscheidungsfindung soll für die Parteien nachvollziehbarer werden, damit der Prozessstoff schneller auf die entscheidungserheblichen Fragen beschränkt werden kann. Wenn die Parteien auf diese Weise in das Verfahren einbezogen werden, werden sie eher geneigt sein, ein streitiges Urteil, auch wenn es gegen sie ausfällt, zu akzeptieren. Ferner enthält der Entwurf Regelungen zur Erweiterung prozessualer Aufklärungs- und Vorlagepflichten in den Bereichen des Urkunden- und Augenscheinsbeweises. Die Möglichkeiten zur gütlichen Einigung und zur außergerichtlichen Streitschlichtung werden durch Einführung einer dem arbeitsgerichtlichen Verfahren angenäherten Güteverhandlung und Erleichterungen beim Abschluss eines gerichtlichen Vergleichs außerhalb einer mündlichen Verhandlung erweitert. Ergänzt werden die Regelungen durch Erleichterungen bei der Abfassung von Urteilen und durch die Übernahme von Vorschlägen aus dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens und des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Drucksache 14/163).

2. Abbau der Wertgrenzen für den Zugang zum Rechtsmittel

Nach dem Entwurf werden die Zugangschancen zum Rechtsmittel grundsätzlich bei allen Urteilen gleichermaßen gewährleistet. Der generelle Ausschluss des Rechtsmittels der Berufung bei Beschwerdewerten unter 1 500 DM wird deshalb ebenso aufgegeben wie die Streitwertrevision. Außerdem entfällt der grundsätzlich zweigliedrige Instanzenaufbau für amtsgerichtliche Verfahren; auch Urteile des Amtsgerichts können künftig in die Revisionsinstanz zum Bundesgerichtshof gelangen, wenn eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

Der Entwurf senkt die Berufungssumme auf 1 200 DM ab und führt bei den darunter liegenden Beschwerdewerten eine Zulassungsberufung bei grundsätzlicher Bedeutung der Sache sowie ein Abhilfeverfahren bei Verfahrensgrundrechtsverletzungen ein. Letzteres wird zu einer Entlastung des Bundesverfassungsgerichts führen, da wegen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde das Abhilfeverfahren vorrangig ist.

Der Entwurf führt die allgemeine Zulassungsrevision ein, mit der gewährleistet wird, dass unabhängig vom Beschwerdewert des Berufungsurteils die Zugangschance zum Revisionsgericht gegeben ist. Hat das Berufungsgericht die Revision nicht zugelassen, kann diese Entscheidung mit einer beim Revisionsgericht einzulegenden Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden. Damit werden die prozessualen Voraussetzungen für eine schnellere Entscheidung grundsätzlicher Rechtsfragen durch den Bundesgerichtshof geschaffen.

3. Funktionsdifferenzierung der Rechtsmittelinstanzen

Einer der zentralen Punkte des Entwurfs ist die Umgestaltung der Berufungsinstanz zu einem Instrument der Fehlerkontrolle und -beseitigung. Dies bedeutet: Das Berufungsgericht wird (nur) von solchen Tatsachenfeststellungen entlastet, die bereits die erste Instanz richtig und vollständig getroffen hat. Es soll außerdem die Sache – gegebenenfalls nach Beweisaufnahme, soweit diese erforderlich ist – möglichst abschließend entscheiden; die Zurückverweisung an die erste Instanz soll im Interesse der Verfahrensbeschleunigung die Ausnahme bilden.

Eine klare Funktionszuweisung zwischen den Instanzen erreicht der Entwurf zudem dadurch, dass beim Bundesgerichtshof – im Unterschied zum Berufungsgericht – die Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen, die Aufgaben der Rechtsfortbildung und der Wahrung der Rechtseinheit im Vordergrund stehen.

Weitere Maßnahme der klaren Funktionszuweisung ist die Konzentration der Berufungen bei den Oberlandesgerichten. Der Rechtsmittelzug wird damit für den Rechtsuchenden transparenter und fördert die Einheitlichkeit der Rechtsprechung.

4. Vereinfachte Erledigungsmöglichkeit für substanzlose Rechtsmittel

Der Entwurf sieht im Berufungsrecht die Einführung eines Zurückweisungsbeschlusses vor, durch den Berufungen ohne Erfolgsaussicht und ohne grundsätzliche Bedeutung im Beschlusswege durch einstimmige Entscheidung des Berufungsgerichts ohne mündliche Verhandlung abschließend erledigt werden können. Derzeit sind weit über 50 % aller Berufungen erfolglos. In diesen Fällen ergibt sich infolge der Zurückweisung durch Beschluss ein erheblicher verfahrensbeschleunigender Effekt mit schnellerer Rechtskraft und Vollstreckbarkeit, ohne dass damit eine Verkürzung von Rechtsschutzmöglichkeiten zu besorgen ist. Auf Verfahrensverzögerung angelegten Rechtsmitteln wird so wirksam begegnet.

5. Einzelrichter

Eine Funktionsdifferenzierung ist auch im Verhältnis zwischen dem Kollegialspruchkörper und seinen einzelnen Mitgliedern geboten. In tatsächlich und rechtlich nicht besonders schwierigen Sachen ist der Einsatz eines Mitglieds des Kollegialspruchkörpers als Einzelrichter – wie es der Praxis vieler, indessen nicht aller Gerichte bereits derzeit entspricht – gleichermaßen geeignet, einen Rechtsstreit in mindestens gleicher Qualität zu erledigen wie der Kollegialspruchkörper. Rechtstatsächliche Untersuchungen zum Einzelrichtereinsatz in erster Instanz zeigen, dass Akzeptanzprobleme nicht festzustellen sind, die Vergleichsquote vielmehr höher und die Berufungsquote niedriger als beim Kollegialspruchkörper ist. Das Festhalten am Kollegialsystem im Übrigen gewährleistet, dass in schwierigen Fällen das bewährte Mehraugenprinzip erhalten bleibt und das Kollegium seiner Ausbildungsfunktion bei jungen Richterinnen und Richtern nachkommen kann.

IV. Grundzüge der Reform

1. Neuregelungen im Verfahren erster Instanz
a) Güteverhandlung
b) Stärkung der materiellen Prozessleitungsbefugnis
c) Einzelrichter
d) Erweiterung des Rechtsschutzes durch Einführung eines Abhilfeverfahrens bei Verfahrensgrundrechtsverletzungen
2. Neukonzeption des Berufungsrechts
a) Funktionsdifferenzierung der Rechtsmittel: Neudefinition der Berufungsfunktion
b) Der Zurückweisungsbeschluss in der Berufungsinstanz – effizient und bürgerfreundlich
c) Einheitlicher Berufungsrechtszug und Stärkung der Rechtseinheit
d) Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten für den Bürger im Berufungsverfahren
e) Ressourcenbewusster Personaleinsatz im Berufungsverfahren
3. Neukonzeption des Revisionsrechts
a) Einführung einer allgemeinen Zulassungsrevision
b) Zulassungsentscheidung durch das Berufungsgericht
c) Nichtzulassungsbeschwerde
4. Neukonzeption des Beschwerderechts

Im Hinblick auf die konzeptionellen Änderungen des Rechtsmittelrechts in der Hauptsache soll auch das Beschwerderecht als Rechtsmittel gegen Nebenentscheidungen angepasst, vereinfacht und zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung gestrafft werden. Gleichzeitig ist beabsichtigt, den Rechtsschutz durch Eröffnung des Zugangs zum Bundesgerichtshof zu erweitern. Die Neuregelung des Beschwerderechts gilt nur für die Beschwerden, die dem Recht der Zivilprozessordnung unterliegen.

a) Angleichung des Beschwerderechtszuges an den Hauptsacherechtszug
b) Generelle Befristung der Beschwerde
c) Begründungserfordernis
d) Abhilfemöglichkeit des Ausgangsgerichts
e) Präklusion
f) Ressourcenbewusster Personaleinsatz im Beschwerdeverfahren
g) Einführung einer Rechtsbeschwerde
5. Familiensachen und Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit
6. Rechtsbereinigung und sonstige Änderungen

V. Angleichung an den Rechtsstandard der europäischen Nachbarländer

Die Neukonzeption des Zivilprozesses führt auch zu einer Angleichung an die Prozessrechtssysteme der europäischen Nachbarländer.

In England einschließlich Wales, in Frankreich, Österreich, Italien und der Schweiz (Kanton Zürich) wird die überwiegende Zahl der Zivilstreitigkeiten durch Einzelrichter, insbesondere auch durch Einzelrichter bei den erstinstanzlichen Kollegialgerichten, erledigt. In England, Frankreich und Italien ist der Einzelrichtereinsatz auch in den Rechtsmittelinstanzen vorgesehen.

Ein einheitliches Berufungsgericht findet sich in England, Frankreich und im Schweizer Kanton Zürich. Das Prinzip der zweiten Tatsacheninstanz gilt vorwiegend im deutschen und französischen Recht. In England, Österreich, Italien und im Schweizer Kanton Zürich steht entweder von vornherein oder infolge von Reformen der jüngsten Vergangenheit die Kontrollfunktion der Berufung im Vordergrund. Diese Wirkung wird durch hohe Zugangshürden und Novenbeschränkungen bis hin zum Novenverbot erreicht.

Das englische Zivilprozessrecht wird vom Prinzip der „finality of a judicial decision“ beherrscht. Das bedeutet, dass die erstinstanzliche gerichtliche Entscheidung in der Regel endgültig sein soll. In der Praxis wird dieses Ziel dadurch erreicht, dass die Berufung erstens grundsätzlich der Zulassung bedarf, über die das Erst- oder Rechtsmittelgericht nach freiem Ermessen und ohne Begründung unanfechtbar entscheidet, und zweitens eine reine Rechtskontrolle mit Bindung an die Tatsachenfeststellung des erstinstanzlichen Gerichts darstellt.

Der italienische Reformgesetzgeber führte im Jahr 1990 die beschränkte Berufung ein, um dieses Rechtsmittel auf die Behebung von Fehlern der Vorinstanz zu konzentrieren. Im Schweizer Kanton Zürich hat die Reform im Jahr 1995 die Möglichkeit der Parteien, im Berufungsverfahren neue Tatsachen oder Beweismittel vorzutragen, sehr stark eingeschränkt. Das österreichische Berufungsverfahren wird vom Neuerungsverbot (Novenverbot) beherrscht, d. h. das Berufungsgericht ist an die Sachverhaltsfeststellung der ersten Instanz gebunden und neuer Tatsachenvortrag oder neue Beweismittel sind nur unter engen Ausnahmen zulässig. Auf diese Weise findet nur eine Kontrolle der Erstentscheidung und keine Neuverhandlung statt.

Das Reformvorhaben reiht sich in diese Reformbewegung, die die Abkehr von einer vollumfänglichen zweiten Tatsacheninstanz zum Inhalt hat, ein. Im Gegensatz zum geltenden deutschen Zivilprozessrecht eröffnen alle erwähnten europäischen Nachbarländer dem Rechtsuchenden grundsätzlich denWeg zum obersten Gericht. Einen Rechtsmittelausschluss aufgrund des Unterschreitens einer bestimmten Wertgrenze, wie ihn die deutsche Rechtsordnung bisher kennt, sieht keines der vorgenannten Nachbarländer vor. Durch die Neukonzeption des Berufungsrechts und die uneingeschränkte Grundsatzrevision, die die Reform verwirklicht, wird die erforderliche Anpassung an den europäischen Rechtsstandard geleistet.

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